Auch noch so viel ist nie genug

Ansgar Nünnings „Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie“ liegt in fünfter Auflage vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das von Ansgar Nünning 1998 erstmals herausgegebene Metzler Lexikon zur Literatur- und Kulturtheorie kann seit seinem ersten Erscheinen eine wahre Erfolgsgeschichte verzeichnen. Innerhalb von anderthalb Dezennien erreichte es die fünfte, abermals aktualisierte und erweiterte Auflage, deren Umfang gegenüber der ersten von 593 auf 847 Seiten anwuchs und die Anzahl der Artikel von gut 600 auf nicht weniger als 750 stieg.

Von Beginn an verstand es sich als „Arbeitsmittel für die Orientierung innerhalb des Sach- und Begriffsfeldes“ der Literatur- und Kulturtheorien, das als Handreichung für Studierende philologischer Disziplinen und der Kulturwissenschaften, aber auch für Angehörige der anderen Geisteswissenschaften gedacht war. Konstatiert der Herausgeber im Vorwort zur ersten Auflage einen literatur- und kulturwissenschaftlichen „Boom“ der Theoriebildung, so zeigten die vergangenen 15 Jahre, dass die Theorieentwicklung trotz ihres zwischenzeitlich verkündeten Endes nach wie vor zu den zentralen Bereichen der Literatur- und Kulturwissenschaft zählt. Es wurden nicht nur etliche Ansätze wie etwa die feministische oder die postkoloniale literatur- und Kulturtheorie weiterentwickelt, sondern auch neue Theoreme wie die Akteur-Netzwerk-Theorie entworfen.

Die vorliegende fünfte Auflage des Nachschlagewerkes wiederum zeigt, dass es diesem „anhaltenden Boom“ nach wie vor sowohl hinsichtlich seines Umfangs, als auch inhaltlich gewachsen ist. So wurde nicht nur alles unternommen, um die bisherigen Artikel „auf den neusten Stand der Forschung zu bringen“, sondern es wurden auch etliche neue Lemmata eingefügt. Wie der Herausgeber vermerkt, hätte er „liebend gern“ eine noch größere Anzahl neuer Einträge aufgenommen. Doch habe der Umfang des vorliegenden Bandes bereits eine „echte Herausforderung für die Künste des Buchbinders“ dargestellt, so dass auch aus diesem Grund darauf verzichtet werden musste.

Das buchbinderische Problem allerdings hätte sich leicht beheben lassen, in dem man das Lexikon in zwei Teilbände gebunden hätte. Eine Anregung des Rezensenten, die vielleicht bei der sicher in Kürze anstehenden sechsten Auflage Berücksichtigung finden möge.

So böte sich vielleicht auch Raum für einen eigenen Eintrag etwa zu Cyberfeminismus, denn unter dem Stichwort wird nur auf den von Anja Beinroth, Doris Feldmann und Sabine Schülting gemeinsam verfassten Eintrag Feministische Literaturtheorie verwiesen, der – darin dem ganz überwiegenden Teil der Lemmata gleich – zwar ebenso konzis wie instruktiv ist, den Cyberfeminismus auf seinen drei Seiten jedoch nur beiläufig als eine der gegenwärtigen „divergierenden ‚Strömungen’“ innerhalb der feministischen Literaturtheorie(n) nennt. Doch selbst der Cyborg schien keines eigenen Artikel wert und muss sich mit einem Verweis auf die prominente feministische Cyborg-Theoretikerin Donna Haraway begnügen. Noch weit misslicher aber ist die Absenz eines Eintrags zum Begriff des Postfeminismus, über dessen Inhalt innerhalb der Community feministischer Theorie-Bildender immerhin schon länger als ein Dezennium heftig gestritten wird. Auch gibt es zwar einen Eintrag zum ungeachtet des generischen Maskulinums selbstverständlich männlich konnotierten – und wie Werner Wolf, der Autor des Lemmas, anmerkt „neuerdings kritisierten“ – Begriff des Erzählers, nicht jedoch zur Erzählinstanz, über deren Funktion der Herausgeber bereits vor längerer Zeit andernorts publizierte. Zudem sticht ins Auge, dass zwar Frauenbilder als Lemma aufgenommen wurden (Doris Feldmann und Sabine Schülting), nicht so jedoch Männerbilder. Immerhin aber muss man nicht vergeblich nach der Männlichkeit (ebenfalls Doris Feldmann und Sabine Schülting) suchen, dessen Pendant, die „Weiblichkeit“, sich einen Eintrag mit der Weiblichen Ästhetik teilen muss (wiederum Doris Feldmann und Sabine Schülting). Eine männliche Ästhetik scheint es hingegen nicht zu geben. Zumindest sucht man in dem Lexikon vergebens nach dem entsprechenden Eintrag. Dem Matriarchat steht das Patriarchat gegenüber. Auch Androgynität (alle Einträge Doris Feldmann und Sabine Schülting) und Intersexualität (Richard Aczel) sind als Lemmata vertreten. Misslich wiederum, dass die Phantastik (Birgit Grein) nicht in ihre wichtigsten Genres aufgefächert wird – als da wären Science Fiction, Horror, Märchen und einige weitere. Verwunderung ruft hervor, dass zwar der Begriff Sexismus (Doris Feldmann und Sabine Schülting) aufgenommen wurde, nicht so jedoch Rassismus.

Doch diese Absenzen sind angesichts all dessen, was das Lexikon zu bieten hat, letztlich fast verschwindend gering. Was allerdings nicht bedeutet, dass sie nicht schmerzlich wären. Andererseits bietet das Lexikon jedoch auch das eine oder andere Lemma, das man in einem solchen Werk nicht unbedingt als selbstverständlich erwarten würde wie etwa die Personeneinträge zu der Literaturtheoretikerin Nancy Katherine Hayles (Elmar Schenkel) und dem russischen Märchenforscher Vladimir Jakovlevič Propp (Frank Göbler) oder die Sacheinträge Skaz (Franziska Mosthaf), in dem man erfährt, dass der Begriff eine bestimmte „am mündlichen Erzählen orientierte Erzählweise“ bezeichnet, die im russischen Formalismus gründet, und die Kreolisierung (Brigit Neumann), deren Konzept „die auf einen direkten Kulturkontakt zurückgehende Vermischung zweier oder mehrerer Sprachen“ beschreibt.

Zu den neu aufgenommenen Ansätzen zählen neben der bereits erwähnten Akteurs/Netzwerk-Theorie die Kognitive Literaturwissenschaft und selbstverständlich die nun ja schon seit geraumer Zeit etablierte Intersektionalität. Unter den neu aufgenommenen Grundlagen-Begriffen findet sich der Transnational Turn ebenso wie die Digital Humanities. Zudem sind nun zwei weitere Theoretiker unter den Personeneinträgen vertreten, die man bisher vermissen musste: Zygmund Baumann und der aus Algerien stammende Philosoph Jacques Rancière.

Wie stets bei derartigen Mammut-Projekten lässt sich auch innerhalb einzelner Lemmata die eine oder andere Misslichkeit ausmachen. Dies kann bei einem lexikalischen Unternehmen, an dem, wie im vorliegenden Falle, weit über 200 AutorInnen beteiligt sind, schwerlich anders sein. Zu monieren bliebe etwa, dass nicht alle Formulierungen ihrem Gegenstand angemessen sind wie etwa die Verwendung modischer Anglizismen im Eintrag zu Immanuel Kant, in dem Linda Simonis erklärt, die „Kritik der Reinen Vernunft“ markiere „den take-off“ der „diskursbegründenden Form des Kritischen Philosophierens“.

Die „entscheidende Bedeutung“, die Kants „Neubegründung des Geschmacksurteils“ für die „literarästhetisch und kunstphilosophische Diskussion“ gegen Ende des 18. Jahrhunderts zukam, stellt Simonis hingegen gut fasslich dar. Wie das Lexikon denn auch überhaupt in angemessenem Umfang verlässlich über alle wesentlichen – und zahlreiche weniger wesentliche, darum aber nicht unwichtige und oder gar uninteressante – Aspekte der Literatur- und Kulturtheorie informiert. So ist die Erfolgsgeschichte des Lexikons denn auch wohlbegründet. Mehr noch: Im deutschen Sprachraum lässt sich schwerlich Vergleichbares finden.

Titelbild

Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 5. Auflage.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2013.
847 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783476024763

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