Von der Genesis zu Big Bang

Eine Würzburger Ringvorlesung befasst sich mit alten und neuen Schöpfungsmythen

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ringvorlesungen behandeln eine Vielzahl verschiedener Aspekte eines Themas und können so dessen Komplexität in überzeugender Weise darstellen. Mit ihren verschiedenen Ansätzen und Auffächerungen eines Themas überwinden sie das engere Fachrichtungsdenken und zeigen das Verbindende in der Vielfältigkeit. – Das Buch „Die Erschaffung der Welt“, herausgegeben von Dorothea Klein, ist dafür ein gutes Beispiel. Es enthält die Vorträge einer Ringvorlesung, die im Sommersemester 2012 an der Universität Würzburg stattfand. Thema der Vortragsreihe waren die alten Schöpfungsmythen der Genesis, die mesopotamischen Schöpfungserzählungen und die griechischen Mythen Homers und Hesiods und ihre Umgestaltungen und kreativen Fortführungen in der Literatur, der Kunst, der Musik bis hin zur Astrophysik im 21. Jahrhundert. Damit umspannen die Vorlesungen einen Zeitraum von etwa 4.000 Jahren.

In der Vorlesungsreihe wird Schöpfung als vielschichtiger Begriff verstanden, dessen Wurzeln in der Antike liegen und dessen Auswirkungen unser Denken und unser Leben noch immer beeinflussen. Schöpfung ist ein zentraler Begriff in den Mythen des Altertums und spielt eine entscheidende Rolle in den Offenbarungsreligionen. Dabei haben sich im Laufe der Jahrhunderte der Begriff und das Verständnis der Schöpfung und des Schöpfers verändert. Die vielfältige Spiegelung des Mythos Schöpfung in der Kunst und der Literatur über die Jahrhunderte hinweg kann als säkularisierte Form der alten Mythen der Welt- und Menschheitsentstehung verstanden werden. Die Spannung zwischen dem religiösen Grundgehalt und einer über Religion hinausführenden Erweiterung dessen, was Schöpfung meint, ist in den Beiträgen des Bandes immer präsent und macht die Vorlesungsreihe anregend und informativ.

Wie weit dehnbar der Begriff Schöpfung ist, wird an einem Aspekt des ersten und des letzten Aufsatzes der Sammlung deutlich. So befasst sich Theodor Seidl im einleitenden Aufsatz mit den Schöpfungserzählungen in den ersten beiden Kapiteln der biblischen Genesis. Er zeigt ihre anthropologischen und kosmologischen Merkmale und Implikationen und analysiert und interpretiert deren religiöse Bedeutung. Er stellt dar, worin sich die beiden Texte über die Erschaffung der Welt und des Menschen gleichen: Beide machen Aussagen über den Umgang des Menschen mit der Welt und der Natur und seine Aufgabenbereiche und Pflichten in Natur und Gesellschaft. Er weist aber auch auf die Unterschiede hin, die vor allem in den verschiedenen anthropologischen und kosmologischen Ansätzen liegen.

Der Autor geht in seiner Analyse ausführlich auf den Satz „Es werde Licht“ ein, den ersten „hoheitlichen“ Sprechakt des Schöpfergottes, mit dem er die wüste Leere und die Finsternis des Anfangszustands des Kosmos aufhebt und das Chaos Schritt für Schritt überführt in einen Seinszustand, zu dem materielle Dinge und Lebewesen gehören und schließlich – am Ende, als Krönung der Schöpfung sozusagen – Menschen.

Mehr als zweihundert Seiten oder neun Beiträge später wird der Satz „Es werde Licht“ noch einmal aufgegriffen. Friederike Felicitas Günther setzt sich in ihrem Vortrag über einen Text von Botho Strauß mit dessen Uminterpretation des Satzes des alttestamentlichen Schöpfergottes auseinander. Strauß stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die Tatsache der „Beginnlosigkeit“ des Kosmos auf die Wahrnehmung der Welt durch die Menschen habe. Er bezieht sich mit seiner Annahme einer „anfanglosen Welt“ auf das „Steady State“-Modell, das in der Astrophysik als Gegenwurf zur „Big Bang“-Theorie in der Mitte des 20. Jahrhunderts große Beachtung fand. Für Botho Strauß scheint weniger die Frage nach der aktuellen Relevanz der „Steady State“-Theorie innerhalb der astrophysikalischen Modelle entscheidend zu sein – das „Steady State-Modell“ ist mittlerweile „veraltet“ –, sondern das Denkmodell „Anfangslosigkeit“ des Kosmos an sich. Der Autor legt denn auch von dieser Theorie ausgehend schlüssig dar, dass Schöpfung, wie wir sie uns vorstellen, „reine Schöpfung unserer Wahrnehmung“ ist. Folgerichtig wandelt er den Satz am Beginn der Genesis ab und formuliert ihn neu: „Gott sagte […]: es werde Sicht und schuf das Auge.“ Friederike Günther bringt Strauß’ Schöpfungs-Interpretation auf den Punkt: „Nicht die Welt wurde geschaffen, sondern vielmehr das Auge, das die Welt konstruiert: Es werde Sicht statt dem ‚Es werde Licht‘ des biblischen Schöpfungstextes.“

Krasser könnten die Gegensätze in der Auffassung von Schöpfung nicht formuliert werden. Die Formen, die wir wahrnehmen, damit wir uns die Welt aneignen und uns in ihr orientieren können, sind für Strauß Schöpfungen, die nicht von einem Schöpfergott ausgehen, sondern die ihren Ursprung in uns selbst haben. Wir schaffen die Welt, indem wir sie sehen.

Es ist das Verdienst des Buches „Die Erschaffung der Welt“, den Begriff der Schöpfung aus seinem herkömmlichen, vornehmlich religiösen Kontext zu lösen und in Zusammenhänge zu stellen, die ihm neue Facetten geben, Bedeutungsverschiebungen zulassen und andere Akzentsetzungen ermöglichen. Diese sagen etwas aus über die Bandbreite des Begriffs und über seine Tiefenstrukturen, aber auch etwas über die Menschen, die ihn benutzen, und deren sich ändernde Weltsichten und Lebensauffassungen über die Zeitläufte hinweg.

Alle Beiträge des Sammelbands belegen auf ihre Weise die große Bandbreite des Begriffs Schöpfung. So setzt sich – nur einige Beispiele sollen im Folgenden angeführt werden – Michael Erler mit Homers und Hesiods und vor allem Platons kosmogenetischen und theogenetischen Überlegungen auseinander. Er stellt dar, dass altgriechische Mythen keine irgendwie historischen Erklärungen für Phänomene der Welt und des Lebens sind, sondern zeitlose Angebote an die Menschen, sich an der Ordnung der mythischen Erzählungen auszurichten und diese Ordnungsprinzipien zu ihrer Lebensmaxime zu machen. Mythen sind für Erler Erzählungen, die den Menschen nicht so sehr Erklärungen für Unverstandenes bieten, sondern eher Orientierungspunkte dafür, wie sie ihre Gegenwart in Hinblick auf Grundfragen der Existenz bewältigen können.

Dorothea Klein, die Herausgeberin des Sammelbandes, befasst sich in ihrem Beitrag mit der Rolle des Dichters in althochdeutschen und mittelhochdeutschen Schöpfungstexten. Sie zeigt, wie sich bereits in dem um 800 entstandenen „Wessobrunner Schöpfungsgebet“ und in der „Weltchronik“ Rudolfs von Ems die „Erdichter“ der Texte selbst zu Schöpfern, zum homo secundus deus, machen. „Die Vorstellung“, resümiert sie, „dass der Mensch, namentlich der künstlerisch tätige, ein zweiter Gott sei, der in seinem schöpferischen Tun neben den ersten trete, ist nicht erst eine Erfindung der Neuzeit.“

In der Neuzeit allerdings, darauf gehen mehrere Beiträge ein, ist der Gedanke vom schöpferischen Menschen als einem „secundus deus“ sowohl in der Literatur wie in der Kunst und in der Musik fast schon selbstverständlich. Die Vorlesungen zu Jean Paul, Alfred Döblin oder zu Darius Milhauds Ballett-Musik „La création du monde“ (1923), einer der neben Joseph Haydns „Die Schöpfung“ (1793) wenigen Kompositionen übrigens, die das Thema Schöpfung verarbeiten, geben dazu Hinweise.

Einer der interessantesten Beiträge des Bandes, geschrieben von Damian Dombrowski, befasst sich mit den künstlerischen Konzeptionen der amerikanischen Maler Barnett Newman und Jackson Pollock. Sie sind die herausragenden Repräsentanten der Malrichtung des Abstrakten Expressionismus, der in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Amerika und auch darüber hinaus kunstbestimmend war. Beide Maler verstanden sich in keiner Weise als Nach-Schöpfer, sondern ganz explizit als originäre Schöpfer einer Welt aus Kunst. Barnett Newman formuliert diesen Anspruch deutlich in seinem berühmten Text „The Sublime is Now“ (1948): „Wir schaffen Bilder, deren Realität von sich aus evident ist“ und „Der Künstler vertieft sich, wie ein echter Schöpfer, in das Chaos. Genau das ist es, was ihn zum Künstler macht, denn der göttliche Schöpfer begann mit demselben Material, als er die Welt erschuf – so wie der Künstler die Wahrheit der Leere entreißt.“

Barnett Newman und Jack Pollock denken nicht mehr in den Kategorien eines Erstschöpfers, der ihnen überhaupt erst die Begabung gibt, Bilder auf die Leinwand zu bringen. Ihr Selbstbewusstsein ist grenzenlos: Sie sind selbst Schöpfer. Der Abstand zwischen ihnen und der Vorstellung des Schöpfergottes im Genesis-Bericht und den Homerischen und Hesiod’schen Mythen scheint unüberbrückbar groß. Newman und Pollock stehen an einem Ende der langen Geschichte des Begriffs Schöpfung, in deren Verlauf sich der Begriff religiös entleert und mit neuer Bedeutung gefüllt hat, die ganz den kreativen gottähnlichen Menschen in den Vordergrund stellt.

Im vorletzten Beitrag des Bandes allerdings geht Karl Mannheim über diese Schöpfersicht des absoluten Künstlers noch hinaus. Er erläutert „Ursprung und Entwicklung des Universums aus astrophysikalischer Sicht“. Die Urknall-Theorie und die kosmisch-physikalischen Folgen der Singularität des Big Bang entwerfen eine Welt aus astrophysikalischen „Fakten“ und Modellen, aus Beobachtungen, Gesetzmäßigkeiten und – auch das natürlich – noch nicht (ganz) bewiesenen Vermutungen und Denkspielen, die allesamt ohne den Begriff eines Schöpfergottes oder der Schöpfung auskommen.

Die Astrophysik heute geht von einem Beginn des Kosmos aus, ohne nach dessen „Verursacher“ zu fragen. Sie macht Aussagen über das Alter der Welt, des Sonnensystems, unserer Erde und über das sich zunehmend beschleunigend expandierende Universum. Sie trifft diese Feststellungen aufgrund von physikalischen Gesetzmäßigkeiten, Beobachtungen, Modellen und Theorien, die sie immer wieder überprüft, ohne den Begriff eines Schöpfergottes oder den der Schöpfung zu benutzen. Sie braucht diese Begriffe nicht, da sie die Welt physikalisch erklärt. Mythische Vorstellungen erscheinen innerhalb dieser astrophysikalischen Weltbilder als unangemessen.

Allerdings – und da schließt sich der Kreis der Auffassungen über Schöpfung wieder – betont Theodor Steidl in seiner Genesis-Analyse, dass es zwischen der Bibel-Erzählung von der Schöpfung und den naturwissenschaftlichen Weltentstehungstheorien der Neuzeit „weder Berührungs- noch Reibepunkte“ gebe. Biblische und mythische Schöpfungsberichte sind eine andere Art, von der Weltentstehung zu „erzählen“, als das die astrophysikalischen Darstellungen tun. Genesis, Mythen und astronomische Modelle scheinen, wenn man diese Auffassung akzeptiert, verschiedene sich einander nicht ausschließende Annäherungen an ein Problem zu sein, nicht aber dessen Lösungen.

Dorothea Kleins Buch – das ist das große Verdienst dieses Sammelbands über Schöpfungsmythen – zeigt, wie folgerichtig die Linien von den antiken Mythen zu den entmythologisierten Auffassungen dessen, was Schöpfung ist und bedeutet, verlaufen. Indirekt stellt das Buch allerdings auch die Frage, ob und inwieweit es überzeugend ist, dass sich der moderne Begriff der Schöpfung so sehr von allem Mythischen und Metaphysischen entfernt hat. Botho Strauß’ Satz „Es werde Sicht“ haftet eben auch etwas Künstliches und allzu Gewollt-Sprachspielerisches an.

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Dorothea Klein (Hg.): Die Erschaffung der Welt. Alte und neue Schöpfungsmythen.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
227 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783826050916

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