Fundgrube auf immer verlorener Schätze
Zu den ersten beiden Tagebuch-Bänden Hedwig Pringsheims
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBekannte Frauen sind nicht selten weniger um ihrer selbst willen bekannt, sondern vielmehr als nahe Verwandte einer namhaften Persönlichkeit, von deren Popularität ein wenig auf sie abfärbt. Man kennt das Phänomen etwa aus diversen Container-Formaten von Privatsendern, die auch schon mal Beziehungsbekannte als ‚Promi‘ einziehen lassen. Nicht, dass diese Frauen je etwas geleistet hätten, sie sind als Zielscheiben mieser Witze und zotiger Anzüglichkeiten gedacht, um zum Gaudium des Publikums erniedrigt und schließlich abgeschossen werden. Nun gibt es aber – gerade in der Historie – auch etliche Frauen, die zwar als „Mutter/Tochter/Schwester-von“ bekannt sind, sehr wohl aber auch um ihrer selbst willen Beachtung verdient haben. So etwa Hedwig Pringsheim, die dem literarisch interessierten Bildungsbürgertum als Schwiegermutter Thomas Manns geläufig ist, während FeministInnen von ihr als Tochter Hedwig Dohms gehört haben dürften. Dabei besaß sie selbst ein durchaus veritables schriftstellerisches Talent, das sie allerdings bedauerlicherweise eher brachliegen ließ, denn fruchtbar machte. Mehr als einige kurze Texte hat sie zeitlebens nicht veröffentlicht. Dafür aber hat sie über Jahrzehnte hinweg die Seiten ihrer Tagebücher gefüllt, in denen dieses literarische Talent allerdings kaum einmal hervorleuchtet.
Wäre sie nicht als Tochter und vor allem als Schwiegermutter bekannt, wäre dem Wallstein Verlag denn wohl auch kaum eingefallen, ihre umfangreichen Tagebücher zu publizieren. So aber sind nun deren ersten beiden Bände erschienen. Sie enthalten die Aufzeichnungen aus den Jahren 1885-1891 (Band 1) und 1892-1897 (Band 2), stammen also noch aus der ‚vormannschen‘ Zeit.
Zu Beginn des Jahres 1885 – mit ihm setzen die Tagebücher ein – hatte die von der Herausgeberin Cristina Herbst als „märchenhaft schön“ charakterisierte älteste Tochter Hedwig Dohms das Elternhaus bereits seit längerem verlassen und lebte mit ihrem Mann Alfred Pringsheim sowie den gemeinsamen Kindern in München. Das Paar hat gerade das – wie der Volksmund sagt – verflixte siebte Jahr ihrer Ehe überstanden. Von eventuellen ehelichen Problemen aber verraten die Tagebücher der damals 29-Jährigen weiter nichts. Allenfalls vermerkt sie einmal lapidar, dass sie „mit Alfred gezankt“ hat, oder kaum aufschlussreicher: „Mit Alfr., der Erik [einen der Söhne] brutalisiert, gezankt“. Kritik an ihrem Gatten findet überhaupt nur sehr selten Eingang in die Tagebücher. Es muss sie also schon etwas sehr gewurmt haben, wenn sie im Juni 1885 notiert „Alfred immer mehr Monomane“.
Dabei vergeht nicht ein Tag, an dem Pringsheim nicht zu ihnen greift und einige Zeilen einträgt. Meist aber belässt sie es tatsächlich bei kurzen, fast stichwortartigen Notizen. Sie handeln von Alltäglichem, nicht selten findet auch das Wetter Erwähnung. Politik und Zeitgeschehen spielen hingegen kaum eine auch nur marginal zu nennende Rolle. Auch über den illustren FreundInnen- und Bekanntenkreis, der manchen bekannten Namen zu bieten hat, erfährt man eher wenig, jedenfalls keinerlei Intimitäten. Fast möchte man sagen, dass sich schwerlich ein diskreteres Tagebuch vorstellen lässt als das Pringsheims. Nur höchst selten einmal durchbricht sie – in Maßen – diese Diskretion: „Dr. May liebt schon wieder eine andre, die er mir auch gestand.“ Auch vergisst sie Jahre später nicht zu vermerken, die „Sektion“ des Dienstmädchens habe ergeben, dass die junge Frau, die wegen ihrer unglücklichen, da unerfüllten Liebe zu Alfred Pringsheim einen kaum verschleierten Suizid begangen hatte, noch „Jungfrau“ gewesen war. Überhaupt handelt es sich bei diesem Eintrag um einen der ganz wenigen, in denen Pringsheim etwas ausführlicher wird und sogar von ihren Gefühlen schreibt. Ihr Herz hat sie dem Tagebuch nun allerdings wahrlich weder hier noch an anderer Stelle ausgeschüttet. LeserInnen, die gerne die Schlüssellochperspektive einnehmen, werden von der Lektüre daher zweifellos enttäuscht sein.
Pringsheims erste detailliertere Schilderung gilt nicht etwa einem besonders eindrücklichen eigenen Erlebnis, sondern vielmehr einem zufälligen Tischnachbarn in einem Hotel, der ihr den „merkwürdigen Roman seiner Brautschaft“ erzählte. Als Kind und Heranwachsende pflegte sie ihr Tagebuch noch anders zu führen, wie ihre Aufzeichnungen aus den Jahren 1868-73 zeigen, die in den Anhang des zweiten Bandes aufgenommen wurden.
Zwar verzeichnet Pringsheim in den Tagebüchern der 1880er- und 1890er-Jahren, soweit aus den vorliegenden Bänden ersichtlich ist, mit steter Regelmäßigkeit die häufigen Besuche, Gegenbesuche, Bälle und dergleichen. Doch beschränkt sie sich hierbei wiederum auf einige karge Notizen. Auch hält sie kaum einmal fest, worüber auf den Gesellschaften bei Mahlzeiten oder Spaziergängen gesprochen wurde.
Ob sie eine Gesellschaft im eigenen Haus oder bei Anderen gelungen findet oder langweilig, erfährt man allerdings des öfteren. So fällt etwa eine „Abend Gesellschaft Dr. Walthers, ganz nett“ aus, allerdings nur „bis nach dem souper, wo absolute Trennung der Geschlechter“ herrschte. Ein „Diner bei Heyse“ wiederum findet sie „mehr gemütlich als interessant“. Geben sie und ihr Mann einmal selbst einen großen Ball, notiert sie die Namen der Anwesenden und addiert sie nicht ohne Stolz auf „110 Personen im ganzen“ – obwohl es „natürlich zahlreiche Absagen“ gegeben habe. „Ein schönes Fest“ sei es gewesen, „bei dem nur ich mich nicht besonders amüsirt, vielleicht weil zu abgespannt. Auch waren mir alle Gäste so gleichgültig.“
Geradezu penibel hält Pringsheim ihre zahlreichen Lektüren fest. Meist liest sie abends im Bett, wie sie öfter notiert. Einmal erklärt sie „Abends, da Alfr. aus, im Bett gelesen.“, ein andermal lakonisch: „Abend Alf. Allotria, im Bett geschmöckert.“ Die regelmäßige Bettlektüre – zumal angesichts deren Begründung im ersten der beiden Zitate – könnte darauf hindeuten, dass er schon damals regelmäßig ohne sie ausging und sie sich vernachlässigt fühlte. Mit dem „Allotria“ ist im Übrigen ein Münchner Künstlerverein gemeint, der für seine rauschenden Feste bekannt war.
Bewertungen oder gar ausführlichere Bemerkungen zum Gelesenen finden sich selten. Kommentiert sie aber einmal ein Buch, ein Theaterstück oder ein Konzert, hält sie mit Lob und ebenso dezidierter Kritik nicht hinter dem Berg. Wilhelm Raabes „Schüderump“ etwa hat ihr „unendlich gefallen“. Die „Florentiner Novellen“ von Isolde Kurz haben ihr hingegen „nicht besonders gefallen“. „Anna Karenina“ wiederum findet sie zwar „sehr interessant, doch als Roman, uneinheitlich und zerfaren, etwas ermüdend“. Henrik Ibsens „Gespenster“ sind „schaurig ergreifend“, sein „Rosmersholm“ ist zwar „sehr interessant, aber unerquicklich u. auch unklar.“ Als Dramatiker sei Ibsen dennoch „genial“, wie sie anlässlich einer Aufführung von „Stützen der Gesellschaft“ notiert. Bertha von Suttners Roman „An der Riviera“ wiederum findet sie „fade“ und über Alfred Doves zweibändigen historischen Roman „Caracosa“ notiert sie zwar mehrfach, er sei „entsetzlich“ oder gar „überaus entsetzlich“, liest ihn aber doch zu Ende.
Im Theater amüsiert sie sich über eine „lustige übermütige Posse, in der man herzlich lacht u. weiter hat es keinen Zweck. Doch das genügt.“ Ihre Ablehnung kann jedoch auch hier heftig ausfallen, wie im Falle von Hermann Fabers Stück „Der freie Wille“, das „ein Machwerk“ sei, „in dem mit Gesinnungstüchtigkeit Krebsschäden aufgedeckt werden und der Autor von einem moralischen Publikum dreimal gerufen wird“. Karl Bleibtreus „Napoleon“ verwirft sie gar als „überhaupt kein Stück, sondern eine Unverschämtheit – ein dramatisierter Geschichtsleitfaden, der aber durch Possarts Deklamirerei, dem lieben Publikum teilweise gut gefiel“, und der neue „Prachtbau“ des „Theater des Westens“ sei gar „durch das elende Stück ‚Jung gefreit‘ von W. Kirchbach warhaft geschändet“ worden.
Während der 1880er-Jahre bleibt Pringsheim von der damals hochaufschäumenden Spiritismus-Welle zwar nicht unberührt, wird jedoch keineswegs von ihr erfasst. So hält sie den Besuch einer „Spiritisten-Gesellschaft“ fest, bei der „außer uns“, womit offenbar sie und ihr Mann gemeint sind, „lauter Eingeweihte“ anwesend waren. „War nur mäßig nett“, notiert sie, „in den Ecken wurde viel geflüstert. Doch ereignete sich nichts. Tische u. Lampen fest, kein geringster ‚Spirit‘.“ Es dauert nicht lange und sie schlägt einen noch spöttischeren Ton gegenüber solchen spiritistischen Sitzungen an. Denn es wird ihr verhießen, dass ihr „Schutzgeist“ kein anderer als Heinrich Heine sei. Alles sei „mit heiligem Ernst verhandelt“ worden. Dabei hatte Pringsheim die „ausgiebigste Geisterklopferei“ schnell als erbärmlichen Schwindel erkannt und sich „schaudernd unter lauter Narren“ gefühlt. Den anwesenden Parapsychologen Albert Schrenck von Notzing bedauert sie mit den Worten. „Der arme dumme Schrenk [sic!] mit seinen endlosen Fragen jedenfalls gläubig.“
Fotografieren lässt sie sich und die Ihren in dem zu seiner Zeit nicht nur in Schwabing bekannten Atelier Elvira, das Mitte der 1880er-Jahre von Anita Augspurg und ihrer damaligen Partnerin Sophia Goudstikker betrieben wurde. Später wird Pringsheim die Feministin Augspurg nicht nur dort, sondern auch auf so mancher Veranstaltung der Frauenbewegung wiedersehen, deren radikaler Flügel inzwischen von Augspurg geprägt wird. Mit der sozialdemokratischen Feministin Lilly Braun, der mit der Frauenbewegung sympathisierenden Helene Böhlau und vor allem mit der „sehr netten“, der Frauenbewegung ebenfalls nahe stehenden Autorin des Romans „Das Tränenhaus“, Gabriele Reuter wird Pringsheim in den 1890er-Jahren engeren Kontakt treten. Dass sie Braun „sympatisch“ findet, hindert Pringsheim nicht daran, einen ihrer Vorträge „über die Frauenfrage in der Ethik“ als zwar „klug, verständig, hübsch vorgetragen“ zu loben, nur „neues oder tiefes“ habe er nicht zu bieten gehabt. Auch männliche Autoren zählten bereits zu dieser Zeit zu ihrem Bekannten- und FreundInnenkreis: Maximilian Harden etwa, Paul Heyse und Ernst von Wolzogen.
Spätestens seit 1885 ist die Familie bei Wilhelm Fließ in Behandlung, der durch seine Zusammenarbeit mit Sigmund Freud einige Berühmtheit erlangen sollte. Er diagnostiziert ein „Leiden“ Alfred Pringsheims als Neurose, „wogegen nichts zu tun“ sei. Sie selbst habe eine „Erschöpfungs-Neurose“, der hingegen mit einer „Mast-Kur“ beizukommen sei. Einem der Kinder operiert der HNO-Arzt die Nase, einem anderen entfernt er „eine Mandel“.
Anfang der 1890er-Jahre ist die Tagebuchführerin bei „Pfarrer Kneipp“ in Behandlung, dessen berühmter Kur sie zwar recht skeptisch gegenübersteht, denn „bei der Untersuchung fragt [er] wenig und verordnet egal Bäder u. Güsse“. Doch hält sie sich an die Verordnungen des „riesig geschickten talentvollen Volksredners“. Die „rasenden Kopfschmerzen“, an denen sie bald zu leiden beginnt, seien „wol eine woltätige Folge der ‚Kneipp-Kur‘“.
Eine der für Hedwig Pringsheim wichtigsten Bezugspersonen war zweifellos ihre Mutter Hedwig Dohm, mit der sie in reger Korrespondenz stand. Doch da der Briefwechsel von Hedwig Pringsheim vernichtet wurde, fehlt der Dohm-Forschung eine der wertvollsten Quellen zum Leben der berühmten Feministin. Dies ist umso bedauerlicher, als Pringsheim im Tagebuch fast täglich notiert, dass sie einen Brief gewechselt haben, ohne allerdings je mehr als allenfalls mal ein knappes Wort über den Inhalt zu verlieren.
Hedwig Dohm verfasste in dem durch die beiden vorliegenden Tagebuch-Bände abgedeckten Zeitraum etliche ihrer mit feiner, aber treffsicherer Ironie verfassten Polemiken, einige Theaterstücke und Novellen sowie nicht zuletzt ihren Roman „Sibilla Dalmar“, der im Bekanntenkreis ihrer Tochter für „lebhaft-erregte Debatten“, wenn nicht gar für einen „Skandal“ sorgte. Wie aus dem Tagebuch hervorgeht, hat die feministische Autorin zahlreiche, vermutlich sogar alle ihre Manuskripte vor der Publikation ihrer Tochter zur kritischen Lektüre geschickt. Denn ein ums andere Mal erwähnt das Tagebuch den Erhalt eines solchen Manuskriptes oder dass sie einen „Brief mit Novellenkritik an Mimchen“ – so ihr Kosename für ihre Mutter – schickte. Mehr aber, als dass sie am „Abend Mimchens Novelle ausgelesen“ hat, die zwar „interessant ist, aber noch viele Fehler“ habe, erfährt man nicht. Im Gegenteil, meist verzeichnet die Tagebuch-Schreiberin nur schnöde „Abends Mimchens Novelle nochmals kritisch gelesen“ oder ähnliches. Dann und wann wird allerdings auch der Titel einer dieser Novellen oder Essays genannt. Dies ist von ganz besonderem Interesse, weil einige dieser Texte wie etwa der „nicht ganz gelungener Einakter ‚Das Frl. Don Quichotte‘“, das von Pringsheim „abgesehen von Kleinigkeiten“ für „gut befundene“ Schauspiel „Scirocco“ oder der „1 Akt“ des Stückes „Wehe dem, der nicht!“ der Dohm-Forschung bislang unbekannt waren. So findet manches unveröffentlichte, unbekannte und wohl auch verlorene Manuskript Erwähnung, von dessen Existenz man bislang nichts ahnte, nun aber wenigstens den Titel und gelegentlich die Textsorte kennt. Schon alleine darum ist das Tagebuch eine wahre Fundgrube für die Hedwig-Dohm-Forschung.
Besondere Relevanz für die Dohm-Forschung haben hier die Jahre 1896 und 1897. Denn es ist dies die Zeit des „Dalmar-Skandals“. Einige Bekannte Hedwig Pringsheims, die sich in Figuren des Buches wiederzuerkennen glaubten und mit der Darstellung oder Charakterisierung ihrer Person nicht zufrieden waren, brachen den Kontakt zur Familie Pringsheim ab. Natürlich hatte Hedwig Pringsheim das Manuskript des Romans vor der Veröffentlichung ebenso gelesen, wie alle Texte, die ihre Mutter ihr zusandte. So notiert sie etwa am 25.7.1894: „Das Manuskript von Mims neuem Roman gelesen“ und fünf Tage darauf: „Brief an Mim, ihr Manuskript besprechend“. Entweder ist Pringsheim bei der Lektüre entgangen, dass einige ihrer Bekannte porträtiert wurden (wenn es sich denn tatsächlich so verhält) oder sie fand es unproblematisch. Die Herausgeberin Cristina Herbst konstatiert jedenfalls, dass Hedwig Pringsheim „bei wiederholtem Lesen des Manuskriptes nicht aufgefallen [ist], dass Mim vieles, was sie ihr in ihren täglichen Briefen von der Münchner Gesellschaft berichtete, im Roman verwandt“. Wäre es aber nicht denkbar, dass es ihr nicht auffiel, weil Dohm entgegen der Annahme von Herbst zwar auf die Briefe zurückgriff, sie aber so stark literarisierte und so sehr verfremdete, dass es ihrer Tochter eben kaum auffallen konnte? Und nebenbei bemerkt befremdet es doch, dass Herbst sich erlaubt, die führende Feministin, von deren schriftstellerischen Fertigkeiten sie offensichtlich wenig hält, bei dem Kosenamen zu nennen, den ihr deren Tochter gab. Auch in der Geschichte der Frauenbewegung ist Herbst nicht ganz firm. So erklärt sie, Gabriele Reuter, Ellen Key und Lou Andreas-Salomé hätten „in der Frauenbewegung Rang und Namen“ gehabt. Nun war Reuter zwar eine bekannte Schriftstellerin und sympathisierte mit der Frauenbewegung, sonderlich aktiv war sie in ihr aber nicht. Key und Andreas-Salomé wiederum gelten und galten schon damals nicht wenigen – darunter etwa Hedwig Dohm – sogar überhaupt nicht als Feministinnen, sondern ganz im Gegenteil als Antifeministinnen.
Jedenfalls wurde Hedwig Pringsheim von der teilweise vehement ablehnenden Reaktion in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis sehr überrascht. „Natürlich ist auch Mim über den Wirbel entsetzt, den sie – ungewollt – angerichtet hat“ behauptet die Herausgeberin, ohne dies allerdings belegen zu können. Dohms von der Tochter im Tagebuch erwähntes, jedoch verlorengegangenes Manuskript „über das Recht lebende Modelle zu benutzen“ wäre ein dürftiges Indiz.
Hedwig Pringsheim selbst war aber zweifellos tatsächlich erschüttert. Insbesondere die in einem endgültigen Bruch mündende Auseinandersetzung mit der bis dahin befreundeten Familie Brentano bereiteten ihr manche „schlaflose Nacht“. Die ebenfalls mit Pringsheim befreundete Sängerin Emilie Kaula sprach mit ihr über die Causa Dalmar hingegen „ganz einfach, natürlich u. selbstverständlich“ und der Arzt und Universitäts-Professor Ernst Schweninger zeigt sich während eines langen Besuchs „sehr freundschaftlich in Sache Sibilla Dalmar“. Ihr wurden sogar „absolut wolwollende u. bewundernde“ Reaktionen auf den Roman zuteil, wie etwa durch die Feministin Minna Cauer. Auch wurde die eine oder andere Verteidigungsschrift publiziert. Korfiz Holm etwa veröffentlichte im „Simplicissimus“ unter dem Titel „Das Wespennest“ eine satirische Anspielung und Ernst von Wolzogen, der später selbst mit einem Schlüsselroman über die Münchner Boheme hervortrat, lobte das Buch im „Magazin für Literatur“ als „äußerst geistvoll“ und erklärte es nicht nur zum „unzweifelhaften […] Recht“ von SchriftstellerInnen realexistierende Personen in den literarischen Figuren „nach der Natur zu schildern“, sondern rühmte es als „Beweis seines künstlerischen Könnens“, wenn sich „Menschen durch sie getroffen fühlen“. Dankenswerterweise hat die Herausgeberin beide Texte in den Anhang des zweiten Bandes aufgenommen.
Trotz der auch freundlichen Reaktionen zeigt sich Hedwig Pringsheim 1897 erleichtert, als der „Sibylla-[sic!]Dalmar-Skandal“ durch „den ‚Fall Reuter‘“ abgelöst und verdrängt wurde. Die Autorin des Erfolgsromans „Aus guter Familie“ hatte sich unmittelbar vor der geplanten Hochzeit von ihrem Bräutigam getrennt, München auf einige Monate mit unbekanntem Ziel verlassen und war Ende 1897 mit einem „kleinen Kind“ zurückgekehrt.
Die Frage, ob Dohms Roman FreundInnen und Bekannte ihrer Tochter porträtiert, taugt schon lange nicht mehr zum Skandal. Gestritten wird heute dafür umso heftiger über die Frage, ob und in welchem Maße sie die Briefe ihrer Tochter für den Roman heranzog, kurz, ob sie bei ihr abgeschrieben hat. Isabel Rohner und Nikola Müller etwa konstatieren im Vorwort des von ihnen als erstem Band der „Edition Hedwig Dohm“ herausgegebenen Romans, dass es an „Rufmord“ grenze, wenn Dohm als „schlechte Schriftstellerin“ hingestellt werde, die „des Plagiats an ihrer Tochter schuldig“ sei. Denn die Briefe seien nun mal von Hedwig Pringsheim vernichtet worden und stünden so zu einem Vergleich überhaupt nicht zur Verfügung.
Vermutlich hat Herbst solche Stellungnahmen im Sinn, wenn sie im Vorwort des zweiten Tagebuch-Bandes erklärt „manche Autoren versteigen sich sogar zu wütenden Protesten, daß man überhaupt fähig ist, der großen Schriftstellerin derartige Anleihen zu unterstellen“, und bringt mit dieser emotionalisierten Formulierung ihre eigene Wut zu Papier. Herbst treibt die von Rohner und Müller monierten Vorwürfe denn auch geradezu auf die Spitze. Dass der Briefwechsel zwischen Mutter und Tochter nicht als Beleg herangezogen werden kann, ficht sie wenig an. Denn, wie sie meint, „genügt eigentlich ein Stilvergleich. Es gibt keinen Text von Hedwig Dohm, der diesen leichten, ironischen Ton hat, der so reich ist an Schattierungen und Nuancen, an Anspielungen und Assoziationen jeglicher Art“. Da scheint Herbst Dohms gerade für diese Eigenschaften bekanntes und gerühmtes Gesamtwerk, vor allem ihre feministischen Polemiken, allerdings schlecht zu kennen, wofür etwa auch spricht, dass sie den Lesenden in einer Fußnote fälschlicherweise mitteilt, die unter dem Titel „Der Frauen Natur und Recht“ zusammengestellte Sammlung einiger Abhandlungen Dohms enthalte Novellen. Ein wenig merkwürdig nimmt sich auch aus, dass sie einerseits implizit unterstellt, Dohm habe die Briefe ihrer Tochter mehr oder weniger abgeschrieben, andererseits aber der Schriftstellerin anlastet, dass sie „in ihrem Roman wirklich nicht zimperlich mit der sogenannten guten Gesellschaft um[geht]“.
Herbst kann nun allerdings trotz alledem nachweisen, dass sich Hedwig Dohm ausgiebig bei ihrer Tochter bedient hat. Zwar ist der Briefwechsel vernichtet, nicht so jedoch ein Tagebuch, das die spätere Hedwig Pringsheim in der Adoleszenz schrieb. Ein Vergleich dieses Tagebuchs mit den Tagebuch-Passagen des Romans ihrer Mutter zeigt tatsächlich, „wie Hedwig Dohm mit ganz wenigen Retuschen den Text des frühen Tagebuchs ihrer Tochter Hedwig aus den Jahren 1868-1873 übernommen hat“. Und eben darum wurde die Tagebuchaufzeichnungen der Heranwachsenden von Herbst in den Anhang des zweiten Bandes aufgenommen. Nun lässt sich aus Dohms häufigen und nicht selten weitgehend wörtlichen Übernahmen aus dem Tagebuch ihrer Tochter zwar nicht zwingend schließen, „daß sie“ wie Herbst vermutet, „zahllose Stellen aus den Briefen Hedwig Pringsheims ebenso sorglos übertrug“; gar so unwahrscheinlich erscheint es nun aber nicht mehr.
Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass Herbsts ausführliche Einleitungen in die beiden Bände einen informativen Abriss über die in den Tagebucheinträgen festgehaltenen Lebensjahre Hedwig Pringsheims bieten. Besonders hilfreich aber ist, dass sie Pringsheims Freunde und Verwandte kurz vorstellt und charakterisiert sowie deren Beziehung zur Tagebuchschreiberin darlegt.
Die beiden bereits vorliegenden Tagebuch-Bände sind nicht nur für die künftige Hedwig-Dohm-Forschung ebenso unverzichtbar, wie die weiteren es vermutlich für die Thomas-Mann-Forschung sein werden, sondern durchaus auch um der Tagebuchschreiberin selbst willen zur Hand zu nehmen.
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