Forschungen einer Mücke

In „Mal Aria“ von Carmen Stephan bringt ein kleiner Stich ein Leben durcheinander

Von Stefanie RoennekeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Roenneke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An Malaria sterben laut der Weltgesundheitsorganisation WHO jährlich circa eine Millionen Menschen. Im Jahr 2009 sollen sich 243 Millionen mit dem Malariaerreger infiziert haben. Dennoch führen diese Zahlen in Deutschland zu keiner Hysterie. Denn Malaria wird erst dann zur Bedrohung, wenn der deutsche Bürger reist. Erst dann wird am Abend vor der Abreise aus dem hohen Summen der nächtlich gastierenden Mücke der Prolog zu einem Requiem. Erst dann wird am Frühstückstisch das nervige Kratzen an der Einstichstelle zur ersten Szene eines letzten Aktes dramatisiert. Und vor Ort bleibt – trotz Moskitonetz und Insektenschutz – die Angst, gehüllt in eine schwüle, feuchte, spannungsgeladene Luft. Erleichterung bei der Rückkunft. Es war doch nichts.

Die Protagonistin aus Carmen Stephans Roman „Mal Aria“ erwischt es. Sie – jene Carmen im Roman – wird gestochen. Doch nicht von irgendeiner beliebigen Mücke, oder einem anderen stechenden Kleintier, sondern von jener weiblichen Anophelesmücke. Folgenreich – auf einzigartige Weise! Denn der Stich verbindet Mensch und Tier nicht nur an der Einstichstelle, sondern er verschränkt beide Existenzformen unwiderruflich miteinander. Diese Beziehung besteht zudem nicht nur, weil die Anophelesmücke den gefährlichen Parasit auf den Menschen übertragen kann, sondern auch, weil der Erreger Mücke und Mensch braucht. Dabei ist der Mensch, so ungern er sich in dieser Position sieht, nur Zwischenwirt. Von dieser einmaligen Beziehung lebt der Roman „Mal Aria“.

„Mal Aria“ handelt auf einer Ebene von Carmens Leidensweg und medizinsicher Betriebsblindheit. Denn kein Arzt schöpft Verdacht. Die Diagnose lautet immer wieder „Dengue-Fieber“, obwohl die Symptome der Malaria für die Erzählerin eindeutig sind: „Ihr Körper ist doch überschaubar. Er ist durchsichtig. Es ist doch nicht so viel verlangt. Augen, in die man leuchten kann. Haut, die gelb wird. Organe, die man von außen greifen könnte, so groß waren sie. Was braucht ihr denn noch“. Carmen leidet. Bangt im fernen Brasilien um ihr Leben.

Doch wer ist jene Erzählerin, die die Diagnose zu kennen scheint. Wer ist es, die Carmen begleitet, ihren Zustand kommentiert und den Leser gleichzeitig über die Geschichte der Malaria aufklärt? Es ist die Mücke, die spricht. Sie kann sich Carmen nach dem Stich nicht entziehen. Ein erzählerische Coup – nicht neu, aber wirkungsstark – der eine besondere Perspektive auf Mensch und Tier provoziert, und die Nahaufnahme ebenso ermöglicht wie den weiten Blick. Die Mücke ist Carmens Schicksal. Und umgekehrt.

„Ihr glaubt eure Haut grenze euch ab, sie sei der Schutzgraben um euer Fleisch“, heißt es zu Beginn der Buches. „Mal Aria“ beweist mit viel Poesie das Gegenteil. Der Mensch ist Teil eines Kreislaufes. Es ist ein Buch, das man nicht weglegt und dessen Thema spätestens im Sommer wieder in Erinnerung gerufen wird, wenn die Sinne noch von einer Julinacht umschlungen sind, doch der Blick auf den Arm fällt und man plötzlich innehält, sich leicht bückt und genau hinsieht. Für ihren Roman wurde Carmen Stephan mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet.

Titelbild

Carmen Stephan: Mal Aria. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2012.
207 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783100751416

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