Der Kampf um die Demokratie

Über Jan-Werner Müllers Ideengeschichte der europäischen Demokratien des 20. Jahrhunderts und unserer Gegenwart

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf den ersten Blick mag es überraschen, wenn der an der Universität Princeton lehrende Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller seinen nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Streifzug durch die politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert mit dem Titel „Das demokratische Zeitalter“ überschreibt. Gab es nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation noch die verbreitete Neigung, den Niedergang des Kommunismus zu einem scheinbar endgültigen Sieg der liberalen Demokratie und gleichsam als notwendiges Ergebnis eines durch viele Irr- und Umwege wandernden Jahrhunderts zu verklären, so muss eine solche Sichtweise im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts doch eher befremden. Das ist allerdings auch nicht Müllers Gedanke. Ihm geht es vielmehr um ein Jahrhundert der ideenhistorischen und ideenpolitischen Auseinandersetzung um die Demokratie, was im Titel des englischen Original deutlicher zum Ausdruck kommt als in der womöglich zunächst irritierenden Übersetzung: „Contesting Democracy“.

Aus seiner „Perspektive jenseits des kalten Krieges“ sieht Müller weder in der Demokratie der Gegenwart so etwas wie einen geschichtsphilosophisch ausgezeichneten Endzustand der Menschheitsgeschichte. Noch übersieht er gar die zumal in Europa besonders verschlungenen Wege einer im 20. Jahrhundert angefochtenen und umkämpften Demokratie. Vielmehr zeichnet es sein Buch aus, dass es neben verschiedenen Denkern und Autoren auch die politisch wirksamen Großideologien des vergangenen Jahrhunderts mit einbezieht. In gewissem Sinne war es dabei jedoch weniger die Demokratie selbst, die in Frage stand, als dass mehr noch verschiedene sich demokratisch nennende Konzepte miteinander konkurrierten.

Müllers auf sechs Kapitel angelegter, ebenso vielseitiger wie in seinem Kenntnisreichtum bemerkenswerter Weg durch die politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert beginnt unter dem Leitstern Max Webers. Dessen im Übergang vom „Zeitalter der Sicherheit (für manche)“ hin zu den politisch-ideologischen spannungsreichen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg formulierter Ausblick in eine kommende Epoche bürokratisch-rationalisierter Politik dient Müller gleichsam als Orientierungsmarke.

In den ersten drei großen Kapiteln behandelt der Autor die erste Jahrhunderthälfte. Mit dem Ersten Weltkrieg, so die nicht unbedingt originelle Feststellung, treten die Massen in die Politik ein, und damit auch die ideelle oder ideologische Rückversicherung der Politik beim Volk. Das gilt für die linken und linksradikalen „Experimente“ in Theorie und Praxis der Zwischenkriegszeit ebenso wie für die autoritär-korporatistischen und faschistischen „Lösungen“ andererseits. Als Leser kann man aus je unterschiedlichem Blickwinkel gewiss dieses oder jenes inhaltlich vermissen – obwohl Müller zwischen Lenin und Stalin, Gramsci und Lukács, Austromarxismus und schwedischem Volksheim einerseits, Sorel, Mussolini und Gentile, verschiedenen autokratischen Regimen und dem sowohl rassistisch-antisemitisch wie in seiner eigenen Führerorientierung verschärften deutschen Nationalsozialismus andererseits zahlreiche theoretische und ideologische Stationen durchschreitet. Auch hinsichtlich einer Ausgewogenheit, was die Berücksichtigung der verschiedenen Enden Europas anbelangt, wird man Einwände führen können – mehr noch vielleicht dagegen, dass die Orientierung an Europa die zweifellos nicht unwichtige Rolle Nordamerikas in diesem Zusammenhang ganz aus dem Blick fallen lässt, von anderen Weltgegenden ganz zu schweigen. Gleichzeitig jedoch besticht Müllers Buch durch seinen Stil und seine Lesbarkeit, die bei aller perspektivischen Breite zugleich klar und stringent bleibt.

Die Rückkehr zu einer weder faschistisch noch anderweitig totalitär zu nennenden Demokratie in (West-)Deutschland und anderen Staaten Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg bildet nicht zufällig ein Zentrum von Müllers Überlegungen. Entscheidend ist ihm dabei zum einen der Hinweis auf die Rolle der Christdemokratie, die Müller parteipolitisch, aber auch intellektuell – vertreten etwa durch Jacques Maritain –, als diejenige Bewegung mit der für Europa (mit Ausnahme von Großbritannien und Skandinavien) prägendsten Bedeutung einschätzt. Zudem tritt nach 1945 in Westeuropa nicht irgendeine Gestalt von Demokratie auf, sondern vielmehr eine vielfach gebändigte – und Müller verweist dabei auf die Disziplinierung demokratischer Verfahren etwa durch Verfassungsgerichte, unveräußerliche Grundrechte und Minderheitenschutz, durch das Konzept einer wehrhaften Demokratie, das Projekt der europäische Einigung und letztlich einer deutlichen „Entdramatisierung“ der Politik, ja gewissermaßen ihrer Säkularisierung als vermeintlicher Sinn- und Heilsquelle.

Als Herausforderungen dieser spezifischen Form einer (west-)europäischen Nachkriegsdemokratie – die Entwicklung in Osteuropa nimmt er zwar 1945 ebenfalls wieder auf, jedoch in vergleichsweise geringerem Umfang – betrachtet der Autor dabei vor allem die mit dem Jahr „1968“ symbolisierten gesellschaftlichen Protestbewegungen sowie den sogenannten „Neoliberalismus“, für den er in erster Linie auf Hayek und Michael Oakeshott verweist, die „intellektuellen Schutzpatrone des Thatcherismus“. Ungeachtet aller gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen, die sich damit verbanden, blieb die Ordnung der europäischen Nachkriegsdemokratie dennoch im Kern bis in die Gegenwart bestehen, ja, sie wurde Anfang der 1990er-Jahre auch mehr oder weniger unmittelbar auf Osteuropa ausgeweitet. Dies und die Abwesenheit konkurrenzfähiger ideologischer Alternativen ändert freilich nicht grundsätzlich etwas an der fortdauernden Gefährdung dieses Demokratiemodells. Mag auch das Zeitalter der „contesting democracy“ des 20. Jahrhunderts Vergangenheit sein, so bleibt das demokratische Arrangement der Nachkriegszeit in der Gegenwart nicht unwidersprochen. Müller äußert sich als Ideenhistoriker nicht dazu, wie es diesen Widerspruch aufnehmen könnte, geschweige denn, dass er sich zu prognostischen Spekulationen versteigen würde. Müller beschließt sein Buch im Anschluss an den französischen Philosophen Claude Lefort mit der Feststellung: Demokratie ist – im Gegensatz zum Totalitarismus – „institutionalisierte Ungewißheit“. Und dementsprechend auch eine andauernde Übung darin, konkrete Problemlagen jeweils aufs Neue zu beantworten. In diesem Punkt mag sich das von Müller stark christdemokratisch apostrophierte westeuropäische Nachkriegsmodell zwar in der Vergangenheit bewährt haben, aber es bleibt doch offen, ob dies auch für die Zukunft gelten wird. Mit der (christdemokratischen) Befriedung des einstigen Dauerkonflikts von Staat und Religion, mit der parlamentarisch eingehegten Demokratie und – in Zeiten der Staatsschuldenkrise – nicht zuletzt mit dem Projekt der europäischen Einigung scheinen heute gleich mehrere Grundpfeiler dieses Modells in Frage gestellt, sodass die Lektüre von Müllers Buch den Leser durchaus skeptisch zurücklässt.

Titelbild

Jan-Werner Müller: Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
519 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783518585856

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