Das Dispositiv der Annäherungsprosa

„Rekonstruktion und Entheroisierung“ als „Paradigmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“: Julian Reidy erinnert an vergessene Vorbilder aktueller „Generationenromane“

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Problematische Projektionen in der Literaturwissenschaft

Ist der ganze Hype um die sogenannten „Familien-“ oder auch „Generationenromane“, den die Literaturkritik und die Philologie seit einem guten Jahrzehnt beschwören, etwa in Wahrheit einfach nur Quatsch? Der Göttinger Germanist Gerhard Lauer etwa meinte in einem 2010 erschienenen Beitrag, der kurioserweise als „Einführung“ in dem von ihm selbst herausgegebenen Band „Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung“ erschien, dass man auf solche „Debatten nicht viel geben“ solle: „Zu ungenügend sind die Befunde, auf die sich die weitreichenden Thesen stützen“. Und weiter: „Die Konjunktur des Themas Generation in der Literatur ist ein Phänomen des deutschen Literaturbetriebs und trägt gerade deshalb so wenig zu einer begrifflichen Präzisierung bei, weil hier die Unschärfe kulturkritisches Programm ist. Morgen ist schon der nächste Trend ausgemacht. Da diese kulturkritische Verwendungsweise auch die Literaturwissenschaft dominiert, überlagert sie alle begrifflichen Präzisierungen, wie sie die Geschichts- und Sozialwissenschaften vorgeschlagen haben. Man wird daher konstatieren: In der Literaturwissenschaft ist ‚Generation‘ kein Begriff, wohl aber ein viel besprochenes Thema.“

Einerseits verblüffte Lauer also mit dem Eingeständnis, sein eigener Band und die Beiträge seiner AutorInnen handelten von etwas, das überhaupt nicht angemessen definierbar beziehungsweise schlicht ein Ente des Feuilletons sei: Immerhin beinhaltete das von dem Skeptiker herausgegebene Buch unter anderem einen Beitrag des Göttinger Doktoranden Markus Neuschäfer über „Familiengeheimnisse im Generationenroman“ der Gegenwart, in dem es heißt, das Genre habe sich als „unerwartet erfolgreich und überraschend flexibel“ erwiesen. Andererseits aber hatte Lauer damit Recht, dass die Literaturwissenschaft nicht gleich jedem ‚Trend‘ und jeder griffigen Begriffsprägung blind folgen sollte. Dies bedeutet allerdings nicht, dass man deshalb gleich ein Phänomen, dass zu einer derart breiten Rezeption geführt hat wie die „Generationenromane“, als Literaturwissenschaftler einfach komplett ad acta legen sollte.

Nun ist im Aisthesis Verlag eine Studie des Zürcher Postdoktoranden Julian Reidy erschienen, die sich den „Paradigmen des ‚Generationenromans‘ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ widmet und dem Thema gleichsam mit aufgekrempelten Ärmeln zu Leibe rückt. Das Buch führt zwei der genannten Paradigmen bereits in seinem Titel an: „Rekonstruktion und Entheroisierung“. Reidy bezieht sich damit auf zwei zentrale Behauptungen, die bislang über „Generationenromane“ kursierten: Erstens stehe in ihnen die Rekonstruktion von Familiengeschichten oder -geheimnissen vornehmlich aus der Zeit des „Dritten Reichs“ im Vordergrund, und zweitens führe diese Rekonstruktion oftmals zu einer an die Inszenierung von harmonisierenden Familienalben erinnernden „kumulativen Heroisierung“ fiktiver oder tatsächlich mit den Autoren verwandter NS-Täter. Laut Reidy gibt es aber auch postheroische „Generationenromane“, die er in Büchern von Arno Geiger, Judith Zander, Clemens Setz und Peggy Mädler erkannt hat und in seiner Studie untersucht.

Den Begriff der „kumulativen Heroisierung“ prägte der Sozialwissenschaftler Harald Welzer im Jahr 2002. Er analysierte dieses Kommunikationsphänomen als Form familiärer Geschichtsklitterung zusammen mit Sabine Moller und Karoline Tschuggnall: Mit Hilfe von Interviews hatte das Team eine Tendenz privater Schuldabwehr aufgedeckt, die unter deutschen Nachkommen von NS-Tätern durch abenteuerliche Verdrehungen und Verleugnungen historischer Tatsachen bewerkstelligt wird. Im Titel ihrer Publikation hatten die AutorInnen das Ergebnis ihrer Untersuchungen auf jene griffige Formel gebracht, welche die stereotype Botschaft der Mehrzahl der aufgezeichneten Familiengeschichten und -mythen wie folgt wiedergab: „Opa war kein Nazi“.

Reidy räumt nun aber in seinem Buch mit einigen argumentativen Verkürzungen und fragwürdigen Sprachregelungen auf, die sich in der literaturwissenschaftlichen Forschung zum Thema der „Generationenromane“ mit den Jahren verfestigt zu haben scheinen und zu einer geradezu lähmenden Gleichförmigkeit vieler Qualifikationsarbeiten und Aufsätze zum Thema geführt haben: Der angebliche Trend der „Generationenromane“ wird an einigen wenigen, immergleichen Texten festgemacht, die meist in der ersten Hälfte der sogenannten Nullerjahre erschienen sind und deren angebliche literarhistorische Einzigartigkeit man unter Berufung auf wegweisende Arbeiten Aleida Assmanns oder auch Sigrid Weigels letztgültig untermauern zu können meint.

Reidy, der bereits eine Studie über die „Väterliteratur“ der 1970er- und 1980er-Jahre verfasst und dafür einige Texte gelesen hat, die offenbar unter den SpezialistInnen für den „Generationsroman“ nach 2000 kaum noch jemand kennt, weist dagegen die grassierende Einschätzung zurück, in der „Väterliteratur“ sei es um die anmaßende und selbstgerechte Konfrontation mit den NS-Tätern aus der eigenen Familie gegangen, die damals eben die Väter der AutorInnen aus der ‘68er-Generation gewesen seien, während die neueren „Generationenromane“ stets eine weit ausgewogenere Rekonstruktion einer Familiengeschichte über mehrere „Generationen“ hinweg leisteten.

Nun muss man das Wort „Generation“ zunächst einmal in Anführungstriche setzen, weil es sich dabei bekanntlich um eine Konstruktion handelt, die zu verschiedensten Zwecken instrumentalisiert werden kann – nicht zuletzt auch von der Literaturwissenschaft, der es gut zu Gesichte stünde, solche oftmals ideologischen Hintergründe auch im Blick auf die eigenen Bewertungsformen selbstkritisch zu hinterfragen. Reidy verweist auf diesen methodischen Wissensstand der Forschung, der eigentlich dazu führen müsste, dass man Generationenkonstrukte und die daraus geschlussfolgerten moralischen Maßgaben beziehungsweise Geschichtsbilder in literarischen Werken mit gebührender Distanz zu analysieren hätte. Daher bemerkt er zu Recht: „Eine ‚eindimensionale‘, allein auf ‚rekonstruktive‘ Wirkungsabsichten ausgerichtete literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ‚Generationenromanen‘ würde einen Rückfall hinter den aktuellen Stand der Generationenforschung bedeuten.“

Tatsächlich geschieht jedoch in vielen Fällen genau dies. Und damit nicht genug: Assmann & Co. behaupten laut Reidy etwas, das mit den literaturgeschichtlichen Tatsachen überhaupt nicht in Einklang zu bringen ist. Man braucht nur Bernward Vespers Roman „Die Reise“ zu lesen, um mit Reidy festzustellen, dass auch dieser 1977 erstmals erschienene Text von weit mehr handelt als nur einer ‚selbstgerechten‘ Abrechnung des Autors mit dem eigenen Vater, dem nationalsozialistischen Staatsdichter Will Vesper. So spielt in diesem Text zum Beispiel auch die Großmutter des Erzählers eine wichtige Rolle, genauso wie der kleine Sohn des Protagonisten. Auch Vespers Roman war also bereits nicht nur ein Fall von „Väterliteratur“, wie sie heute verstanden wird, sondern breitete ein familiengeschichtliches Panorama über mehrere „Generationen“ aus. Nicht zuletzt ergeht sich der Erzähler und Protagonist dieses Romans in vielfältigen Selbstanklagen: Die kritische Auseinandersetzung mit dem Vater erfolgt keinesfalls eindimensional, sondern führt immer wieder zu bohrenden Fragen nach dem eigenen Scheitern als Vater und politisch engagierter Mensch, der in der Adolzeszenz sogar selbst noch als Wahlhelfer für die rechtsextremen Seilschaften des Vaters agierte.

Ähnlich verhält es sich mit Ruth Rehmanns 1979 erschienen Roman „Der Mann auf der Kanzel“ (1979) sowie weiteren Texten, die Reidy auf der Basis seiner früheren Studien anführt, um herauszuarbeiten, dass viele aktuelle Untersuchungen zu den „Generationenromanen“ eine Exklusivität in die ausgewählten Werke der Gegenwartsliteratur hineinprojizieren, die nichts als eine reine Chimäre ist: Auch in der „Väterliteratur“ gab es schon erzählerische Selbstkritik, gab es abwägende Elemente und vor allem eben auch die Thematisierung mehrerer „Generationen“ in den beschriebenen Familien.

Reidys überzeugende Argumentation erlaubt es, sich grundsätzlichere Fragen zu stellen, um aktuelle literaturkritische und literaturwissenschaftliche Kategorisierungs- und Kanonisierungsparameter ins Auge zu fassen: Warum überhaupt bewerten viele heutige RezensentInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen die sogenannte ’68er-Literatur derart negativ und beklagen noch dazu mangels Textkenntnis unrichtigerweise, in diesen Büchern fehle der Versuch einer differenzierten ‚Annäherung‘ an die NS-Generation? Reidy verweist mit Befremden darauf, dass etwa bei der Literaturkritikerin Ursula März eine sogenannte „Annäherungsprosa“ als Ideal gilt. März kennt jedoch in einer von Reidy zitierten Rezension zu Romanen von Stephan Wackwitz und Simon Werle nicht einmal den korrekten Namen von Bernward Vesper, sondern äußert sich in einer bezeichnenden Verwechslung abschätzig über dessen lebenden Kollegen Guntram Vesper, dem sie den angeblich ‚dünkelhaften‘ Roman „Die Reise“ zuschreibt: „Nähe soll sein, nicht Abrechnung“, heißt es da in der letzten Zwischenüberschrift des Artikels aus der Wochenzeitung „Die Zeit“, und März freut sich ausdrücklich darüber, dass Wackwitz‘ Familienroman „Ein unsichtbares Land“ trotz der einschlägigen linksradikalen Vorgeschichte des Autors nicht in „Abrechnungsprosa“ ausgeartet sei wie im Falle Vespers. „Annäherungsprosa“ über NS-Täter zu schreiben, gilt demnach heute offenbar als lobenswert. Damit wäre im Grunde das, was Welzer et al. als problematisches Ergebnis deutscher Familienkommunikationsprozesse aufgedeckt haben, im Bereich einer Gegenwartsliteratur, wie sie die Literaturkritikerin Ursula März 2003 in der „Zeit“ favorisierte, geradezu zum ästhetischen Ideal avanciert.

Offensichtlich wirkt hier eine kaum wahrgenommene beziehungsweise stillschweigend beherzigte Ideologie, nach der gewisse nachträgliche ethische Urteile und Bewertungen in literarischen Texten über frühere „Generationen“ nicht mehr für angemessen gehalten werden. Ältere Formen der literarischen „Generationen“-Konfliktdarstellung in der Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ dagegen werden aus dieser nur behaupteten ‚entideologisierten‘ Position heraus als angeblich „ideologische“ Anmaßungen abgelehnt. Es handelt sich um einen nicht nur literarisch, sondern auch geschichtspolitisch virulenten Diskurs der Berliner Republik, wie er etwa mustergültig von dem Juristen und Bestsellerautor Bernhard Schlink vertreten wird: Schlinks Vorstellung eines respektvollen, empathischen und ‚gerechten‘ Umgangs der jüngeren ‚Generationen‘ mit ihren ‚Eltern‘ und ‚Großeltern‘ – um nicht zu sagen: „Unseren Müttern, unseren Vätern“, um einmal auf eine aktuelle ZDF-Serie zu diesem Thema zu verweisen – wurde bereits in seinem Welterfolg „Der Vorleser“ (1995) vorgegeben.

Kurz gesagt lautete Schlinks Botschaft seither nicht nur in diesem Text immer wieder: Es führe zu nichts, die eigene Familie und die Beziehung zu geliebten Menschen dadurch zu zerstören, dass man eine unablässige und ohnehin endlose, weil im Grunde neurotische Aufklärung der Vergangenheit betreibe. Diese fragwürdige Richtschnur scheint sich mittlerweile zu einem regelrechten Dispositiv ausgeweitet zu haben: Laut Michel Foucault handelt es sich dabei um ein weit ausgreifendes Netz von Diskursen, das sich über die verschiedensten Medien, Institutionen, reglementierenden Entscheidungen, wissenschaftlichen Grundsätze und Praktiken legt, diese miteinander verknüpft und so eine weithin in der Gesellschaft wirkende Macht ausbildet.

Man könnte mit einer 2012 erschienenen Publikation von Dana Giesecke und Harald Welzer, die Hinweise zur „Renovierung der deutschen Erinnerungskultur“ geben will, wahlweise auch von Referenzrahmen, von Skripten oder auch von Shifting Baselines sprechen: Die ethischen Rahmungen und Schwerpunktsetzungen unserer Erinnerungsformen ändern sich mit der Zeit, genauso wie sich auch schon im „Dritten Reich“ die moralische Selbstwahrnehmung aller Mitglieder der NS-Gesellschaft während der zwölf Jahre ihres Bestehens teils dramatisch veränderte. Von daher sei es problematisch, überhaupt von „Tätern“ und „Zuschauern“ im „Dritten Reich“ zu sprechen, meinen Giesecke und Welzer: „Mit solchen Personenkategorien kann der Handlungszusammenhang, der schließlich in den Massenmord und in die Vernichtung führte, nicht angemessen beschrieben werden.“ Es gebe nämlich „in einem solchen Zusammenhang keine Zuschauer, es gibt auch keine Unbeteiligten. Es gibt nur Menschen, die gemeinsam, jeder auf seine Weise, der eine intensiver und engagierter, der andere skeptischer und gleichgültiger, eine gemeinsame soziale Wirklichkeit von Tätern und Opfern herstellen.“

Literaturwissenschaftliche Analysen von Romanen, die sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen, müssten also idealerweise mindestens Zweierlei leisten: Sie müssten zum Einen die vielfätigen nachträglichen Relativierungen des großen, aufopferungsvollen Projekts der „Volksgemeinschaft“, als das nichtjüdische Deutsche ihre Gesellschaft nach 1933 größtenteils verstanden und moralisch guthießen, kennen und durchschauen, um problematische Darstellungen dieser Geschichte in der (Gegenwarts-)Literatur benennen und interpretieren zu können – ist es doch zum Beispiel die Frage, ob eine sogenannte „Annäherungsprosa“ in diesem Sinne wirklich ein Ideal darstellen kann oder soll.

Und zum anderen müssten solche Analysen die eigenen Bewertungskriterien metawissenschaftlich hinterfragen, um nicht zu allzu selbstgewissen Einschätzungen solcher ästhetischer Artefakte zu gelangen. Könnte es doch zum Beispiel sein, dass die eigenen Deutungen schlicht dem aktuellen historischen Geschichtsbild entsprechen, das unbewusst internalisiert wurde. Auf einer solchen unhinterfragten Basis einfach andere oder frühere Darstellungsweisen auszublenden und zu marginalisieren, die in diesem virulenten Referenzrahmen gerade nicht mehr als genehm gelten, wäre jedenfalls nicht mit den Prämissen wissenschaftlichen Forschens vereinbar. Dazu müsste aber erst einmal verstanden werden, was Giesecke und Welzer betonen: „Eine gültige Form des Erinnerns und Gedenkens gibt es nicht, auch wenn es den jeweiligen Zeitgenossen wünschenswert erscheint. Erinnerung schreibt sich immer nach Erfordernissen der Gegenwart um, und das Gedenken folgt diesen Umschriften in gemessenem Abstand.“

Verbindet man nun diese Überlegungen mit den Ergebnissen Reidys, so muss man feststellen, dass die aktuelle diskursive Konstitution der kulturellen und historischen ‚Wirklichkeit‘ in den Köpfen der Deutschen dazu geführt zu haben scheint, dass die Geschichte der Nachkriegsliteratur sogar selbst von GermanistInnen ohne jede Textkenntnis einfach nach den Vorgaben des derzeitigen Dispositivs umgeschrieben wird: Die aktuelle Ideologie beziehungsweise „Umschrift“ dessen, was als angemessene Erinnerung an den Nationalsozialismus gilt, wird ausgeblendet und als etwas ganz ‚Natürliches‘ wahrgenommen, während diejenige der 1970er-Jahre verteufelt beziehungsweise vom Hörensagen selbst Texten aus jener Zeit zugeschrieben wird, die dieser ideologischen Chimäre de facto noch nicht einmal entsprechen.

Doch nicht nur wegen dieser erhellenden Denkanstöße und Hinweise ist Reidys Buch zu begrüßen: Es enthält zudem einige Interpretationen zu bekannten (oder auch zu bisher weniger beachteten) Texten, deren Lektüre sich lohnt, weil sie die besagte Gleichförmigkeit gängiger neuerer Studien mit polemischer Verve konterkarieren. Dazu hier nur drei Beispiele.

Reinhard Jirgls Roman „Die Unvollendeten“ als Kontrafaktur von Arno Schmidts Prosastudie „Die Umsiedler“

Reinhard Jirgl, den Harald Welzer vor knapp einem Jahrzehnt jener revisionistischen Vertriebenen-Larmoyanz beziehungsweise der typischen Täter-Opfer-Umkehr zieh, die der Sozialpsychologe bereits in „Opa war kein Nazi“ in deutschen Familiengesprächen aufgedeckt hatte, wird von Reidy verteidigt. Zum einen hatte Welzer Jirgls Roman „Die Unvollendeten“ (2003) erklärtermaßen selbst gar nicht ganz gelesen, wie er in seiner Kritik „Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familen- und Generationenromane“ von 2004 offen einräumte. Und zum anderen vermag Reidy zu zeigen, dass sich Jirgls Text nicht so leicht abkanzeln lässt, wie Welzer damals glaubte: Mangels literaturwissenschaftlichen Handwerkszeugs habe der fachfremde Literaturkritiker gewisse Feinheiten der Narration und der Figurenkonstellation des Romans selbst in jener Passage missachtet, die er für seine Polemik heranzog.

Reidys eigener Forschungsbeitrag in diesem Kapitel ist ein detaillierter Abgleich von Jirgls Roman mit Arno Schmidts frühem Vorläufertext „Die Umsiedler“ (1953), den wieder einmal keiner der Literatuwissenschaftler, die bisher über „Die Unvollendeten“ geschrieben haben, genauer angesehen hatte – und das, obwohl Jirgl selbst ein erklärter Schmidt-Verehrer ist und sogar auch noch einen begeisterten Essay über „Die Umsiedler“ geschrieben hat. Reidy vermag zu zeigen, dass es sich in dem Roman „Die Unvollendeten“ um einen Fall von Interauktorialität handelt, also um eine literarische Inszenierung einer „Begegnung zwischen dem in einem gelesenen Text wahrgenommenen Autor und dem Autor eines nachzeitigen Werks“, wie es die Literaturwissenschaftlerin Ina Schabert definierte. Jirgl habe „Die Umsiedler“ vielfach zitiert, aber auch eine Kontrafaktur von Schmidts Text verfasst, wie Reidy herausarbeitet.

Stephan Wackwitz’ Roman „Ein unsichtbares Land“ als Dokument des Anti-’68er-Backlashs

Weit kontroverser wird es im Fall von Stephan Wackwitz’ Roman „Ein unsichtbares Land“ (2005), den Reidy im Gegensatz zu den bisherigen Interpreten für hochproblematisch hält. Widersprechen muss man Reidy allerdings in seiner Einschätzung, der Umgang mit historischen Quellen und Familiendokumenten, wie ihn andere für ein zentrales Merkmal der „Generationenromane“ nach 2000 halten, sei bei Wackwitz eine Ausnahme. Genauso wie in der „Väterliteratur“, an die Reidy in diesem Zusammenhang zu Recht erinnert, spielt dieses Motiv jedoch in der Tat auch in anderen „Familienromanen“ eine zentrale Rolle. Dass dies bei Werken wie denen von Jirgl und Arno Geiger nicht der Fall ist, wie Reidy attestiert, ist ein Befund im Rahmen seines Textkorpus, in dem jedoch Werke wie Uwe Timms „Am Beispiel meines Bruders“ (2003) und Dagmar Leupolds „Nach den Kriegen“ (2004) nicht berücksichtigt werden, in denen ebenfalls, genauso wie in „Ein unsichtbares Land“, ein materialiter vorliegendes  autobiografisches Dokument eines Familienmitgliedes der AutorInnen im Zentrum der Narration steht. Reidys Befund des insgeheimen Vorbilds der „Väterliteratur“ der 1970er-Jahre für Wackwitz wäre also dahingehend auszuweiten, dass dieser Einfluss auch für jemanden wie Uwe Timm gilt, dessen Roman „Am Beispiel meines Bruders“ wiederum zu einem offensichtlichen Vorbild für Folgeromane wie den Leupolds wurde. Hier wären äußerst dynamische Wechselspiele von poetischen Nachahmungen, Fortschreibungen und auch gegenseitigen Beeinflussungen von Literaturkritik, Literaturbetrieb und dem Schreiben von AutorInnen seit 2000 zu untersuchen, die auch Reidy noch nicht zur Gänze im Blick hat.

In seiner Kritik an „Ein unsichtbares Land“ stößt sich Reidy jedoch vor allem an der Gleichsetzung der NS-Verstrickung des Großvaters Andreas Wackwitz mit der ‚totalitären‘ Phase des Enkels und Autors Stephan Wackwitz, der sich in seinem Roman wegen seines Engagements im MSB Spartakus in den 1970er-Jahren einer ähnlichen Verblendung wie sein ,unheimlicher‘ Vorfahre zeiht, dessen Leben er letztlich also einfach ‚nachgelebt‘ habe. Stärker als bisherige Interpreten sieht Reidy in dieser erzählerischen Bewegung eine ‚Einschreibung‘ des Autors in eine problematische Genealogie, deren Kritik sich im Roman schließlich mehr oder weniger in „Verharmlosung und Euphemisierung“ auflöse, zugunsten einer Einreihung der zentralen Textbotschaft in den gängigen Anti-’68er-Backlash, im Sinne der Behauptung der Existenz des „Schreckgespenstes“ eines ‚linken Faschismus‘: „Wackwitz nimmt der Haltung des Großvaters zum Nationalsozialismus und seiner eigenen Einstellung zum Kommunismus jegliche historische Spezifizität“, so Reidy. „Diese fahrlässige Konvergenz distinkter Epochen und Ideologien dient bei Wackwitz allein der Diffamierung der Umbrüche von 1968, nicht etwa dem hehren Ziel der ‚Selbstaufklärung‘, das Assmann mit dem ‚rekonstruktiven Generationenroman‘ assoziiert.“ Werde diese „Selbstaufklärung“ mit Wackwitz’ Parallelisierungen der Biografien seines Erzählers und der seines Großvaters doch geradezu „pervertiert“, indem sein Roman „Geschichte allein als Familiengeschichte begreift, die allererst einem ‚solidarischen‘ Plot folgt“.

Dies wäre demnach eine Diagnose, die in dem Fall tatsächlich den Erkenntnissen Welzers über die typische „kumulative Heroisierung“ im deutschen Familiengedächtnis entspräche. Reidy spricht seinerseits an der Stelle zunächst von einer zynischen ‚Detotalisierung‘ von Geschichte in Wackwitz’ Roman, einer „Entdifferenzierung der Vergangenheit“, um am Ende des Kapitels selbst mit Welzer den metaphorischen Begriff des „Albums“ für die Klassifikation des Romans „Ein unsichtbares Land“ zu verwenden. Der Text funktioniere in seiner Geschichtsdarstellung eben nicht wie ein wissensbasiertes Lexikon, sondern, weit emotionalisierender, wie die familiäre Selbstinszenierung von Krieg und Heldentum in einem Familienalbum, was im Übrigen auch durch die historischen Fotoabbildungen aus der Wackwitz’schen Familiengeschichte plausibel wird, die den Roman mit strukturieren.

In seinen eigenen Traumvisionen weiter Landschaften etwa, wie sie Wackwitz’ Erzähler zuvor im Tagebuch seines Großvaters gefunden und nachgelesen hat, einem nationalistischen Pfarrer, der vor dem Holocaust nahe bei Auschwitz und danach unter anderem in der afrikanischen Kolonie „Deutsch-Südwest“ lebte, erkennt Reidy mit der von ihm zitierten Anne Fuchs „bei allem analytischen Aufwand genau die Männlichkeitsfantasien“ wieder, die „dem völkischen Traum des Großvaters zugrunde liegen“. Das „Unheimliche“ des herrischen Großvaters Andreas Wackwitz werde im Roman zwar benannt, am Ende aber exorziert, während die Opfer der Shoah in diesem Text durchweg abwesend blieben. Hier sei, so das vernichtende Urteil Reidys, die „Väterliteratur“ bereits weiter gewesen, und auch der gängige Vergleich von Wackwitz‘ Roman mit denen von W. G. Sebald sei für den Nachfolger zu viel der Ehre.

Arno Geigers Roman „Es geht und gut“ als missverstandene Persiflage auf das Klischee des „Generationenromans“

Anhand des Beispiels von Arno Geigers Buch „Es geht und gut“ (2005) tritt Reidy schließlich der Behauptung entegen, es gehe in den „Generationenromanen“ immer nur um die Rekonstruktion von Familiengeschichten. Ähnlich wie bei Jirgl und anders als etwa bei Wackwitz gibt es in Reidys Lesart bei Geiger keinerlei Heroisierung. Mehr noch – bei Geiger gebe es auch überhaupt keine ‚Selbstaufklärung‘ des Protagonisten, der gar kein Interesse an seiner Familiengeschichte zeige. Schließlich wolle Geigers Protagonist gar nichts über seine Großeltern wissen und vernichte deren Dokumente sogar gezielt.

Geigers Roman hat seine bisherigen Interpreten unter anderem dadurch verstört, dass in ihm Rückblicke auf die Familienchronik des Protagonisten zu finden sind, deren Erzähler ohne jede Erklärung aus dem ‚Off‘ agiert und über Dinge berichtet, die der Protagonist weder wissen will noch wissen kann. Dennoch haben verschiedene Deuter den Roman so gelesen, als handele es sich bei diesen Analepsen um Teile einer Schrift, die der Protagonist während der Romanhandlung verfasse – ist er doch Schriftsteller und bemerkt er doch hier und da, an einem dubiosen Text über seine Vorfahren zu sitzen. Reidy hält diese Interpretationen jedoch allesamt für haltlos, weil es im Text keinerlei explizite Belege für die Plausibilisierung dieser Lesart gebe. Es handele sich bei dem Roman vielmehr um eine postmoderne Persiflage, die die Klischee-Erwartungen an einen „Generationenroman“ des boomenden Genres subvertiere und somit zurückweise: „Die Vergangenheit ist in Es geht uns gut also immer schon und immer nur eine black box, auf die nie in sinn- oder erkenntnisstiftender Weise zurückgegriffen wird und die keinesfalls ‚rekonstruierbar‘ ist“, betont Reidy. Diese hybride Form des Romans, die Postheroizität und ‚rekonstruktive‘ Wirkungsabsichten aus selbstreferentielle Weise vereine, sei Programm.

Soviel wird man sagen können: Reidys Interpretationen haben in ihrer Streitbarkeit den Vorteil, dass sie luzide formuliert sind und dabei stets mit Bewertungen aufwarten, die denen des bisherigen Mainstreams selbstbewusst entgegentreten. Man wird auf dieses erhellende Buch zurückkommen müssen, und sei es in Form erneuter Repliken und Einschärfungen: Julian Reidy hat eine Studie geschrieben, deren Mut zum Widerspruch und zur Kontroverse aufhorchen lassen.

Titelbild

Harald Welzer / Dana Giesecke: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur.
Körber-Stiftung, Hamburg 2012.
185 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783896840899

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Julian Reidy: Rekonstruktion und Entheroisierung. Paradigmen des ‚Generationenromans‘ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2013.
315 Seiten, 38,80 EUR.
ISBN-13: 9783895289682

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