Eine echte Wagner

Eva Rieger präsentiert eine interessante, aber nicht durchgehend überzeugende Biografie der Wagner-Enkelin Friedelind

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Werk ist ebenso stattlich ausgefallen wie die Dame, der es gewidmet ist – auf über 450 Textseiten erzählt und dokumentiert Eva Rieger das Leben der Wagner-Enkelin Friedelind, genannt „Mausi“, anhand eines auf den ersten Blick beeindruckenden Materialfundus'. Illustriert wird Friedelinds Lebensgeschichte mit einem Fototeil, der bekannte und weniger bekannte Schwarz-Weiß-Abbildungen in chronologischer Folge präsentiert. Ein 50 Seiten starker Anhang bietet zwar ein Namensverzeichnis, eine tabellarische Übersicht über die wichtigsten Lebensdaten und -stationen der Porträtierten fehlt allerdings, was sich umso schmerzlicher bemerkbar macht, je intensiver man sich mit der Biografie beschäftigt.

Am Anfang steht die Frage der Rechtfertigung: Reicht das allgemeine öffentliche Interesse am Wagner-Clan, um 500 Seiten über Friedelind zu verfassen? ‚Jein‘, lautet die eindeutige Antwort der Rezensentin und meint ja, weil Friedelinds Leben abwechslungsreich genug ist, um darüber zu erzählen; Ja, weil Friedelind eine außergewöhnliche Persönlichkeit innerhalb des ohnehin schon außergewöhnlichen Wagner-Clans ist, und nein, weil 300 Seiten auch gereicht hätten (oder sogar besser geeignet gewesen wären), um Friedelinds Persönlichkeit und ihre Lebensgeschichte im Kontext von Zeit- und Familiengeschichte darzustellen. Die vorliegende Biografie ist also weder überflüssig noch uninteressant, aber doch immer wieder zu langatmig geraten oder zu ausschweifend geworden.

Die insgesamt 16 Kapitel des Textteils umfassen unterschiedlich lange Zeiträume und sind, vor allem in der ersten Hälfte, vielfach mit Zitaten überschrieben, die den geschilderten Lebensabschnitt skizzieren sollen. Dass dies nicht für jedes Kapitel stimmig ist, verweist auf eine der Schwächen von Riegers Biografie – den nicht immer sorgfältigen Umgang mit den auf den ersten Blick zahlreichen Quellen. Befasst man sich nämlich etwas intensiver mit den fast 30 Seiten umfassenden Anmerkungen, erkennt man deutliche Schönheitsfehler, etwa, wenn ein Zitat mehrmals verwendet, die (identische) Quelle aber unterschiedlich bezeichnet wird, sodass es sich vermeintlich um verschiedene Quellen handelt. Oder aber, wenn – nun ein anderes – Zitat mehrmals verwendet und mit unterschiedlichen Quellen belegt wird. Oder aber, und auch das kommt leider vor, wenn Quellen gar nicht genannt werden. Hier ist also – bei allem Respekt vor der zugrunde liegenden Fleißarbeit – eine gesunde Portion Misstrauen angebracht.

Analog dazu sucht man im Textteil des öfteren nach einer vertiefenden und/oder abrundenden Auseinandersetzung an jenen Stellen, an denen ein interessantes Thema angerissen wird. Ein Beispiel hierfür ist Friedelinds Autobiografie „Nacht über Bayreuth“, die zwar als willkommene Quelle den gesamten ersten Teil der Biografie in beinahe schon aufdringlicher Weise speist, die aber dennoch ohne Abriss zu ihrer Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte auskommen muss. Trägt sich der geneigte Leser diesen aus verstreuten Hinweisen selbst zusammen, bemerkt er nicht nur, dass ein solcher Abriss schlussendlich unvollständig bleibt, sondern stößt gar auf Ungenauigkeiten, etwa in Bezug auf die deutsche Erstausgabe, die Eva Rieger fälschlicherweise auf das Jahr 1948 (korrekt: 1946) datiert. Die geplante Fortsetzung, „Pardon my return“, die, so Friedelind Wagner in einem Interview von 1967, druckfertig in der Schublade liege, sei, so Eva Rieger, in Wahrheit nie geschrieben worden. Leider vergisst Frau Rieger auch hier, dem Leser mitzuteilen, woher sie diese Erkenntnis hat.

Unabhängig von der tatsächlichen Kapiteleinteilung lassen sich vier biografische Teile – oder vier grundlegende Lebensphasen – erkennen: Mausis Bayreuther Kinderzeit bis zum Tod des Vaters (1930), ihre Lehr- und Wanderjahre, die sie bis ins amerikanische Exil führen, ihre Bayreuther Meisterklassenzeit bis zum Tod von Bruder Wieland (1966), und schließlich die Zeit bis zum ihrem eigenen Tod 1991. An dieser Einteilung wird bereits deutlich: Mausi ist eine echte Wagner, nicht nur, weil sie aussieht wie Opa Richard, sondern auch, weil sich ihr ganzes Leben nur in einem direkten Bezug zu Bayreuth erzählen lässt. So hat sie es auch selbst gesehen, und den ersten Teil gleich selbst erzählt. Ihre bereits erwähnten Aufzeichnungen, „Nacht über Bayreuth“, entstehen 1943 im New Yorker Exil und und werden dort 1944 unter dem bezeichnenden Titel „Heritage of Fire“ veröffentlicht. Darin beschreibt die 22-jährige Mausi ihr Leben als verwöhntes Kind im ebenso toleranten wie privilegierten Bayreuther Elternhaus, als störende Elevin, die nach Vater Siegfrieds Tod (1930) von Mutter Winifred immer wieder durch Schul- und Internatsaufenthalte aus Bayreuth entfernt wird, und als rebellisch-aufmüpfiger Twen, der sich selbstbewusst gegen den inzwischen in Bayreuth herrschenden hitlerfreundlichen Ton auflehnt.

Diese Aufzeichnungen, die bis zu ihrer endgültigen Emigration reichen, sind offenbar recht ausführlich geraten, denn der Verlag stellt Friedelind eine Co-Autorin zur Seite, die das umfangreiche Manuskript, glaubt man Mausis Beschwerden, um rund die Hälfte kürzt. Diesem Buch verdankt der erste Teil von Riegers Biografie Vieles: seine erzählerische Dynamik, sein jugendlich-ungestümes Voranpreschen und den selbstbewusst-extrovertierten Ton. Er verdankt ihm aber auch einige teilweise ermüdende Aufzählungen kleiner und kleinster Details. Dies ist umso bedauerlicher, als es Rieger ja grundsätzlich darum geht, die rebellische Friedelind zu zeigen, die sich schon früh von den Nazis abgewandt hat. Wann genau und wodurch und inwiefern, bleibt auch nach der Lektüre im Dunkeln, denn der Verfasserin gelingt es mangels eindeutiger Quellen nicht, ihre zu Beginn formulierte These, Friedelind habe den Zeitpunkt ihrer Abkehr in ihrer Autobiografie zu früh angesetzt, überzeugend zu stützen. Die zuvor genannten, zahlreichen Details – ein Konzert hier, ein Opernbesuch da, ein Museum dort; ein Treffen hier, eine Bekanntschaft da, ein Essen dort; ein Briefchen hier, ein Telegramm da, ein Billet dort – verschleiern die eigentlich interessanten Fragen zusätzlich. Und diese lauten nicht, wann und wo Friedelind mit wem welchen Kontakt hatte, sondern vielmehr, in welchen Momenten und Phasen ihres Lebens sie welche grundlegenden Entwicklungen durchlaufen und Erfahrungen gemacht hat, die den Menschen und die Frau in jungen Jahren formen und in späteren Jahren ausmachen. Die genannten Details sind sicherlich in Maßen als Anschauungsmaterial willkommen, doch hier verselbstständigen sie sich allzu oft zu reinen Auflistungen. „Le détail pour le détail“, könnte man es in Abwandlung der L’art-pour-l’art-Formel etwas enttäuscht und ernüchtert formulieren.

Die Erzählungen zu Friedelinds Zeit in den USA zeigen dagegen, mit einem deutlich neutraleren, ruhigeren Erzählstil, die Stärken und Schwächen einer außergewöhnlichen jungen Frau mit vielfältigen Talenten und Begabungen, der aber eine wichtige Fähigkeit fehlt: eine konstruktive Selbstkritik, die sie befähigt, aus ihren Fehlern zu lernen und mit ihren Schwächen schadensbegrenzend umzugehen. Genau das kann Friedelind zeit ihres Lebens nicht, und wenn ihr Leben an etwas scheitert, dann daran. In den Erzählungen dieser Jahre nimmt man Friedelind am direktesten und auch am ungestörtesten wahr – hier ist es echte Biografie, die die porträtierte Persönlichkeit atmen lässt: Während sich Europa durch den Zweiten Weltkrieg kämpft, kann Friedelind im fernen New York ihren vielfältigen Neigungen nachgehen – es ist, so stellt es sich aus der Retrospektive dar, die Zeit, in der die Distanz zu Bayreuth wohltuend ist, in der der natürliche Höhenflug der Mittzwanzigerin weitab der Bayreuther Gefilde stattfinden darf. Ihr jugendlich-ungestümes Wesen erhält sich diese Distanz auch, als sie 1946 der Bayreuther Oberbürgermeister um Rückkehr bittet. Friedelind hat allerlei Gründe – triftige und fadenscheinige –, die Entscheidung herauszuschieben und ist offenbar davon überzeugt, dass Bayreuth auf sie warten würde.

Bayreuth wartet allerdings nicht, sondern produziert den Beidler-Streit, in dem sich die ferne Tochter zur Komplizin der Familie machen lässt. Der Familie übrigens, die gerade in jenen Jahren von Friedelind über eine Schweizer Kontaktadresse mit Care-Paketen versorgt wird, während sie das inzwischen auf Deutsch erschienene Buch der verlorenen Tochter bei jeder sich bietenden Gelegenheit verreißt.

1951 geschieht das Gralswunder: Mit „Parsifal“ werden in Bayreuth die ersten Nachkriegsfestspiele eröffnet, der Weg in eine neue Normalität scheint geebnet. Doch erst zwei Jahre später erscheint eine beeindruckend mondäne Friedelind zur Premiere und schafft es, trotz zahlreicher Widerstände, ihre heute noch berühmten Meisterklassen ins Leben zu rufen. Dadurch sind ihr einige Bayreuther Jahre der künstlerischen Befriedigung vergönnt, in denen sie sich allerdings gleichzeitig auch mit der permanenten Ablehnung durch die Familie auseinanderzusetzen hat. Inwieweit sie, die zeit ihres Lebens nicht mit Geld umgehen kann, von den permanenten finanziellen Engpässen belastet ist, bleibt offen. Als Bruder Wieland 1966 während der letzten Meisterklasse stirbt, bricht die Familienfehde um die Vorherrschaft in Bayreuth offen aus; Friedelind, längst auch juristisch ausgebootet, bleibt nichts anderes übrig, als sich sich andernorts ein Zuhause zu suchen. Sie findet dies zunächst für einige Jahre in England, später in der Schweiz, wo sie 1991 stirbt. Wenige Jahre später erscheint „Nacht über Bayreuth“ als Neuausgabe und lässt das Interesse an diesem Wagner-Spross wieder aufleben.

Die vorliegende Biografie bedient dieses Interesse in einigen Bereichen durchaus, denn einige Facetten Mausis sind sehr deutlich herausgearbeitet: Friedelind, die Kunstbegeisterte, Friedelind, die Winifred-Tochter und Friedelind, die Wieland- und Wolfgang-Schwester. Friedelind, die Frau, erscheint dagegen kaum, und das muss gerade bei einer Autorin wie Eva Rieger verwundern. Was allerdings noch mehr verwundert, sind die immer wieder eingestreuten Anspielungen zu Friedelinds Liebesleben – Rieger suggeriert ein gewisses Spektrum sexueller Neigungen –, die sie aber in keinem Moment zu seriösen Aussagen zu verdichten vermag. So skizziert sie beispielsweise eine intensive Beziehung unklarer Art zu der heute vergessenen Sängerin Jeanette Simon, die Mausi während ihrer Internierung 1940 kennen gelernt hatte, greift aber ebenso die Gerüchte auf um eine Affäre Friedelinds mit Gottfried von Einem (die Mausi selbst aber vehement abgestritten hat) und schiebt an anderer Stelle ein, dass es zwischen Friedelind und ihrem väterlichen Freund Toscanini einstmals ‚geknistert‘ habe, wie ein Brief zu belegen scheint. Das alles ist – mit Verlaub – unnötiges Material für Spekulationen, das die Frage aufwirft, ob denn die Unmengen recherchierten Materials keine klaren Antworten bereit hielten. Wenn doch, hätte man diese verwenden können oder auch nicht. Und wenn nicht, ist das weit weniger schlimm als gegen Ende des Buches mitleidig zu konstatieren, Friedelind habe „keinen Partner oder Partnerin fürs Leben“ gefunden, wenn gleichzeitig nicht einmal klar ist, ob ein(e) solche(r) überhaupt gewünscht oder gesucht wurde.

Solche und ähnliche unsachliche Einstreuungen müssen den ernsthaften und aufmerksamen Leser immer wieder stören – egal, ob es sich um vermeintlich vertane Lebenschancen, angeblich nicht erkannte Risiken oder aber um die mehrfach ins Spiel gebrachte, wenig fundierte These handelt, Friedelind sei gleichsam ein Opfer ihres Geschlechts geworden, denn wäre Mausi ein Junge gewesen, dann ….

Jenseits aller Mutmaßungen zeigt sich, dass schlussendlich drei Männer ihr Leben bestimmt haben: Vater Siegfried, der zu Lebzeiten einen selbstverständlichen Schutz vor Exilierung darstellt, Arturo Toscanini, der Friedelind nach Siegfrieds Tod immer wieder seine helfenden Hände (und Geldzuwendungen) geboten hat, und Bruder Wieland, der, ähnlich wie Vater Siegfried, zu Lebzeiten einen gewissen Schutz vor dem Bayreuther Familienclan bedeutet. Als auch er stirbt, muss Friedelind den letzten Rest Hoffnung auf ein Leben in oder durch Bayreuth aufgeben. Was Mausi bleibt, ist ein nicht unbeträchtliches Erbe, mit dem sie auch die letzten 20 Jahre ihres Lebens nach ihrem Geschmack einrichten kann.

Die Biografie bringt dem Leser Wagners rebellische Enkelin zweifellos ein ganzes Stück näher – zum Greifen nah ist sie aber noch lange nicht. Vielleicht will sie das auch gar nicht sein. Und dennoch: Dass man sich für sie interessiert, hätte Mausi bestimmt gefallen.

Titelbild

Eva Rieger: Friedelind Wagner. Die rebellische Enkelin Richard Wagners.
Piper Verlag, München 2012.
512 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783492054898

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