"Das erste Buch bleibt nicht das letzte!"

Die neue Kästner-Werkausgabe

Von Thomas BetzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Betz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erich Kästner, erster Literaturklassiker der BRD schon zu Lebezeiten, hatte mit der Herausgabe der »Gesammelten Schriften in sieben Bänden« 1959 (GS) und der achtbändigen »Gesammelten Schriften für Erwachsene» 1969 (GSE) sein Œuvre kanonisiert. Die Bücher des Volksschriftstellers blieben nach seinem Tod 1974 in Neudrucken der Kästner-Verlage Atrium und Dressler sowie in Lizenzausausgaben meist greifbar. Die Forschung förderte inzwischen neue Details zur publizistischen Laufbahn und bisher unbekannte Texte ans Licht. Der 100. Geburtstag Kästners am 23. 2. 1999 ließ nun Verlage in Aktion treten und brachte den Nachlaß in Bewegung (jetzt im Deutschen Literaturarchiv, Marbach a. N.), so daß - neben Ausstellungen und drei neuen Biographien - eine preisgünstige Werkausgabe des Hanser-Verlags Kästner neu präsentiert.

Diese Ausgabe nennt sich ausweichend »Werke«, umfaßt neun Bände, von denen jeder ein mehr oder weniger schlagendes Kästner-Zitat als Titel trägt, und wird vom Verlag im Impressum als »Gesamtausgabe« bezeichnet. Der Gesamtherausgeber Franz Josef Görtz hat sich die Arbeit geteilt mit 13 (Mit-)Herausgebern der einzelnen Bände von unterschiedlicher editorischer Qualität. Prinzipiell basiert die Ausgabe auf GSE 1969; allerdings ist sie - ein Novum für Kästner - "kritisch kommentiert" und konnte dazu auch aus dem Nachlaß Kästners schöpfen: Neben den Nachworten zu den einzelnen Bänden bietet sie Angaben zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte und Stellenkommentare. Was wird geboten, was ist neu hinzuzugekommen, was wurde geändert und, vor allem, was leistet der Kommentar?

Band I enthält Kästners Gedichte, d. h. die vier Gedichtsammlungen der Weimarer Republik, Kästners »Nachlese«, die Sammlung von Epigrammen nach der Ausgabe von 1950, »Die dreizehn Monate« - alles nach GSE - und neu (unter der Überschrift »Nachlese zur Nachlese«) 33 bisher nur in Zeitschriften gedruckte und zwei unveröffentlichte Gedichte, dazu noch sieben unveröffentlichte Epigramme aus dem Nachlaß. Das ist leider nur eine knappe Auswahl aus der "Fülle von Gedichten" (I, 476) der Kästnerschen Versfabrik. Abweichungen zwischen Druck und Erstdruck der Gedichte sind jeweils verzeichnet; auch Kästners Vorworte zu seinen Auswahlsammlungen von 1936 und 1946 sowie den Neudrucken wurden im Anhang aufgenommen. Übersichten über die Texte und ihre Reihenfolge in den Sammlungen dagegen fehlen. Nützlich ist das bisher fehlende Gedichtregister.

Die Bände III und IV enthalten wie GSE nicht nur »Romane« (also den »Fabian«, die Fragmente, die drei Unterhaltungsromane der 30er Jahre), sondern auch die kurzen Geschichten. Drei davon sind jetzt unter »Romane für Kinder« eingeordnet, ebenso »Als ich ein kleiner Junge war« (dort am Anfang, entgegen der Chronologie). Neu, aus dem Nachlaß, sind in Bd. III das aufgefundene zweite Nachwort zum »Fabian« und die im Kommentar mitgeteilten Materialien zu »Die Doppelgänger«, ein Kästner-Kommentar zu »Der Zauberlehrling« und die Varianten der Manuskriptfassung zu »Briefe an mich selber«. Auch Bd. IV verzeichnet Varianten zwischen Druck und Manuskript bzw. Drehbuch. Bis hierher hat die Ausgabe passable bis gute Kommentare. Was meist nicht eigens kommentiert wird, sind Kästners eigene kommentierende Bemerkungen.

Kästner war als erster Schriftsteller der BRD ein Medienstar, und er arbeitete von Anfang an für die, in den und mit den Medien. In Bd. V wird im Vorwort zu Recht die Multimedialität und der Medienwechsel Kästners sowie das Rollenspiel im Umgang mit seinen Pseudonymen herausgestellt. Ärgerlich ist da im materialreichen Kommentar mancher Fehlschluß, speziell die - in sich widersprüchlichen - Äußerungen (V, 604, 785f, 796, 835) zu der im Nachlaß belegten viermaligen gemeinsamen Autorschaft Kästners und Eberhard Keindorffs unter dessen Pseudonym Eberhard Foerster, was eine Recherche in Kästners alphabetischen Korrespondenz-Ordnern hätte klären können. Denn der Zugang zu Kästners Nachlaß stand allen Herausgebern offen, auch wenn angeführt wird, er sei "erst teilweise erschlossen und nur teilweise zugänglich" (II, 421). Schade ist, daß zahlreiche Drehbücher und Theaterstücke (in Kommentar und Bibliographie verzeichnet), teils bereits publiziert, teils unveröffentlicht im Nachlaß, in die Ausgabe nicht aufgenommen wurden. "Verzichtet werden mußte" auch auf die Übersetzungen (V, 788) - meinetwegen, aber warum muß immer verzichtet werden? Neu geboten werden nur das Drehbuch des Ophüls-Films »Dann schon lieber Lebertran« (1930), das Foerster-Lustspiel »Verwandte sind auch Menschen« (1937) und die vollständige Fassung von »Das Haus Erinnerung« (1940). Nebenbei: Die prinzipielle Entscheidung für GSE als Textgrundlage der gesamten Ausgabe führt z. B. beim Hörspiel dazu, daß GSE als »Druckvorlage« (V, 789f) im Munde geführt wird, während es zugleich heißt: "Die vorliegende Ausgabe folgt im wesentlichen [!] dem Text des Typoskripts und der Bühnenausgabe." (V, 790f)

Band II sammelt »Chanson, Kabarett, Kleine Prosa«. Das bedeutet: Die von Kästner komponierten gemischten Textsammlungen »Der tägliche Kram« und »Die Kleine Freiheit« werden durch eine Abteilung »Kabarettpoesie« ergänzt. Diese »Nachlese 1929-1953« speist sich aus Kästners eigenen Nachträgen in GSE, bisher verstreut Publiziertem und erstmals Gedrucktem. Die wenigen (pragmatisch unscharfen Kabarett-)Texte zeigen eher, daß Kästner nicht als der ganz große Kabarettautor gelten kann. »Kleine Prosa« dagegen findet sich in Band VI zur Publizistik.

Dieser ist Ergebnis systematischer (Weiter-)Suche in den Publikationsorganen, die seit Kleins Publikation und Bibliographie der literarischen Publizistik 1923-1933 aus der »Neuen Leipziger Zeitung« (1989) und Zonnefelds Dissertation zu Kästners Rezensionen 1923-1933 (1993, mit der bisher besten Bibliographie der Erstdrucke und verstreuten Veröffentlichungen) bekannt sind. Leider bietet der Band aus Umfangsgründen nur eine - gut kommentierte - Auswahl. Diese Auswahl der "besten Arbeiten" (VI, 674) bis 1933 verbindet sich mit einem engagierten Plädoyer für den (politischen) Publizisten und Chronisten Kästner. Im Nachwort sowie im Kommentar zu »Notabene 1945« wird auf die erstmalig transkribierten Aufzeichnungen Kästners 1941, 1943 und 1945 im sog. »blauen Buch« zurückgegriffen; dessen "weitergehende Aufschlüsselung" und Publikation (mit »Kästners Kriegstagebuch 1945«) "bleibt einer historisch-kritischen Ausgabe vorbehalten." Kästners Sammlungen seiner Nachkriegspublizistik (»Neues von Gestern«) und seiner »Reden und Vorreden« in GS und GSE dagegen sind gekürzt (und auch nicht um weitere Veröffentlichungen ergänzt), so daß die Ausgabe nun zwar manches Neue, zugleich aber auch weniger als GSE bietet.

Nicht neu, aber GSE (entsprechend GS) ergänzend folgen abschließend Kästners Kinder- und Jugendbücher, nämlich zwei Bände »Romane für Kinder« (Bd. VII u. VIII, u. a. inklusive der Bilderbücher in Versen) sowie die »Nacherzählungen« (Bd. IX). Ein in Anlage, Daten und Informationsdichte gleichwertiger Kommentar - zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte, zu Querverbindungen im Œuvre und etwaigen Besonderheiten - scheint dem Herausgeber bei den Kinderbüchern nicht nötig. Die auf über 1200 Seiten abgedruckten 13 Bücher und 12 (neu wiedergedruckten) frühen »Kindergeschichten für Erwachsene« bekommen nämlich überhaupt keinen Kommentar. Stattdesse ein sechzehnseitiges Nachwort - gewürzt u. a. mit stimmungsvoller Recherche in Dresden, einer Prise Dr. Zimmermann, Zitaten aus A. R. Meyers Reichsschrifttumskammer-Gutachten 1937 und rechten Rezensionen, mit Nacherzählung von Kästners Karriere und Moral. - Steckt hier die Gesamtwürdigung für das Publikum? Eine "Nachbemerkung für alle, die es genau wissen wollen", weist wenigstens auf die in den Nachdrucken und Neuausgaben der Kinderbücher immer wieder anzutreffenden kleinen Textänderungen hin und verspricht "die Textgestalt der Erstausgaben" (VIII, 680f).

Ein wichtiger Faktor von Kästners Erfolg als Kinderbuchautor sind die kongenialen Illustrationen Walter Triers. Auch viele andere Publikationen arbeiten gezielt mit dem Reiz des Bildmediums: die von Ohser und Großmann ausgestatteten Gedichtbände, Triers Umschläge und Illustrationen zu den volkstümlichen Büchern der 30er Jahre, ab 1952 die Arbeiten Lemkes und die von Chaval (auch in GS!) illustrierte »Schule der Diktatoren« . Sie alle sind in der Ausgabe nicht abgedruckt und im Kommentar nicht immer verzeichnet. Reproduziert sind nur - notgedrungen - die Text-Bild-Kombinationen und Schriftbilder der Emil-Romane (»Zehn Bilder kommen [jetzt] zur Sprache«) und Kleine-Mann-Bücher sowie Triers Illustrationen der zwei »Bilderbücher« 1932 und 1935 und zu »Die Konferenz der Tiere«.

Ebenfalls ohne die Illustrationen Triers bzw. Lemkes bleiben Kästners »Nacherzählungen« populärer Stoffe aus den Volksbüchern und der Weltliteratur in Bd. IX. Auch hier liefert nur ein Nachwort die für notwendig erachteten Informationen und vermittelt historische Orientierung: "Die Bücher, die verbrannt wurden; der klare Geist, der verachtet, die eindringliche Stimme, die verboten wurde - so kam es, und man kann sich nicht vorstellen, was es für einen Autor in dieser Sitution bedeutet haben muß, sich mit alten Schwankstoffen zu beschäftigen.« (IX, 179) Kein Wort etwa zur erweiterten Neuausgabe des »Till Eulenspiegel« 1949, deren 12. Abenteuer fehlt.

Diverse Aussagen und Argumentationen in diesem oder jenem Nachwort sind diskussionsbedürftig, sollen aber hier nicht bekrittelt werden. Vielleicht hätten sich orthographische Fehler und Textverlust von Herausgeber, Lektor oder Korrektor doch noch revidieren lassen, aber nobody is perfect. Und: Die typographische Einband-Gestaltung der Paperback-Ausgabe ist, verglichen mit der Ausstattung der Leinenausgabe, nicht geglückt. Der Preis hingegen ist prima. Und die hintergründigen, teils wunderbaren Bilder von Bernd Pfarr wirken in ihrer seltsamen 'historischen' Anmutung irritierend und reizvoll.

Möglicherweise ist diese Ausgabe das auf dem Buchmarkt zumutbar Machbare; sie bietet leider nicht das Gesamtwerk: nicht alle bislang schon publizierten Werke, nicht viele oder gar alle der verfügbaren unpublizierten. Die letzte Werkausgabe und Ergänzungen dazu müssen also weiterhin mitbenützt werden, weshalb auch die Entscheidung für GSE und gegen die Erstausgaben bzw. Erstdrucke als Textgrundlage nicht völlig einleuchtet. Zu hoffen bleibt nicht nur auf gewichtige weitere Funde, auf den Druck von Kästner-Spezialitäten oder auf Briefeditionen, sondern auch, daß dies nicht die letzte Kästner-Werkausgabe bleiben möge.

Titelbild

Erich Kästner: Werke in neun Bänden.
Carl Hanser Verlag, München Wien 1998.
50,60 EUR.
ISBN-10: 3446195637

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