Auf dem Weg zum Aufbruch
Urs Widmer hält unter dem Titel „Reise an den Rand des Universums“ Rückschau auf seine ersten dreißig Lebensjahre
Von Beat Mazenauer
Besprochene Bücher / Literaturhinweise1968 erschien im Zürcher Diogenes Verlag die Erzählung „Alois“ des damals noch unbekannten Jungautors Urs Widmer. „… dass WIR EUCH WEDER SEHEN NOCH HÖREN WERDEN IN ZUKUNFT“, schließt sie in pathetischer Großschrift und mit einer ironischen Träne des Autors. Doch ungeachtet dieser Absage trat Urs Widmer damals eine Erfolg verheißende Zukunft an, die ihm viele Zuhörer und Leser einbrachte. Rund drei Dutzend Bücher hat er publiziert sowie eine Vielzahl von Theaterstücken und Hörspielen. 45 Jahre sind seit diesem gesellschaftspolitischen wie persönlichen Aufbruch vergangen. In seinem jüngsten Buch, „Reise an den Rand des Universums“, erinnert sich Widmer daran.
„Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie. Denn eine Autobiographie ist das letzte Buch.“ Mit dieser melancholischen Einsicht wagte sich Widmer an die Aufgabe des Erinnerns. Die Rückschau mahnt daran, dass sich inzwischen viel Zukunft in Vergangenheit verwandelt hat. Der Schriftsteller kennt jedoch einen Dreh, mit dem er sich aus dieser Mangel zu befreien vermag. „Du machst“, beschreibt ihn Widmer, „hoffentlich rechtzeitig noch, aus deiner Not eine Tugend. Tust das Unabänderliche mit Lust und erfindest das Leben mit genau dem, was du erinnerst.“ Denn auch aus der Erinnerung kann, wie bei jeder Evokation der Fantasie, „nur ein Roman werden“.
Die Eltern, diese „beiden Portalfiguren meines Lebens“ (wie Peter Weiss sie nannte), haben auf Urs Widmer nachhaltigen Eindruck gemacht, so sehr, dass er ihnen vor Jahren schon zwei eindrückliche Bücher widmete: „Der Geliebte der Mutter“ (2000) und „Das Buch des Vaters“ (2004). In beiden hielt er sich als Mitwisser und Fantast sorgsam verborgen. In der „Reise an den Rand des Universums“ nun wird der Autor als ein Junge sichtbar, der sich selbst die Rolle des Vermittlers zwischen Mutter und Vater auferlegt hatte. Er war überzeugt, dass die Familie auseinanderfallen würde, wenn er den Familienhaushalt verließe. Dabei litt er selbst unter der Abwesenheit des permanent die Schreibmaschine traktierenden Vaters (des Übersetzers Walter Widmer) und unter dem emotionalen Wankelmut seiner depressiven Mutter. „Ich weiß eigentlich von nichts, was sie gemeinsam hatten. Sie waren Papa und Mama. Ich liebte und brauchte beide. Das vielleicht.“
Urs Widmers Autobiografie erzählt nicht das ganze Leben, sie erfindet lediglich ein paar bemerkenswerte und im Gedächtnis haften gebliebene Kapitel neu. Das beginnt mit der Zeugung, bei der der Autor zweifelsfrei mit anwesend war, allerdings in einem Bewusstseinszustand, der kaum für Objektivtät bürgt. Er muss sich aufs literarische Mutmaßen verlassen, bevor er anschließend versucht, die alte Welt nochmals mit Kinderaugen zu sehen. „Wie sehr sich meine Eltern Mühe gaben, uns Kinder glücklich zu sehen – und selber glücklich zu sein –, und wie sehr misslang ihnen das.“ Dieses starke Motiv erweitert Widmer durch Episoden aus dem Leben eines wilden, vorlauten und zugleich ängstlichen Buben sowie eines unternehmungslustigen, doch auch schüchternen jungen Mannes, der die Freiheit mehr und mehr außerhalb der familiären und heimatlichen Grenzen suchte.
Widmer erzählt von Reisen und Bekanntschaften in der Fremde, namentlich einem kleinen Reigen von mehr oder weniger glücklichen Affären in Paris, die gekrönt wurden vom coup de foudre angesichts von May, deren Hand er nie mehr loslassen sollte. Er erzählt farbig, anschaulich und lebhaft, ohne dass er in Versuchung gerät, die Anekdoten und Geschichten in schnelle Pointen aufzulösen. Das Werk des Erinnerns ist Arbeit. Dabei gelingen ihm bemerkenswerte Schilderungen, etwa von den Weihnachtsfeiern zuhause; oder respektvoll präzise Porträts von Menschen wie beispielsweise dem Professor Edgar Bonjour, der auf wenigen Seiten mit Witz treffend festgehalten ist. Widmer hält sich nur lose an eine strenge Chronologie, indem er Stoffe und Themen bündelt. So bleiben andererseits auch Leerstellen stehen.
Die lebhafte Erzählung lässt hin und wieder die von Widmer gewohnte sprachliche Eleganz vermissen. Dies äußert sich zum einen darin, dass sich die Erzählperspektive als wankelmütig erweist, schwankend zwischen kindlicher Optik und nachträglicher Konstruktion wie gleich zu Beginn. Zum anderen neigt er immer wieder mal zu unpassend saloppen Wendungen oder unnötigen Hinzufügungen in Klammern. Die Kindheitsjahre zum Beispiel illustriert er mit kleinen Dialektübersetzungen, die mitunter Sinn ergeben: „Korridor (‚Gang‘)“ – mitunter aber bloße Wiederholung sind: „Wohnzimmer (‚Wohnzimmer‘)“. Auch der Gestus der rhetorischen Hinwendung an die Lesenden wirkt hin und wieder seltsam. „Ich hatte also – das habe ich, glaub ich, schon gesagt“ – ja: nämlich gerade eben ein paar Zeilen weiter oben.
Stilistisch überzeugt die „Reise an den Rand des Universums“ derart nicht restlos. Andererseits enthält sich Widmer jeder rhetorischen Übertreibung, denn „die Gattung selber, die Autobiographie, scheint mir jede große Sprachgeste zu verbieten“, auch die der sprühenden lustvollen Zuspitzung.
Gerade wegen dieser Zurückhaltung vielleicht wird unterschwellig spürbar, wie die familiäre Situation den jungen Autor belastet, so dass sich Ängste und Panikzustände – beispielsweise in Form von kleinen Ticks – in sein Leben einschlichen. Darüber verliert Widmer keine großen Worte, denn unterkriegen lassen will er sich nicht. Die Lust auf die Zukunft obsiegt immer. Nun denn: „erzählen wir sie uns noch einmal“.
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