Rechenmeister, Sterngucker und Astrologen

Das Nürnberger „Pirckheimer-Jahrbuch“ unterrichtet über Melanchthon und die mathematischen Wissenschaften

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Früher konnte man häufig lesen, die Weltauffassung des Renaissancehumanismus sei in erster Linie dem Irdischen zugewandt, das geistige und moralische wie auch das praktische Leben des Menschen als Individuum in dieser seiner Welt sei durch die Humanisten zum ersten Mal seit der Antike wieder an die oberste Stelle gerückt: statt der fernen Gestirne, statt Hinterwelt oder Jenseits „die Entdeckung der äußeren Welt“. Eben deshalb beginnt mit ihnen die Neuzeit, und zwar nicht zufällig im hellen Italien und nicht in den dunklen, sumpfigen Wäldern nördlich der Alpen. So ungefähr las man es schon in Jacob Burckhardts wegweisender „Cultur der Renaissance in Italien“ von 1860, die zwar auch nicht an den Bewegungen des religiösen Fanatismus, an Aberglauben, Magie und Alchemie vorbeikommt, an Savonarola und Agrippa von Nettesheim, aber auch darin vor allem den säkularen Individualismus und die Subjektivität des modernen Menschen erkennen möchte.

Spätestens seit man sich mit dem Humanismus erheblich genauer befasst, diesseits der idealen Programmatik und der antihumanistischen Polemik, auch in anderen Regionen Europas und nicht länger bloß im Blick auf eine Handvoll einseitig ausgewählter Gewährsleute, ist von dieser vordergründigen Auffassung natürlich nicht mehr viel übrig. Dazu gehört auch zunehmend die Erforschung der Wissenschaften und der wissenschaftlichen Praxis im 15. und 16. Jahrhundert, zumal in den nördlichen Ländern, und dazu zählen wesentlich Mathematik und Astronomie, die neben der erneuerten Medizin und Anatomie fast zu den Leitdisziplinen des 16. und 17. Jahrhunderts gehören, zumindest auf dem Gebiet der Naturforschung.

Das „Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung“, 1986 gegründet, bei Harrassowitz in Wiesbaden verlegt und von der Nürnberger Willibald Pirckheimer-Gesellschaft herausgeben, ist ein erstrangiges Forum der Forschungen über das 15. und 16. Jahrhhundert in Deutschland, der literarischen Kultur ebenso wie der Theologie, der Philosophie und der Geschichte der Wissenschaften. Hervorzuheben ist dieses Forum auch deshalb, weil in der deutschsprachigen Forschungslandschaft Periodica der Frühneuzeitforschung rar sind; daneben sind nur noch die ebenfalls einmal jährlich erscheinende „Scientia Poetica“ (im Verlag Walter de Gruyter) und der bei Rodopi (Amsterdam / New York) erscheinende „Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur und Kultur (1400-1750) zu nennen sowie auf seiten der Geschichtswissenschaft die „Zeitschrift für historische Forschung“ (Duncker & Humblot, Berlin), die Frankfurter „Zeitsprünge, Forschungen zur Frühen Neuzeit“ (im Verlag Vittorio Klostermann) und die „Frühneuzeit-Info“ des Wiener „Instituts für die Erforschung der Frühen Neuzeit“.

Der jüngste Band des Nürnberger Jahrbuches publiziert die Vorträge eines Symposions über die vielfältigen Beziehungen, die Melanchthon vor allem auf dem Gebiet der Mathematik und Naturwissenschaften zu Nürnberg unterhielt, um 1500 und danach einem der wichtigsten der kulturellen Zentren des Reiches. Die Tagung war 2010 von der Pirckheimer-Gesellschaft in Verbindung mit dem „Cauchy-Forum Nürnberg“, dem Interdisziplinären Forum für Mathematik und ihre Grenzgebiete (nach dem Mathematiker Auguste-Louis Cauchy, 1789-1857), veranstaltet worden.

Der Band enthält 5 Beiträge, aus denen man Grundlegendes, aber auch einiges Neue über die Wissenschaftsgeschichte der Renaissance lernen kann, anhand der für die Verhältnisse in Deutschland wahrhaft zentralen Schauplätze Wittenberg und Nürnberg und der Biografien einzelner führender Gelehrter, ihrer Leistungen und Beziehungen untereinander. Monika Maruska teilt Ergebnisse ihrer Wiener Dissertation (von 2008) über den Mathematiker Johannes Schöner mit (1477-1547). Schöner war einer der berühmtesten Astronomen, Hersteller verschiedener Erd- und Himmelsgloben, Autor weit verbreiteter Editionen wie auch Verfasser volksmedizinischer „Arzneischriften“ und schließlich Lehrer für die mathematischen Fächer am neugegründeten Ägidiengymnasium in Nürnberg, der ersten Modellanstalt des maßgeblich von Melanchthon konzipierten humanistischen Gymnasiums in Deutschland. Christine Sauer schreibt über die populäre Praxis und die Schriften der Nürnberger „Schreib- und Rechenmeister“ zwischen Algebra, angewandter Geometrie („Feldmeßkunst“), Sternenkunde und ,wissenschaftlich‘ gestützter Kalligrafie, der Gestaltung von Schrift und Drucktypen nach mathematischen Prinzipien. Im Zentrum steht der herausragende „Arithmeticus“ Johann Neudörffer (1497-1563). Zwei Abhandlungen befassen sich ausführlich mit der Astronomie im frühen 16. Jahrhundert: Georg Singer aus Weiden mit der mathematischen Lehre an Schulen und Universitäten und deren Förderung durch Melanchthon und Karin Reich, Historikerin der Mathematik in Hamburg, mit „Philipp Melanchthon im Dialog mit Astronomen und Mathematikern“ anhand ausgewählter Beispiele.

Um nicht kurzschlüssigen Anachronismen über die Geschichte der „Wissenschaften“ zu erliegen, ist schon das rechte Verständnis der Titelbegriffe entscheidend, die um 1500 etwas ganz anderes bedeuten als heute. Die genannten Abhandlungen versäumen nicht, den Leser darauf hinzuweisen und mit den nötigen Informationen zu versorgen. „Mathematik“ ist meist noch der Oberbegriff zu Astronomie und Astrologie sowie auch Trigonometrie und Geometrie (die sogenannte niedere Mathematik umfasst Arithmetik / Algebra), und ihre Bedeutung fußt seit Platon (und Pythagoras) auf der Verbindung mit der Erkenntnistheorie. Die Ordnung des Seienden ist erkennbar als Zahlen und in Zahlenverhältnissen, und dem folgt auch Melanchthon, für dessen Naturtheologie sich der gottgeschaffene Kosmos allererst in mathematischen Strukturen manifestiert. Deshalb, nicht etwa als früher Vertreter der Physik als Fachwissenschaft, die es um diese Zeit noch nicht gibt, stellt Melanchthon die Naturlehre und Naturforschung fast an die Spitze der Lehrgegenstände und verfasst ein außerordentlich erfolgreiches Lehrbuch darüber, die „Initia doctrinae physicae“ (Anfangsgründe der Naturlehre).[1] Man kann dieses Verständnis von Natur und Naturforschung nicht zuletzt dem konzisen Beitrag von Günter Frank entnehmen, der von „Natur als Offenbarung – Philipp Melanchthons Naturbild“ handelt und zu Recht den anderen Beiträgen dieses Jahrbuchs voransteht. Der Leiter der Europäischen Melanchthon-Akademie in Bretten und Mitherausgeber der „Opera Philosophica“ des in Bretten geborenen Wittenbergers hat in wichtigen Publikationen entscheidend zu einem zureichenden Verständnis von dessen partiell platonisch überformtem Aristotelismus beigetragen.[2]

Erstaunlich ist, dass in allen Beiträgen ein Hinweis auf einen anderen Nürnberger Astronomen gänzlich fehlt, nämlich auf Johannes Werner (1468-1522), einen der namhaften Mitglieder dieser mehr oder weniger humanistischen Gelehrtenkultur um Pirckheimer, Scheurl und eben auch Johannes Schöner. Beide waren auch Kleriker, und Schöner hat später eine kleine, offenbar populäre Schrift von Werner herausgegeben („Canones“, posthum 1546). Am bekanntesten ist Werner wahrscheinlich als Objekt einer kritischen Schrift von Nikolaus Kopernikus, des Briefes „In Wernerum“[3], von besonderem Reiz aber dürfte noch heute ein „Diarius historicus“ sein, ein privates Merk- oder Notizbuch, in dem Werner in den Jahren 1506-1521, gelegentlich sogar auf Deutsch, Nachrichten, Tagesereignisse und persönliche Eindrücke festgehalten hat. Ein Vergleich mit Schöners Tagebuch aus den Jahren 1477-1507, das Monika Maruska in ihrem Beitrag gewürdigt hat, wäre interessant gewesen.[4] Anhand solcher frühneuzeitlicher „Ego-Dokumente“ wäre auch über die spannende Frage nachzudenken, ob nicht von der gelehrten Beschäftigung mit Sternenkunde und Astrologie, zumal der alltäglichen Praxis des Umgangs mit Ephemeriden und Prognostiken (sogenannten „Nativitäten“, Horoskopen), die auch diesen beiden Autoren gemeinsam ist, ein besonderer Impuls der Beobachtung und Reflexion über eigene psychische und nicht selten auch pathologische Befindlichkeiten ausgeht, der zur Genese der neuzeitlichen Autobiografie beigetragen hat, anders als die Impulse von seiten der religiösen Innerlichkeit oder der Seelenkunde, die der Forschung weitaus geläufiger sind.[5]

[1] Am Beispiel der Universität Marburg, die 1527 als erste evangelische Universität in Deutschland gegründet wurde, unterrichtet über die gelehrten Disziplinen: das „Quadrivium“ innerhalb der Artes liberales bzw. der sogenannten Artistenfakultät, und über die Rolle Melanchthons, seiner Lehrbücher und Einflüsse vorzüglich Barbara Bauer in: „Melanchthon und die Marburger Professoren (1527-1627)“, herausgegeben von derselben. 2., verbesserte und erweiterte Auflage, Marburg 2000, Band 1, S. 345-439.

[2] Vgl. Günter Frank: „Die theologische Philosophie Melanchthons (1497-1560).“ Leipzig: Benno 1995 (Erfurter theologische Studien 67), und ders.: Zur Transformation der Naturphilosophie in Melanchthons humanistischer Philosophie, in: „Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit“, herausgegeben von Günter Frank und Stefan Rhein. Sigmaringen: Thorbecke 1998, S. 43-58.

[3] Vgl. Herbert Jaumann: Artikel „Werner, Johannes“ in: Killy Literaturlexikon, 2., vollständig überarbeitete Auflage, Berlin: de Gruyter 2011, Band 12, S. 317-320.

[4] Die Aufzeichnungen Schöners, die in der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB Wien, 4.H.7) verwahrt werden, hat Monika Maruska in ihrer Dissertation ediert.– Die Notizen von Johannes Werner werden in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel aufbewahrt. Über ihren Inhalt vgl. Siegfried Bachmann: Johannes Werner. Kaiserlicher Hofkaplan, Mathematiker und Astronom zu Nürnberg, als Chronist der Jahre 1506 bis 1521. In: Bericht des Historischen Vereins Bamberg, Nr. 102 (1966), S. 315-337.

[5] Ein besonders eindrucksvolles Dokument (auch nach der pathologischen Seite der Selbstbeobachtung) ist die Autobiographie „Commentariolus de vita sua“ des Philologen, Bibliothekars und Pädagogen Hieronymus Wolf (1516-1580), der u. a. auch bei Melanchthon studiert und später vor allem in Augsburg gewirkt hat. Vgl. Helmut Zäh: „Hieronymus Wolf. Commentariolus de vita sua.“ Diss. München 1998, mit einer kommentierten Edition des Originals, einer neuen Übersetzung sowie einer Bibliographie der gedruckten Werke Wolfs.

Titelbild

Franz Fuchs (Hg.): Pirckheimer Jahrbuch 26. Mathematik und Naturwissenschaften in der Zeit von Philipp Melanchthon Akten des gemeinsam mit dem Cauchy-Forum-Nürnberg e.V. am 12./13.November 2010 veranstalteten Symposions in Nürnberg.
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Wiesbaden 2012.
172 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783447066532

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