Der Südpol der negativen Dialektik?

Martin Mittelmeier folgt den Spuren Theodor W. Adornos in Neapel

Von Jörg SpäterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Später

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mitte der 1920er-Jahre war der Golf von Neapel ein beliebtes Reiseziel von Revolutionären, Nonkonformisten und Projektemachern aller Couleur. Für manche war die Gegend ein sonnenbeschienener Sehnsuchtsort, ein Gegenentwurf zur kalten nordischen Zivilisation; andere kamen dort einfach finanziell besser über die Runden als im inflationsgeschüttelten Deutschland; für einige wiederum war das Reisen eine Lebensform, um durch das Er-Fahren von Ländern Erfahrung zu sammeln. Neapel, Capri und die Amalfiküste zogen vor allem die Weimarer Kulturlinke an, die zwar keinen Verein solchen Namens hatte, die es aber doch mittels Freundschaften und Feindschaften irgendwie gab.

Ernst Bloch war dort, der Berufsreisende aus Neigung, der die Länder bereits vor 1933 wechselte wie andere ihre Hemden. Walter Benjamin war dort und Bertolt Brecht, über den Benjamin Asja Lacis kennenlernte, die lettische bolschewistische Schauspielerin, in die er sich verliebte und von der er sich fragen lassen musste, wozu seine Studien über barocke Dinge eigentlich gut seien. Alfred Sohn-Rethel, der Industriellensohn, hatte sich gar auf Capri niedergelassen, um seine Marx-Studien zu betreiben. Und im Frühherbst 1925 bereiste der junge Theodor Wiesengrund mit seinem Mentor Siegfried Kracauer die Region, ein Paar in der Krise, das sich ebenso sehr mit sich selbst beschäftigen musste wie mit den landschaftlichen Eindrücken und den vielen Büchern, die zweifellos zum Reisegepäck gehörten.

„Adorno in Neapel“ – so heißt das neue Buch von Martin Mittelmeier, bekannt geworden als Lektor von Luchterhand, inzwischen bei Eichborn, auf den Spuren dieser Reisegesellschaft, insbesondere des jungen Wiesengrund. Wozu ein weiteres Buch über Adorno, fragt er zu Beginn, denn es gebe doch bereits so viele. Noch dazu eines über Neapel, das in Adornos Vita eine eher periphere Rolle zu spielen scheint. Man könnte weiterfragen: Warum über „Adorno in Neapel“, und nicht über Bloch, Benjamin und Kracauer in Neapel, die ihre Reiseerfahrungen wenigstens in Texten münden ließen? Mittelmeier legitimiert sein Buch mit der These, dass Adorno am Vesuv seine Philosophie fand: Die Landschaft habe sich in seinem ‚theoretischen Nervensystem‘ ausgebreitet, Geografie habe sich somit in Philosophie verwandelt.

Das wäre nicht nötig gewesen. Die Neapolitaner Erfahrungen sind in der Tat bedeutend genug, dass es einer solch originellen Interpretationen nicht bedurft hätte. Zumal wenn das Buch, wie man es von einem Büchermacher auch erwarten darf, konzentriert und wohl komponiert geschrieben ist. Aber der Autor macht es leider nicht unterhalb der Entdeckung des Südpols in Adornos Philosophie. Den erkennt er im Begriff der Konstellation, „das Sich-Fügen von kaputten, porösen Dingen zu etwas erstaunlich Neuem“, und zwar in einer dialektischen Weise. Den Begriff der Porosität wiederum finde man in Benjamins (zusammen mit Lacis) und Blochs Neapeltexten. Die Neapolitaner Konstellation sei dann in der kulturpessimistischen „Dialektik der Aufklärung“ (1943) usurpiert worden und verloren gegangen, was in Kracauers mythischer Phantasmagorie von Positano, dem Felsenort an der Amalfiküste, schon während der Reise durchgespielt worden sei. Aber nach 1945 habe sie Adorno dann wiedergefunden und zur Matrix seiner negativen Dialektik gemacht.

Die Beweisführung ist eher gezwungen als zwingend. Der Link zwischen Benjamins und Blochs Porosität und Adornos Konstellation wird nur behauptet, nicht begründet. In Kracauers Positanotext wird zwar ein Weiterleben des Mythos trotz aller und inmitten der Zivilisation ausgemalt, aber kein dialektisches Verhältnis herausgestellt. Und Adornos Philosophie hat zwar in der Tat einen antisystematischen Impuls, der in systematischer Philosophie verloren gehen wird, aber dieses Schicksal wurde nicht am Vesuv orakelt.

Das Verhältnis von Naturerlebnis und Kulturprodukt wirkt oft eigentümlich. „Wir wohnen bei: der allmählichen Modellierung einer Theorie, in deren Zentrum eine Katastrophe steht, von der die Landschaft, aus der diese Theorie kommt, noch nichts wissen kann.“ Nein, der Vesuv kann noch nichts von Auschwitz wissen. Aber es hätte durchaus Sinn ergeben, Neapels Porosität oder die Unheimlichkeit von Positano nicht etwa als Ursprünge von Philosophie zu deuten, also als Transformationen von Natur in Denkstile, sondern das Verhältnis offener, in jedem Fall aber vorsichtiger zu betrachten. Die Philosophen sehen auf ihrer Reise, das, was sie denken. Daraus entstehen Allegorien, Denkbilder, Fantasien, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das kann man beleuchten. Die Frage nach Ursprünglichkeit oder Kausalität geht an der Sache vorbei und führt zu bemühten Beweisführungen. Das Einlegen von toten Tieren in der Präparationskunst soll dann in das Einlegen von Intentionen in tote Dinge im dialektischen Bild münden. Oder Adornos Vesuv-Positano-Philosophie verbildlicht Mittelbauer als eine poröse Fläche mit einem Loch in der Mitte, das als Wahrheit umspielt und am Ende gesprengt wird – ein rätselhaftes Resultat allegorischer Verrenkungen.

Viel bedeutender als Tuff- und Kalkstein für Adornos philosophischen Begriff der Konstellation war die soziale Konstellation der Reise. Und darüber erfährt man in dem Buch schließlich eine ganze Menge. Am Wegrand von Mittelmeiers Argumentation finden sich zahlreiche Schätze und hübsche Stilblüten. Die Reisen an den Golf von Neapel waren wichtige Etappen in der Geschichte von westlichem Marxismus und Kulturkritik. Mitte der 1920er-Jahre wird der Marxismus philosophisch und Philosophen werden marxistisch. Und sie finden einen neuen Stil der Wirklichkeitsaneignung, den Benjamin Denk-Bild genannt hat und der in den Texten über Neapel und Positano glänzend zu studieren ist. Auf Capri haben sich die Freunde Benjamin, Sohn-Rethel, Kracauer und Wiesengrund zur „philosophischen Schlacht“ (so Wiesengrund in einem Brief an Alban Berg) getroffen. Leider wissen wir nicht viel über sie. Aber wie Mittelmeier treffend festhält: Niemand verlässt Neapel unverändert. Benjamin zieht es in Richtung Kommunismus und „Einbahnstraße“, Kracauer beginnt, die Gesellschaft entlang ihrer oberflächlichen Manifestationen zu studieren, und Wiesengrund findet einen neuen Schreibstil und reibt sich am bürgerlichen Existenzialisten Søren Kierkegaard.

Am Ende gilt für diese Kohorte von Intellektuellen, was Bloch über das Reisen schrieb: „Ein Mensch nimmt sich mit, wenn er wandert… Schlecht wandern, das heißt, als Mensch dabei unverändert bleiben… Je bedürftiger aber ein Mensch ist, sich erfahrend zu bestimmen, desto tiefer wird er auch durch äußeres Erfahren berichtigt werden.“

Titelbild

Martin Mittelmeier: Adorno in Neapel. Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt.
Siedler Verlag, München 2013.
200 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783827500311

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