Begegnungs- und Wahrnehmungsgeschichten

Atina Grossmann schreibt über Juden, Deutsche und Alliierte im besetzten Deutschland

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2002 wurde in Berlin eine Auszeichnung in der Kategorie „Freundlichstes Hotel“ ausgelobt und im Roten Rathaus vom Regierenden Bürgermeister Wowereit überreicht. Geehrt wurde das „Astoria“ in der Fasanenstraße. Im Zweiten Weltkrieg, war in Touristeninformationen zu lesen, sei es teilzerstört, 1948 bis 1950 von britischem Militär beschlagnahmt, dann aber wiedereröffnet worden: „In einem Haus, das 1887 nach alter Handwerksart errichtet wurde, konnten Charme und Solidität des vergangenen Jahrhunderts bewahrt werden.“

Das war der einzige Hinweis auf die Zeit vor 1938, als es ‚arisiert‘ worden war. Der Besitzer damals war der Großvater der Autorin Atina Grossmann. Deren Vater bemühte sich nach dem Krieg um Rückerstattung. Darüber kam es zu erbitterten Auseinandersetzungen, die in vergleichbaren Fällen auch sonst in Berlin und in der Bundesrepublik zu beobachten waren. Die Nutznießer der Arisierung fühlten sich – frei von moralischen Skrupeln – völlig unschuldig. Der Vertrag aus dem Jahr 1938, behaupteten sie, habe keinen politischen Hintergrund gehabt und sei ohne „irgendwelche Zwangs- oder Druckmittel“ abgeschlossen worden. Die Anwälte sprachen von Fehlspekulation und – auf der Klaviatur antisemitischer Stereotypen spielend – von einer rein kapitalistischen Nutzung des Objekts. Für den Schaden, den der Verkäufer als Jude „vielleicht“ unter den Nazis erlitten habe, könne der Käufer keinesfalls in Haftung treten. Im Verfahren vor der Wiedergutmachungskammer wies Grossmann darauf hin, dass die beklagte Partei sich bei besagtem Handel ihrer „besonders guten Beziehungen“ zur NSDAP und zu einschlägigen Amtsstellen gerühmt habe: Man verfüge über „Mittel und Wege“, das Haus „in jedem Fall zu bekommen“. Im September 1953 wurde der Rechtsstreit entschieden. An die Erben der 1938 Ausgeplünderten flossen 20.000 Mark: für ein Grundstück und Gebäude im Berliner Westen, aus heutiger Sicht zumal, eine kümmerliche Summe, die – gewollt oder ungewollt – das 1938 getätigte Schnäppchen bestätigte und perpetuierte.

Diese Episode ist eine von zahlreichen anderen, die unter die Haut gehen, den Leser berühren, erschrecken, verstören. Keine Frage, dass Atina Grossmann die Kunst der Analyse und Interpretation beherrscht, aber die Faszination der Lektüre speist sich aus Anlage und Durchführung der Erzählung. Dabei fügt sich ein Mosaikstein in das nächste, das Bild, das so entsteht, ist vielschichtig, aus unterschiedlichsten Elementen zusammengesetzt. Die einzelnen Erzählstränge überlappen und verknäueln sich zu einem dichten Geflecht, dessen Botschaften sich kaum auf einen einzigen Nenner bringen lassen. Alles hat mit allem, jeder mit jedem zu tun, gleichviel ob real oder retrospektiv gedacht, ob den Beteiligten bewußt oder nicht. Wer einfach sortierte Schubläden erwartet, wird enttäuscht. Denn die dargebotene Historie offenbart sich in „verwickelten Geschichten und heiklen Begegnungen“.

Und als ob dies nicht schon genug wäre, enthält sie darüber hinaus eine persönliche Dimension. Die Autorin nämlich schreibt nicht nur aus der professionellen Distanz der Historikerin, sondern auch aus der Nähe der betroffenen Nachgeborenen, „als Kind deutscher Juden in New York geboren“, dessen Großvater im Untergrund überlebt hatte und nach Kriegsende von einem amerikanischen GI, seinem in Berlin zur Welt gekommenen und aufgewachsenen Neffen gefunden wurde. Insofern wundert nicht, dass Atina Grossmann sich zum einen auf eine Fülle von gedruckten und ungedruckten Zeugnissen stützt, zum andern – wenngleich in geringerem Umfang – auf Hinterlassenschaften der Familie, auf schriftlich und mündlich Überliefertes, das hier und da in die Studie einfließt.

Wir wissen, dass Selbst- und Fremdwahrnehmungen selten übereinstimmen. Grossmanns Studie liefert dafür fortlaufende und immer wieder erneuerte Bestätigung. In ihrem Blickfeld bewegen sich Deutsche, Alliierte, hier vor allem Amerikaner, und Juden. Schauplätze sind Berlin und Bayern. Die geschilderten Begegnungen sind geprägt von Asymmetrien, die wechselseitigen Wahrnehmungen bestimmt von gegenläufigen Interessen und kaum kompatiblen Filtern. Die besiegten Deutschen treffen auf uniformierte oder zivile Repräsentanten der Besatzungsmächte, Männer auf Frauen und Frauen auf Männer, Flüchtlinge und Vertriebene auf Einheimische. Opfer stoßen auf Täter, und Täter stilisieren sich zu Opfern, seltsam unberührt von den Maximen der Entnazifizierung und Umerziehung. Das Leid der einen steht gegen das der anderen, Schuld wird geleugnet, aufgerechnet, relativiert und verdrängt. Der Korrespondent der von der Sowjetischen Militäradministration lizensierten „Berliner Zeitung“ schreibt im Oktober 1945 über die Nürnberger Prozesse: Wenn man die Aussagen der Angeklagten höre, entstehe der Eindruck, als hätten die Häftlinge in Auschwitz sich selbst selektiert, seien aus freien Stücken „geordnet“ in die Gaskammern marschiert und hätten dort eigenhändig das Gas eingelassen, um dann „gehorsam“ zu ersticken.

Tatsächlich gibt es nicht nur deutsche Täter, sondern auch deutsche Opfer, und manchmal vereinen sich beide Rollen in ein und derselben Person. Für die Gräuel des vom Regime, den Organisationen und Helfershelfern betriebenen Vernichtungskrieges büßen Gerechte und Ungerechte, Frauen, gleich welchen Alters, werden umstandslos zur Beute der Sieger, werden, namentlich von Angehörigen der Roten Armee, massenhaft vergewaltigt. Präzise Zahlen existieren nicht, aber allein in Berlin sind es deutlich mehr als Hunderttausend. Für die Frauen, notiert Atina Grossmann, „wirkte sich die bedingungslose Kapitulation unmittelbar und öffentlich auf ihren Körper aus, sei es als Opfer von Massenvergewaltigungen (am augenfälligsten in der Sowjetzone und Berlin), als willige oder pragmatische Fraternisiererinnen (am augenfälligsten mit amerikanischen Soldaten) oder als Mütter, die sich abmühten, ihre Kinder zu ernähren und durchzubringen“.

Spuren der sexuellen Übergriffe wie der sexuellen Kollaboration finden sich in zahlreichen Zeugnissen, ein Amerikaner macht aus dem kollektiven Geschehen einen Roman: „The Big Rape“. Russen verlassen sich auf Gewalt, GIs auf „Nylonstrümpfe und Schokolade“. Berliner kleiden ihre Erfahrungen in einen Witz: „Der Unterschied ist, daß Amerikaner und Briten die Mädchen zum Essen einladen und dann mit ihnen ins Bett gehen, die Russen machen es umgekehrt“. Allein, was die Zeitgenossen noch intensiv bewegt hat, verliert sich in den Jahren des Wiederaufbaus. Das Thema wird beschwiegen, gleichsam beerdigt: aus politischer Opportunität wie in der DDR, aus Scham, dem Wunsch zu vergessen, dem Bedürfnis, Abstand zu gewinnen und nach vorn zu schauen.

Mindestens so eindringlich wie diese sind die Abschnitte, die den Blick auf die überlebenden Juden lenken. Das sind die aus ihren Verstecken Aufgetauchten, aus den Vernichtungs- und Konzentrationslagern Befreiten. Die Minderheit sind deutsche Juden, die Mehrheit kommt aus Osteuropa. Berlin, die amerikanische und britische Besatzungszone betrachten die meisten nur als Transit. Die Dauer des Aufenthalts ist begrenzt, man will den „blutgetränkten deutschen Boden“ möglichst rasch verlassen, nach Palästina oder in die USA ausreisen, was freilich an der Gewährung entsprechender Visa hängt. Die jüdischen Displaced Persons, zeitweilig eine Viertelmillion, leben in Lagern, werden versorgt und unterstützt von alliierten Militärbehörden und jüdischen Hilfsorganisationen, kämpfen um Identität, sind Zionisten oder Objekt zionistischer Werbung, sich für den werdenden jüdischen Nationalstaat im noch britischen Mandatsgebiet Palästina zu entscheiden. Einige bleiben, begründen wieder jüdische Gemeinden.

Die Deutschen sind, wie Atina Grossmann zeigt, mit der Tatsache konfrontiert, dass die Opfer, von denen sie niemanden mehr erwartet hatten, nun doch wieder unter ihnen sind. Beide bewegen sich zwar in getrennten Sphären, aber im Alltag ergeben sich vielfältige Berührungsflächen, man sieht sich beim Einkaufen, auf den Ämtern, Frauen gehen Verhältnisse mit jüdischen Männern ein, jüdische Familien beschäftigen deutsche Dienstboten. Antisemitische Ressentiments, die sich mit der Kapitulation keineswegs in Nichts aufgelöst haben, sind nach wie vor virulent, erhalten je länger desto intensiver neue Nahrung. Verbitterung wächst auf beiden Seiten, die Deutschen sehen in den Juden privilegierte Nutznießer, die ihren Status als Opfer ausnutzen, die Juden wiederum empören sich über die Deutschen, die keinerlei Zeichen von Schuld und Reue erkennen lassen. In einem Bericht an den World Jewish Congress heißt es im April 1950: „Das, wovon sie behaupten, es gestern nicht gewußt zu haben, wollen sie heute wieder vergessen!“

Atina Grossmann führt sozial- und politik-, mentalitäts- und kulturhistorische Perspektiven zusammen, durchwandert mit einer Intensität sondergleichen die verschiedenen Räume einer zermürbten Nachkriegsgesellschaft, vergegenwärtigt die materiellen und geistigen Trümmer, auch die Wege, sie beiseite zu schaffen. 1957 wird das letzte DP-Lager im bayerischen Föhrenwald aufgelöst: „Die Ära der jüdischen DPs, die einen so wesentlichen Teil, wenn auch in den meisten historischen Darstellungen seltsam unsichtbaren Teil der deutschen Geschichte ausgemacht hatten, war vorüber“, resümiert Atina Grossmann. Ihn wieder ins Licht gehoben zu haben und der Erinnerung zugänglich gemacht zu haben, gehört zu den großen Verdiensten ihres Buches.

Titelbild

Atina Grossmann: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland.
Übersetzt aus dem Englischen von Axel Meier.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
472 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835309340

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