Für immer ein Tramp

Fabio Stassi fiktionalisiert in „Ein Pakt fürs Leben“ die frühen Jahre von Charlie Chaplin

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er war einer der größten Filmstars, er ist einer der bekanntesten Komiker, er wird immer eine Ikone des melancholischen Humors sein: Charles Spenser Chaplin, 1889-1977. Zahlreiche Biografien wurden über ihn verfasst, und doch blieben bis heute einige Details über diesen einzigartigen Künster im Dunkeln. Allein sein Geburtsort, vermutlich London, ist umstritten. Der italienische Autor Fabio Stassi nutzt jene Leerstellen, um aus einem Kinomythos das poetisierte Portrait eines Menschen in Unruhe zu formen, der die Welt oft gegen sich, dafür sein Talent immer mit sich hatte.

Es ist die Gabe zum Leben, die Chaplin besitzt, gewachsen aus seiner Gabe zum Lachen (schenken). Damit kann er sogar dem Tod noch ein paar Jahre abtrotzen. Als dieser ihn am 24. Dezember 1971 besucht, handelt Chaplin einen Pakt aus: Solange er ihn einmal im Jahr zum Lachen bringen kann, darf er zwölf weitere Monate auf der Erde weilen. Es werden die sechs lustigsten Weihnachtsabende für den Tod. Am letzten schreibt Chaplin einen langen, statt in Kapitel in Filmrollen eingeteilten Brief an seinen jüngsten Sohn Christopher James. Diese geheimen Memoiren, eine Art Topografie der Erinnerung an seine Lehr- und Wanderjahre, werden zum Vermächtnis: „Das habe ich noch keinem erzählt. Hör mir zu.“

In jener vergangenen, mittlerweile nostalgisch verklärten Epoche, als es statt Kinos den Zirkus und Music Halls gab, wächst Chaplin samt Halbbruder Sydney auf. Seine Eltern sind beide Künstler, der Vater ist bald entschwunden, die Mutter wird später geisteskrank. Chaplin lernt schon früh das Dasein von seiner härtesten Seite kennen. Und steht ebenso früh auf der Bühne. Sie wird sein zweites Zuhause, die Theatermenschen seine Ersatzfamilie. Unbefangen nähert sich Fabio Stassi diesem faszinierenden Kosmos, übergeht weder die existenzielle Armut noch das antibürgerliche Glitzern, lässt dabei stets mitschwingen, dass solche Erfahrungen eine große, schillernde Künstlerpersönlichkeit ausmachen.

Die war Chaplin zweifelsohne, der Leben wie Kunst von der Pike auf gelernt hat. Sich immer wieder neu zu erfinden, lautet seine Devise: „Tja, wie viele Male im Leben wird man doch neu geboren, so oft, dass man unmittelbar lernen muss, sich selbst über Wasser zu halten und nie aufzuhören, immer wieder bei null anzufangen.“ Mit dieser Einstellung schlägt er sich durch zahlreiche Jobs, reist über den großen Teich in die Neue Welt, begegnet außergewöhnlichen Menschen. Rastlosigkeit ist sein Schicksal. Denn durch sie wird er streetwise, lernt die Welt kennen, saugt das Leben auf und gewinnt ohne es zu ahnen Inspirationen, die seine späteren Filme zu Meisterwerken machen. Subtil-geistreich wird das in „Ein Pakt fürs Leben“ akzentuiert, wenn Filmepisoden – etwa das Einwerfen von Fensterscheiben, um das Glasergeschäft anzukurbeln, aus „The Kid“ (1921) – als Biografiesplitter ausgegeben sind. Leben wandelt sich zu Film, Film verändert Leben.

Kinokunst erweist sich hier als etwas, das aus Weltwissen entsteht, als ein Produkt aus Pragmatismus und Fantasie. Ähnliches ließe sich auch über Stassis einnehmendes, mit Sinn für die Komik des menschlichen Daseins verfasstes Werk sagen. Viele erwähnten Details decken sich mit der realen Vita Chaplins, anderes ist schlichtweg erdichtet, wobei freilich auf nahtlose biografische wie atmosphärische Übergänge geachtet wird. Thematisiert werden nicht nur die frühen Jahre Chaplins, sondern ebenfalls der junge (Stumm-)Film sowie die Anfänge der amerikanischen Filmindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals war alles noch Experiment und Improvisation, gleichzeitig jedoch vom schöpferischen Geist des Aufbruchs beseelt. Dies klingt in jeder Zeile des wie eine Melodie vorangleitenden Unterhaltungsromans mit, dessen bunter Einfallsreichtum die Wirklichkeit ergänzt und überhöht. Zwischen konkretem Fakt und schwereloser Fiktion entsteht eine wunderbare Harmonie, die am besten mit einem Sprichwort von Giordano Bruno charakterisiert werden kann: „Wenn es nicht wahr ist, so ist es doch gut erfunden.“

Besonders fein ersponnen ist die Geschichte über die Erfindung des Films. Anstatt der historisch verbürgten Gebrüder Skladanowsky oder Lumière hat angeblich ein verzweifelt Liebender den Kinematografen entworfen. Um seiner angebeteten Kunstreiterin Eszter auf ewig nahe sein können, baute der verschüchterte Zirkuskünstler Arléquin ein Gerät, der ihren Auftritt bannte. Mit dieser hochpoetischen Lesart von Filmgeschichte, die sämtliche Tatsachen zugunsten von betörender Verträumtheit ignoriert, kommt Stassi dem Herz wie Sinn des Kinos überwältigend nahe. 

Nur schade, dass er der Story um Eszter, Arléquin und den ersten Filmapparat im letzten Buchdrittel etwas zu viel Platz einräumt. Chaplin, der von jenen Ereignissen bereits als Kind hörte und ihnen als Erwachsener erneut auf die Spur kommt, tritt hierüber ein wenig in der Hintergrund. Bestand zuvor eine emotionale Balance, stilistisch forciert durch den Wechsel zwischen lebensprallem Briefroman und lakonisch-amüsantem Bühnendialog von Chaplin und Tod, kippt jetzt die Stimmung leicht ins Melodramatische. Das wäre keineswegs nötig gewesen, besitzt doch die Erzählung über Chaplins Jugendjahre ausreichend affektive Kraft. Jene Zeit verbrachte er wie seine berühmteste Figur, der Tramp. Immer unterwegs, aber immer in Würde: „Mutter Natur hat mich ziemlich klein gebaut, sodass ich vor keinem auf die Knie gehen muss.“

Die erwähnten narrativen Schwächen beeinträchtigen das Lesevergnügen allerdings nur marginal. Überhaupt: Das wirklich zauberhafte, bewegende Ende von „Ein Pakt fürs Leben“ würde für jeden literarischen Makel entschädigen. Wann lässt sich das schon einmal über ein Buch sagen?! Heiligabend 1977 kommt der Tod zum letzten Mal zu Chaplin. Diesmal nimmt er ihn mit, nicht ohne vorher sein Geheimnis zu enthüllen: Kino… das ist sein Geschenk an die Menschheit, um ihr einen Ausgleich für die Zumutungen aller Verluste darzubringen. Jeder Cineast weiß um diese Wahrheit. Auch Chaplin, der sich leichten Herzens ins Jenseits zurückziehen kann. Sein Lebenskreis ist geschlossen, seine Kunst hat ihn längst unsterblich gemacht: „(…) es gibt keinen Film ohne einen Anfang und ein Ende, und das hier ist ein Happy End. Gehen wir, bevor der Mond verblasst.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Fabio Stassi: Ein Pakt fürs Leben. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Monika Lustig.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2013.
315 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783036956770

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