Ein Loblied auf die Internetkultur

Statt kulturpessimistisches Internet-Bashing empfehlen Tim Cole und Ossi Urchs in „Digitale Aufklärung. Warum uns das Internet klüger macht“: das Selberdenken und Sich-Vernetzen

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was hat Immanuel Kant mit dem Internet zu tun? Für Tim Cole und Ossi Urchs einiges: Sie knüpfen an das kantische „Sapere aude“ an und fordern eine neue, digitale Aufklärung angesichts der tiefgreifenden Umwälzungen, die das Internet in den letzten 20 Jahren im sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich brachte. Dabei wenden sie sich ausdrücklich gegen einen Kulturpessimismus, der eine Überforderung des Menschen durch den digitalen Wandel sieht, welcher zu einer dysfunktionalen Entkopplung des Individuums von seiner analogen Umwelt führt und letztlich in sozialer wie mentaler Verkümmerung endet. Die Autoren, verlagsseitig als Internetexperten positioniert, vertreten dagegen eine radikal-optimistische Sicht: Nicht kapitulieren vor der „digitalen Beschleunigung“ und dem allumfassenden World Wide Web solle man, sondern man möge sich durch ein mutiges Selberdenken die rundum positiven Möglichkeiten des Internets zunutze machen. Schließlich seien Informationsaustausch und Datenbeschaffung, denen man sich im eigenen Interesse tunlichst nicht entzieht, zu einer grundlegenden Kulturtechnik geworden, so selbstverständlich wie Lesen, Schreiben oder Rechnen. Salopp ausgedrückt: Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.

Der Paradigmenwechsel durch das Internet und durch die Auswirkungen der globalen Vernetzung wird von den Autoren auf allen Ebenen beleuchtet: Sie erzählen, mit anekdotischen Rückblicken auf die Anfangszeit des WWW, von der Beschleunigung des Lebens durch die Verfügbarkeit von Informationen in Echtzeit, vom Zusammenwachsen von Privat- und Arbeitsleben, von der Erosion der Privatsphäre, vom geänderten Konsumverhalten durch allzeit präsente Kaufmöglichkeiten, vom Datenschutz und einer disparaten Gesetzeslage, von Veränderungen im menschlichen Miteinander durch soziale Netzwerke, von den Möglichkeiten durch Cloud Computing und mobilen Anwendungen und vieles mehr. Insofern bieten Cole und Urchs einen informativen, gut lesbaren Überblick über den gegenwärtigen Stand der Internetdiskussion, ohne dass sie jedoch mit ihrem kultur- und medienphilosophischen Standpunkt wirklich Neues zu Tage fördern.

Man merkt den Autoren die Begeisterung für das Medium und seine Einflüsse jederzeit an, allerdings geht ihnen mitunter eine gesunde Distanz und eine kritisch-reflektierende Haltung, gerade zu vielschichtigen Themen, verloren. So wird beispielsweise das Urheberrecht, ein unstrittig komplexes Thema, angesichts der medialen Entwicklung kurzerhand für obsolet erklärt, da es in einem bestimmten historischen Kontext entstanden, nun aber nicht mehr wie ursprünglich gedacht anwendbar sei. Dem klassischen Journalismus sprechen sie die Existenzberechtigung ab: Journalisten seien schlicht nicht mehr nötig in einer Zeit, in der jeder zugleich Produzent und Konsument von medialer Information ist. Und der durchaus diskutierenswerte Einwand hinsichtlich der Verkümmerung der Sprach- und Schreibfähigkeit durch die neuen Medien? Auch hier geben die Autoren allzu sorglos Entwarnung, schließlich werde doch mehr geschrieben – SMS, E-Mails, IM-Nachrichten – als je zuvor. In solchen wenig ausdifferenzierten Äußerungen tritt eine zwar gut gemeinte, aber simplifizierende Technologie- und Fortschrittsgläubigkeit zu Tage, die den Facettenreichtum von manchen Themen unnötig beschneidet.

Manchmal könnte man über eine etwas schlicht geratene Argumentation vielleicht hinweglesen, wenn sie denn auf das selbst gestellte Thema zuliefe. Jedoch bleiben die Autoren die Antwort auf die zentrale, von ihnen formulierte Frage letztendlich schuldig. Warum macht uns das Internet denn nun klüger? Nur weil das menschliche Denken, wie Cole und Urchs argumentieren, funktioniert wie ein digitales Netzwerk? Weil dieses in der Struktur dem menschlichen Gehirn ähnelt und die Nutzung somit „natürlich“ ist? Oder weil es von seinem Nutzer bestimmte kognitive Fähigkeiten verlangt? Die eigentliche Kernfrage wird nur am Rande, in wenigen, kaum erhellenden Passagen, gestreift, zumal die Autoren auch nicht explizit definieren, was sie unter „Klugheit“ und der „Zunahme von Klugheit“ verstehen. Meint Klugheit Allgemeinbildung? Oder Intelligenz im Sinne von kognitiven Fähigkeiten? Oder emotionale Intelligenz? Oder soziale? Oder wirtschaftliche im Sinne von Innovationskraft? Meint es die Intelligenz des Individuums oder der Gesellschaft?

Dabei hätte das Thema durchaus das Potential für viele spannende, untersuchenswerte Aspekte. Die Ergänzung um einen populärwissenschaftlich-empirischen Ansatz hätte der kulturphilosophischen Argumentation wichtige Impulse für eine überzeugende Beweisführung durch nachvollziehbare Belege liefern können. Material gäbe es einiges: Untersuchungen zum Spracherwerb, zur Entwicklung kognitiver Fähigkeiten, einschlägige Studien zur Intelligenzforschung oder auch die umstrittenen Pisa-Studien der letzten Jahre. Diese Schriften hätte man beispielsweise mit Bezug auf Ein- und Auswirkungen des Internets auswerten können, vor allem auch länderübergreifend, um die Frage zu klären, ob es Unterschiede gibt zwischen Ländern mit hoher und Ländern mit niedriger Internetdurchdringung.

Trotzdem bleibt Tim Coles und Ossi Urchs Buch eine lesenswerte kultur- und medienphilosophische Stellungnahme zur gegenwärtigen Internetkultur, weil es die relevanten Strömungen richtig erfasst und hoffnungsvoll manch wichtigen Denkanstoß liefert – auch wenn man als Leser der Frage, warum uns das Internet klüger macht, gern näher auf den Grund gegangen wäre.

Titelbild

Ossi Urchs / Tim Cole: Digitale Aufklärung. Warum uns das Internet klüger macht.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
280 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783446436732

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