Zeugnis einer akademischen Freundschaft

Friedrich Kittler und Hans Ulrich Gumbrecht schreiben über die Seinsgeschichte im Mittelalter

Von Frank WeiherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Weiher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie wohl kein anderer Philologe hat der Germanist Friedrich Kittler Wissenschaftsgeschichte jenseits seiner eigenen Zunft geschrieben. Als Vorreiter der Medienwissenschaften ist er in diesen eine Kultfigur, während seine Bedeutung für die Germanistik zumindest als zweifelhaft eingestuft werden kann, ja im Wesentlichen gering ist. Bei aller Brillanz hat Kittlers berühmte Studie „Aufschreibesysteme“ innerhalb der Philologie dann schließlich doch keine Wende hervorgerufen, so dass man maximal von einem Trend sprechen kann oder konnte, der, wie das bei Moden so ist, schließlich vergeht oder bereits vergangen ist. Das generalisierende Forschen und Nachdenken – und an manchen Stellen auch nur Spekulieren – über Medien, kann dann eben doch oft nur wenig Dauerhaftes zur literaturwissenschaftlichen Erkenntnisbildung beisteuern.

Dass Kittlers Denken aber gerade jenseits der großen Systematisierungen etwas sowohl Luzides als auch Faszinierendes anhaftet, davon zeugt der jüngst von Hans Ulrich Gumbrecht herausgegebene und mit einem Essay versehene Text „Isolde als Sirene“, der sowohl den gleichnamigen Vortrag Friedrich Kittlers als auch dessen Übersetzung der „Folie Tristan“ – „Tristans Narrheit“ – beinhaltet.

Wer den Medientheoretiker Kittler darin sucht, wird weitestgehend enttäuscht sein; doch Kittlers Liebe zur Literatur, zur Musik und zum abendländischen Mythos überhaupt wird hier unverhohlen deutlich. Und seine mythologischen Kenntnisse und Gedanken zum Mythos ohnehin. Erstaunlich genug, dass Kittler sich daran machte, einen altfranzösischen Text – und dies wohl extra für diesen Vortrag – zu übersetzen. Die Übersetzung – und darauf weist auch Gumbrecht hin – orientiert sich hierbei weitestgehend an Walter Benjamins Auffassung des Übersetzens; sie demonstriert mehr, was das Original evoziert, als dass sie dem Wortlaut streng folgt.

Und hiermit ist man auch schon beim Kern, um den es in „Isolde als Sirene“ geht: Dichtung entbirgt, im Sinne Martin Heideggers, Sein. Und so zieht sich, für Gumbrecht ebenfalls und nicht nur für ihn, ein roter Faden durch das Werk Kittlers, den man sich dann doch noch nicht so eindeutig hatte klar gemacht: der Rekurs auf die Philosophie Martin Heideggers. Mit diesem teilt er die Faszination für die alten Griechen, anders als dieser aber sucht Kittler auch nach seinsgeschichtlichem Potential in den höfischen Texten des Mittelalters. Dies war, laut Gumbrecht, wohl auch der Plan des letzten, Fragment gebliebenen, Bandes von „Musik und Mathematik“.

Argumentation ist freilich Kittlers Sache nicht. Er folgt der Assoziation und brilliert hierin. Es ist ein Denken des Enthusiasmus, das Kittler auch in diesem Werk auszeichnet. Das klingt dann manchmal wie folgt: „Erst seitdem die Taten ihrer [der Götter] vielen Liebesnächte Schande heißen und [sich] vom wahren Wesen unterschieden, treten uneigentliche und eigentliche Rede notwendig auseinander.“ Oder auch: „Eben wenn und weil die Sage namens Mythos, mit der Europa anhebt, zur Fiktion herab gesetzt ist, bringt ihre höchste Überbietung, die Fiktionsfiktion, unversehens das Heil zurück.“

Das sind starke Plädoyers für den Möglichkeitssinn von Literatur und für die Liebe zur Dichtung. Manchmal aber regt sich bei Kittler ein zu starker Groll gegen die Zunftkollegen. „Was gemeinhin unter Literatur oder gar Literaturgeschichte läuft, um uns den Unterschied von wahr und mythisch einzureden, ist nur Verkennung eines Liebesschwurs, der seit jeher, aber immer neu getan wird.“ Es gibt eben auch Literaturwissenschaft, die diesen Liebesschwur glücklicherweise nicht verkennt.

Der wohl schönste Aspekt an Kittlers Essay ist dann schließlich die Herleitung des Wortes Minne vom altgriechischen mimn’ä(i)skoh, Gedenken. Dies zieht sich übrigens noch bis zum althochdeutschen minna, das auch das Gedenken meint. In Zeiten christlicher Ehe, die, so Kittler, „Gewalt und Zwang“ ist, erinnert die Minne, im Verweis auf die neun Musen der Griechen, an die „freie Gunst“, die Dichtung wie Liebe zueigen sein soll. „Minne ist also nicht dasselbe wie ta aphrodísia, die Göttin und der Akt der Liebe, sondern Wiederbringung, Umkehr, Rekursion des Griechenlandes.“ Und hiermit spannt der mittelalterliche „Tristan“ bereits den Bogen zu Friedrich Nietzsche und Richard Wagner.

Mit Friedrich Kittlers und Hans Ulrich Gumbrechts Buch: „Isolde als Sirene. Tristans Narrheit als Wahrheitsereignis“ liegt also insgesamt ein lesenswerter Band vor, zumal Gumbrechts Essay ein schönes Beispiel für akademischen Enthusiasmus und Faszination ist, der Dinge also, die im akademischen Umfeld manchmal zu kurz kommen. Gumbrecht, anders als Kittler, raunt nicht, was bei letzterem den Spaß beim Lesen manchmal etwas vergällt, aber so war Kittler nun einmal. Da klingt es auf Anhieb schon mal etwas tiefer, bedeutsamer, als es beim zweiten Lesen und drüber Nachdenken dann eigentlich ist. Kittlers Suche nach Seinsgeschichte fügt sich natürlich brillant in Gumbrechts Forschen nach der „Präsenz in der Dichtung.“ Auch hierher rührt wohl ihre akademische Freundschaft, für die der Band auch ein Zeugnis ist.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Friedrich Kittler / Hans Ulrich Gumbrecht: Isolde als Sirene. Tristans Narrheit als Wahrheitsereignis.
Mit einer Übersetzung der "Folie Tristan" aus dem Altfranzösischen von Friedrich Kittler.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2012.
107 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783770554461

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