Lyrische Selbst-Behauptung
Über vier Verse von Peter Rühmkorf aus Anlass seines fünften Todestages
Von Dieter Lamping
Über manche Verse kann man nicht hinweglesen. Sie binden sofort unsere Aufmerksamkeit. Man liest sie wieder und wieder, um sie zu erfassen und sich einzuprägen. Wenn man Glück hat, versteht man am Ende nicht nur sie. Man erhält auch wenigstens eine Ahnung davon, was Lyrik ist und kann – und weshalb wir sie lesen. Solche Verse vergisst man nicht mehr. Es sind Verse wie diese:
Wir turnen in höchsten Höhen herum,
selbstredend und selbstreimend,
von einem I n d i v i d u u m
aus nichts als Worten träumend.
Das ist die vielzitierte und vielinterpretierte erste Strophe von Peter Rühmkorfs Gedicht „Hochseil“. Den Leser umgarnt sie gleich mit einem dichtgeknüpften Netz lautlicher Entsprechungen: Alliterationen und Reime in rascher Folge, kunstvoll verschlungen. Noch die Anlaute der ersten beiden Wörter, das „w“ und das „t“, kehren in den letzten beiden der vierten Zeile wieder. Auch die Reime sind nicht alltäglich: ein Fremdwort- und ein unreiner Reim, außerdem ein grammatischer Binnenreim. Das jambische Metrum gibt den Versen einen leichten, aufsteigenden Ton. Das alles ist gekonnt, geradezu artistisch und passt zum Titel.
In den vier Versen folgt Überraschung auf Überraschung, wie bei einer Zirkusnummer. Schon am Ende der zweiten Zeile weiß man, dass Hochseil-Akrobatik eine Metapher ist: für das Dichten. Rühmkorf greift mit ihr einen Gedanken auf, den Gottfried Benn, wenn nicht erfunden, so doch populär gemacht hat: der Lyriker als Artist. Benn hat diesen Gedanken, mit großer Geste, ins Metaphysische gewendet. „Artistik“, verkündet er in „Probleme der Lyrik“, „ist der Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben“ und „eine neue Transzendenz zu setzen: die Transzendenz der schöpferischen Lust“. Die Kunst, so heißt es weiter, sei „die eigentliche Aufgabe des Lebens“, ja „dessen metaphysische Tätigkeit“. In all dem berief Benn sich auf Nietzsche.
Rühmkorf folgt Benn – aber er lässt ihn auch schnell hinter sich, sozusagen mit einem artistisch-kühnen Sprung. Er folgt ihm, über die Titel-Metapher hinaus, indem er die Poesie zum ‚Inhalt‘ der Poesie macht. Doch Rühmkorf spricht schon in der ersten Zeile nicht mehr von einer metaphysischen Tätigkeit, sondern von Turnen. Aus dem hochfliegenden Artisten macht er einen trainierten Kunstturner, aus der metaphysischen Tätigkeit eine körperliche Geschicklichkeit, mit der man es bestenfalls in den Himmel eines Zirkus-Zeltes bringt. Statt Benn’schem Pathos also Rühmkorf’sche Ironie.
Dass auch Akrobatik nur eine Metapher ist, bedeutet sogleich die zweite Zeile, die aus nicht mehr als drei Wörtern besteht. Das erste, ein Allerweltswort, das man fast überliest, erhält seine ganze Bedeutung erst von dem dritten her. Die Semantik des Kunstwortes „selbstreimend“ strahlt gewissermaßen auf die von „selbstredend“ zurück und fügt der üblichen Bedeutung des Wortes als Synonym für „selbstverständlich“ eine neue wörtliche hinzu: Hier redet einer selbst – und er reimt selbst, auf seine eigene Weise, in seinen eigenen Worten. Für diese Kunst wählt Rühmkorf selbstredend ein Kunstwort.
Der zweite Vers führt das vor, wovon er spricht. Er präsentiert nicht nur ein neues Wort. Seine beiden Nomen sind auch durch einen Reim, einen grammatischen, verbunden und zusammengefügt zu einem Wortspiel. So kunstvoll-verspielt spricht einer von sich selber, wenn er ein Dichter ist.
Betont wird dabei durch die Wiederholung das Präfix: „selbst-“. Dass es noch mehr sagen soll, als nur: auf eigene Weise, von sich aus, eigenständig, verrät das Hauptwort der dritten Zeile: „Individuum“. Es ist, deutlich, fast überdeutlich, im Original gesperrt: eine Aufforderung, es langsam, betont zu lesen (und vorzutragen). Es geht es um das Selbst – um das, was einen Menschen unverwechselbar, einmalig macht. Und das sind die Worte.
Allerdings ist auch die Wendung „aus nichts als Worten“ zweideutig. Sie kann heißen, der Mensch besteht nur noch aus Worten – oder: er besteht aus nichts anderem als Worten: Er ist sozusagen ein reines Wort-Wesen. Im einen Fall ist die Rede von einem Mangel, im anderen von einem Ideal. Die eine Bedeutung hält die andere zunächst wiederum ironisch in der Schwebe. Durch das Verb „träumend“ am Ende des vierten Verses wird sie aufgehoben: Der Traum – offensichtlich kein Alb-, sondern ein Wunschtraum – gilt dem reinen Wort-Wesen.
Doch was ist ein „Individuum aus nichts als Worten“? Natürlich ein Dichter – und vermutlich ein toter. Aus nichts als Worten besteht der Mensch nur mehr, wenn er tot ist: sofern andere über ihn sprechen. War er jedoch ein Dichter, gibt es auch noch das, was er geschrieben hat: Das garantiert ihm ein Nachleben, auf dem Papier. Das Individuum aus nichts als Worten: Das ist wenig, könnte man sagen. Man könnte aber auch sagen: Das ist viel. Mehr können wir jedenfalls nach aller Erfahrung kaum erwarten. Für eine Artisten-Metaphysik reicht diese Art von Erfahrung allerdings nicht aus.
Das Gedicht geht noch weiter. Es folgen vier Strophen, alle ironisch wie die erste, mit zumindest zwei weiteren unvergesslichen Versen:
Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt,
wer sie für wahr nimmt, wird es.
Und doch sind die folgenden vier Strophen nicht mehr ganz auf der höchsten Höhe der ersten. Peter Rühmkorf hätte auch die vier Verse, mit denen er anfängt, für sich stehen lassen können. Sie enthalten den Traum des Dichters, ja den aller Menschen, die hoffen, dass sie überleben werden durch ihre Worte. In ihnen behauptet sich das Selbst im doppelten Sinn. Es sagt von sich, dass es ein einzigartiges Wesen sei oder sein wolle, und mit dem und in dem, was es sagt, ist es das – und kann es das sein. Der Traum vom reinen Wort-Wesen braucht, selbstredend, die Worte, um Wirklichkeit zu werden. Sie müssen, selbstreimend, allerdings schon besonders sein.
Literaturhinweis:
Peter Rühmkorf: Gesammelte Gedichte. Reinbek bei Hamburg 1976. Zitat S. 133.