Keine Freundinnen

Lisa Kränzlers Roman „Nachhinein“ ist von Unversöhnlichkeiten geprägt

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie wohnen in der gleichen Straße, doch leben sie in völlig verschiedenen Milieus. Wenn LotteLuisaLuzia, aus deren Perspektive der größte Teil von Lisa Kränzlers Roman „Nachhinein“ erzählt wird, in einer intakten, wohlbehüteten und bürgerlichen Familie aufwächst, geht es bei JasminCelineJustine schon um einiges heftiger zu. Da säuft der Vater, er schlägt die Mutter und vergreift sich an der Tochter, und der Bruder steht seinem Vater in nichts nach. Für kurze Zeit sind die beiden Mädchen befreundet, doch für diese Beziehung gibt es keine Zukunft. Für JasminCelineJustine wird die Welt der Freundin immer unerreichbar bleiben, und LotteLuiseLuzia interessiert sich letztlich doch nicht wirklich für die andere, auch ihr bleibt bei der anderen alles fremd, nur zu gern kehrt sie zurück in ihre eigene heile Welt und derjenigen voller Gewalt und Niedertracht den Rücken zu. Und sie lässt sich auch nicht umstimmen, als die andere ihre Hilfe dringend nötig hat.

Eigentlich geschieht an der Oberfläche nicht viel in diesem Roman – darunter hingegen brodelt es tüchtig. Wir lernen ein nicht sehr sympathisches Mädchen aus ordentlichem Hause kennen, die erst herausfinden muss, wer sie ist. Hierzu dient ihr auch das andere Mädchen, denn in der Abgrenzung ist es einfacher, die eigene Identität zu festigen. Aber auch JasminCelineJustine kann die Sympathien der Leserin nicht gewinnen – allzu sehr lässt sie mit sich geschehen, was eigentlich nicht geschehen dürfte. So breitet sich bei der Lektüre zunehmend Gleichgültigkeit aus, und genau hier wird der Roman interessant. Denn es kann doch nicht sein, dass alles, was diesen Mädchen geschieht, so gefühllos zur Kenntnis genommen wird: Es bleiben Ratlosigkeit, Verwirrung, Genervtsein, „wenn auch auf hohem Niveau“, wie Adam Soboszinsky in der „Zeit“ vermerkte. Denn Kränzler findet gekonnt die richtige Sprache für diesen eigenartigen Adoleszenzroman, hin und her wechselnd zwischen Jungmädchenromantik und harter Jugendlichenrealität von heute, „zwischen Keun und Jelinek“ (so Ina Hartwig in der „Süddeutschen Zeitung“). Die Autorin schafft keine Identifikationsfiguren. Fast unerträglich zu lesen ist etwa, wenn sich LotteLuiseLuzia von der anderen abwendet, als jene dringend ihre Unterstützung bräuchte, weil sie von den männlichen Familienmitgliedern missbraucht wird. Aber LotteLuiseLuzia will das gar nicht wissen, sie hält die Konfrontation mit dieser Realität nicht aus und wendet sich einfach ab – das Leiden der „Freundin“, die längst keine mehr ist, wenn sie je eine war, darf sie nicht berühren, das würde ihre Lebensrealität infrage stellen und letztlich auch zerstören.

Lisa Kränzler, geboren 1983, legt mit „Nachhinein“ nach „Export A“ (2012) ihren zweiten Roman vor – „Nachhinein“ wurde bereits vor Erscheinen für den Preis der Leipziger Buchmesse 2013 nominiert. Die junge Autorin ist auch bildende Künstlerin, sie studierte Malerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe und war 2010/11 Meisterschülerin bei Prof. Tatjana Doll. Schreiben und Malen finde beides und parallel in ihrem Atelier statt, wie sie in einem Interview in „Volltext“ 2/2013 ausführt, und auf die Frage, warum sie sich nicht in ihr 10- oder 13-jähriges Ich zurückzuversetzen versuche, gibt sie die interessante Antwort: „Ich arbeite mit dem, was ich sehe, wenn ich mich in die jeweilige Zeit zurückversetze, reaktiviere ich vergangene Vorstellungen, sprich: Bilder. Die über die Sinne aufgenommenen Rohstoffe (das Gesehene, Ertastete, Gehörte usw.), aus denen diese Vorstellungen ursprünglich entstanden sind, kann ich nicht reproduzieren. Genauso wenig kann ich die körperlichen Veränderungen, die seit meinem 10. Lebensjahr erfolgt sind, rückgängig machen, was bedeutet, dass mir eine Reproduktion der Rohstoffe nichts nutzen würde, da ich dies nicht mehr wie eine 10-Jährige wahrnehmen und also auch nicht in die Vorstellungen und Gedanken einer 10-Jährigen verwandeln könnte. Anders ausgedrückt: Ich halte eine tatsächliche Zurückversetzung für unmöglich und den Versuch für Zeitverschwendung.“

Titelbild

Lisa Kränzler: Nachhinein. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2013.
269 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783943167160

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