Interauktorialität und Interfiguralität

Uwe Timms „Freitisch“ als Hommage an Arno Schmidt

Von Tina GrahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tina Grahl

Uwe Timms Novelle „Freitisch“, veröffentlicht im Februar 2011, behandelt das Wiedersehen zweier ehemaliger Studienfreunde in Anklam. Die Beiden, Euler und der Ich-Erzähler, erinnern sich im Gespräch an ihre gemeinsame Zeit als Stipendiaten eines Freitisches in der Kantine einer Münchner Versicherung. Ebenfalls am Freitisch saßen der Jungautor Falkner und der sogenannte Jurist. Die Zeit am Freitisch war geprägt von intensiven Gesprächen zu philosophischen und politischen Themen. Wichtigster Gegenstand der Unterhaltung aber war die Begeisterung des Studenten Eulers für den Autor Arno Schmidt und dessen Werk, insbesondere den frisch erschienenen Band „Kühe in Halbtrauer“. Höhepunkt der Novelle ist die Fahrt nach Bargfeld und die Begegnung mit Arno Schmidt im Sommer 1965. Der folgende Aufsatz widmet sich daher der Analyse der vielfältigen intertextuellen Bezüge der Novelle „Freitisch“ zu Arno Schmidt und dessen Werk.

I. Das Motto der Novelle formuliert über ein Zitat aus „Die Schule der Atheisten“ ein poetisches Modell zum Text, indem es die vielfachen intertextuellen Referenzen vorausdeutet

Das vorangestellte Motto der Novelle „Freitisch“ entnimmt Uwe Timm der Novellen=Comödie„Die Schule der Atheisten“, an welcher Arno Schmidt zwischen dem 31. Dezember 1970 und dem 16. Juli 1971 schrieb und die 1972 im Verlag S. Fischer veröffentlicht wurde. Die Entstehungszeit dieses hier zitierten Textes liegt damit 10 Jahre nach der Entstehung der Texte des Erzählbandes „Kühe in Halbtrauer“, die zwischen 1960 und 1963 entstanden und die Hauptreferenz der Novelle „Freitisch“ bilden. Mit dem gewählten Motto aus „Die Schule der Atheisten“ bewegt sich Uwe Timm somit außerhalb des zeitlichen Rahmens der Binnenhandlung, der im Sommer 1965 angelegt ist. Vielmehr formuliert er über das Zitat eine der Novelle zugrunde liegende poetische Idee. Das gewählte Zitat „>warum &/ab wann beginnt ein Dichter, Bilder als Vorlagen zu verwendn?<; (anstatt auf >wirkliche Erlebnisse< zurückzugreifn) – ist das eine reine AltersFrage?; oder aber eine von Temperament?/ Constitution?; (dh >ist< Einer so; oder >wird< Jeder so?).“ (5) verweist auf den Referenzcharakter des Textes im Allgemeinen und zur Autorfigur Arno Schmidt und dessen Werk im Speziellen. Darüber hinaus referenziert das gewählte Motto auch auf die Poetologie(n) Uwe Timms, die er in den drei Poetikvorlesungen in Paderborn 1991/92, Bamberg 2005 und Frankfurt am Main 2009 formuliert hat und in welcher er immer wieder um den Begriff des Realismus kreist. Auch im Werk Arno Schmidts ist der Realismusbegriff zentral. Zwar findet sich die Idee des Realismus bei Arno Schmidt in einer rein ästhetischen Ausprägung, während das Realismuskonzept bei Uwe Timm in den Texten der 1970er-Jahre wie beispielsweise in „Heißer Sommer“ durchaus politisch ist, das heißt nicht ausschließlich auf die Darstellung bezogen bleibt. In den 1990ern entwickelt Uwe Timm – unter anderem in der Paderborner Poetikvorlesung 1991/92 – sein Realitätskonzept in eine Ästhetik des Alltäglichen weiter. Auch Arno Schmidt fordert in den „Berechnungen“ eine inhaltliche Fokussierung des Erzählens auf das Alltägliche. Ebenfalls beiden Autoren gemein ist die Forderung nach einem bewussten Verhältnis von Form und Stoff. Bei Uwe Timm wird diese Dualität durch einen dritten Faktor, die Stimme, ergänzt. Es ist Uwe Timm somit zu unterstellen, dass er die Novelle „Freitisch“ über das vorangestellte Motto in eine poetologische Beziehung zu seinem eigenen Werk, aber auch zum Werk Arno Schmidts, setzt.

II. Zentrum der vielfältigen Referenzen ist das Frühwerk Arno Schmidts, der Erzählband „Kühe in Halbtrauer“ und die Prosatheorie der „Berechnungen“

Neben der im Motto zitierten Novellen=Comödie „Die Schule der Atheisten“ und einigen Ausblicken auf „Zettel’s Traum“ stehen das Frühwerk Arno Schmidts, der Erzählband „Kühe in Halbtrauer“ und die Essays der „Berechnungen“ im Zentrum der intertextuellen Referenz. Das Frühwerk wird in erster Linie als bloßes Zitieren der Werktitel wie „Rosen & Porree“ (10, 16), „Kaff auch Mare Crisium“ (14, 33) und „Das steinerne Herz“ (33, 108) im Sinne eines Lektürenachweises eingeführt. Darüber hinaus werden die Texte teils als Sprachspiel des Ich- Erzählers genutzt und somit als rhetorisch-stilistisches Element in seine Figurensprache eingebunden: „Lehrer, pensioniert, wohne zwischen Rosen und Porree, mit Kaufmanns-Und, versteht sich. […] Ist so ‚ne Art Frimmersen […].“ (11). Das Zitieren der Titel (auch im Sinne des rhetorisch-stilistischen Elements) ist dabei als einfache Form der Intertextualität zu beschreiben, da an diesen Stellen zwischen der Novelle und den Prätexten nur selten ein umfassenderer Dialog entsteht. Der Verweis auf die oben genannten Texte des Frühwerkes bleibt bis auf wenige Ausnahmen der Rahmenhandlung, das heißt dem Gespräch zwischen Euler und dem Ich-Erzähler, vorbehalten. Auch auf den Erzählband „Kühe in Halbtrauer“ wird vorranging im Sprechen über Lektüre verwiesen. Der Jungautor Falkner bewundert die in „Kühe in Halbtrauer“ formulierte Ironie und den Witz, bricht die Lektüre des Schmidt‘schen Werkes aber mit „Kaff auch Mare Crisium“ mit der Begründung ab: „Das wiederholt sich, geht nicht an den Kern und hat nichts mit mir zu tun.“ (33) Die Verweise auf den Band sind vor allem in der Binnenhandlung zu finden, in welcher er dann zentraler Prätext der Verweise ist. Der Band gibt den zeitlichen Rahmen der Binnenhandlung vor, indem die Gespräche des Freitisches und die Fahrt nach Bargfeld in den Zeitraum nach der Erscheinung des Bandes „Kühe in Halbtrauer“ verortet werden. Später wird dieser Zeitraum durch den Ich-Erzähler als Sommer 1965 konkretisiert. Die Referenz auf die zehn Erzählungen des Erzählbandes gestaltet sich in Form von inhaltlichen Bezügen, Verweisen, Anspielungen und Zitaten präziser und umfassender als bezüglich des Frühwerkes. Marius Fränzel erläutert: „Auch ist es sicherlich kein Zufall, dass gerade der Band »Kühe in Halbtrauer« als zentrales Paradigma Schmidt‘schen Schreibens benutzt wird, denn nicht nur die Erzählung »<Piporakemes!>«, die Timm explizit heraushebt, stand bei der Entstehung der Novelle Pate, sondern sie ist als Erzählung über zwei sich erinnernde Alte auch eine Variation auf »Kühe in Halbtrauer« selbst.“ (Fränzel, 22). Auch in „Der Sonn‘ entgegen“ finden sich Entsprechungen in Inhalt und Figurengestaltung wie die Unterhaltung dreier gealterter Studienfreunde, genauer eines Ich-Erzählers, eines Versicherungsmathematikers und eines Lyrikers. Das Gespräch am Feuer, welches immer wieder von Gartenabfällen und Papier entfacht wird, huldigt – wie fast alle Erzählungen des Bandes „Kühe in Halbtrauer“ – dem Ländlichen und der Provinz und wird immer wieder durch die anekdotische Einarbeitung der Erinnerungen des Erzähler unterbrochen.

Einen weiteren Bezug bildet die, in den Essays der „Berechnungen“ formulierte Prosatheorie, obwohl der Erzähler diese als „nicht sonderlich neu“ (26) abwertet. Im Sprechen der Figuren finden sich Formulierungen aus den „Berechnungen“, die Figuren sprechen in Zitaten. So führt Euler seine Karriere in der Abfallwirtschaft mit der Prosatheorie Schmidts zusammen, denn „das auszuprobieren, dieser Versuch, etwas sprachlich zu optimieren, also zu verdichten und nochmals zu verdichten, das habe er bei Arno gelernt“ und der Ich-Erzähler charakterisiert Falkner mit den Worten „Ungewöhnlich war, wie er Prosa kritisierte, die Sprache sei ungenau, habe keinen Rhythmus […].“ Die Begriffe der sprachlichen Optimierung und Verdichtung sowie die Forderung nach einer genauen Sprache und nach Rhythmus entstammen – teils wortwörtlich – den Essays der Prosatheorie der „Berechnungen“.

III. Uwe Timms Novelle nutzt vielfältige intertextuelle Formen als Referenz auf Arno Schmidt

Die Novelle „Freitisch“ nutzt sowohl einfachere als auch komplexere Formen der Intertextualität. Zu den einfacheren Formen zählen das Zitieren der Titel aus dem Werk Schmidts und die Verweise auf die Prosa Schmidts über Themen wie Sexualität in der Anekdote des Juristen vom Penisbruch im Zug (20), sowie die andauernde Beschreibung der Affären Falkners. Komplexer ist die Einbindung von Referenzen in verschiedene Textebenen wie die Einbindung der Zitate aus den „Berechnungen“ in die Figurensprache und die Charakterisierung der Figuren. Dabei entspricht die Figur des Ich-Erzählers in der optischen Beschreibung, in seiner norddeutschen Herkunft und in seiner Bewunderung für die Provinz den Figuren Arno Schmidts beziehungsweise Schmidt selbst. Zum Teil geschieht der Bezug zwischen den Figuren wie hier am Beispiel des Ich-Erzählers zu Arno Schmidt konkret wie auch in „Arno hat recht: meine Landschaft muss eben sein, flach.“ (74), während er an anderer Stelle nur ein indirekter Verweis ist, wie etwa Eulers Begeisterung für Mathematik.

Uwe Timm nutzt in seiner Referenz auf Arno Schmidt das Modell der Interfiguralität, indem Merkmale Schmidt‘scher Figuren auf den Ich-Erzähler übertragen werden und der Schmidt‘sche Stil des Frühwerkes in das Sprechen des Ich-Erzählers integriert wird. Da die Figuren des Schmidt‘schen Werkes fast immer ihrem Autor nachgebildet sind, ist deckungsgleich zur Interfiguralität auch eine Form der Interauktorialität vorhanden. Das Sprechen der Figuren weist zudem zum großen Teil – gerade an Stellen, an denen auf die „Berechnungen“ verwiesen wird – einen literaturkritischen und werkkommentierenden Gestus auf, so auch Eulers Äußerung über das Werk vor „Zettel’s Traum“: „Das Umgangssprachliche, der Klang, die Brechung, die Wortspiele. So richtig versteht das nur, wer wie wir nördlich vom Main kommt, die Wortzerlegung, die Typografie, und dann diese Spielerei mit der Interpunktion, dazwischen Sätze, als Satzzeichengerippe, die nur noch Kommata, Punkte, Gedankenstriche, Auslassungspünktchen sind, keine Buchstaben mehr – die reine Form des Erzählens. Da war kein Sprachzweifel am Werk wie bei den Kakaniern, sondern der feste Glaube – hier stehe ich, ich kann nicht anders – an die Wirkung des Wortes.“

Die bereits genannten Konzepte werden an diesen kommentierenden Stellen durch ein weiteres Konzept der Intertextualität, durch das der Metatextualität (nach Gérard Genette) ergänzt. Zu diesen vielfältigen Konzepten, die sich auf der Ebene von Handlung und Figuren nachweisen lassen, kommt eine verhaltenere Form der Stilimitation. Diese Form wird durch Timm nur punktuell eingesetzt und findet sich beispielsweise in der Imitation der Mündlichkeit in der Verlobungsanekdote des Juristen (34), durch die Nutzung von Lautmalerei à la „Das Tack Tack der hohen Absätze auf dem Gang.“ oder in der Einarbeitung von Dialekten in den Figuren des Bargfelder Bauern (42) und des Münchner Polizisten (99).

Fazit

Das Bild, das die Novelle von Arno Schmidt zeichnet, ist zu Beginn ein eher negatives. Es entstammt der Lektüre der Studenten und geht damit auf die Selbstzeichnung Arno Schmidts in seinen Texten zurück. Falkner, der an der Fahrt nach Bargfeld nicht teilnimmt, formuliert als Begründung sein aus der Lektüre extrahiertes Arno-Schmidt-Bild: „[…] der Typ muss nach dem, was ich gelesen habe, unerträglich sein. Größenwahnsinnig. Selbstgerecht. Wahrscheinlich ohne jede Selbstironie.“ (39) Auch die übrigen drei Studenten beziehen sich in ihrem Bild auf die Selbstbeschreibungen des Alter Ego Dr. Mac Intosh aus der Erzählung „>Piporakemes<“ als kauzigen, grantelnden und überheblichen Menschen. Durch die Begegnung mit Arno Schmidt in Bargfeld und den Blick in das Gesicht mit den „Logarithmen-geprägten Zügen“ wird das Bild kaum relativiert. Schmidt wird auch nach der Begegnung in ähnlichem Ton als „abweisend muffig“ beschrieben. Der als Jünger bezeichnete Euler ist gekränkt, weil der Meister sein Manuskript als „[w]ackeres Schmidt-Imitat“ ablehnt und der Ich-Erzähler ist verärgert, weil er den Schriftsteller erst gar nicht zu Gesicht bekommt. Das positive und humorvolle Bild von Arno Schmidt, das sich bei Leser und Leserin am Ende der Novelle dennoch einstellt, ist dem Erzählgestus zu verdanken. Die Bewunderung des Studenten Eulers, der laut Ich-Erzähler das Werk Arno Schmidts, des Meisters geradezu predigt (10), ist im Laufe der Jahre auf den Ich-Erzähler übergegangen, der Arno Schmidt und seinem Werk in seiner Erinnerungsidylle ein Denkmal setzt.

Zwar finden intertextuelle Verweise auf Arno Schmidt immer wieder Eingang in die neuere Literatur, wie beispielsweise in Juli Zehs „Spieltrieb“ oder in Martin Walsers „Muttersohn“ – Uwe Timms Novelle „Freitisch“ aber ist in ihrer Referenz auf Arno Schmidt und dessen Prosawerk umfassender. Die Anspielung auf Schmidt wird über einfache intertextuelle Konzepte wie das bloße Zitieren von Werktiteln, aber auch komplexere intertextuelle Modelle wie die Stilimitation und die Interfiguralität detailreich gestaltet. Grundlage der ausführlichen Referenz ist dabei sowohl die biografische Figur des Autors Arno Schmidt als auch dessen Werk. Die Bezüge sind auf verschiedenen Textebenen wie der Handlung, der Thematik und der Figurensprache angelegt. Uwe Timms Novelle „Freitisch“ ist in der Nutzung der intertextuellen Möglichkeiten hochgradig artifiziell und eröffnet damit LeserInnen, die das Werk Schmidts nicht kennen, bis hin zu LiebhaberInnen eine interessante Lektüre.

Literatur

Broich, Ulrich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, hg.v. Ulrich Broich und Manfred Pfister, Tübingen, 1995, S. 31–47.

Fränzel, Marius: Schmidt am Freitisch. In: Bargfelder Bote Lfg. 343-344, S. 21–22.

Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, hg.v. Ulrich Broich und Manfred Pfister, Tübingen, 1995, S. 1–30.

Schmidt, Arno: Kühe in Halbtrauer, Karlsruhe 1964.

Schöll, Julia: »der Autor, ich«. Auktoriale Selbstentwürfe in Uwe Timms Poetologie(n). In: Uwe Timm. Text+Kritik, Heft 195, S. 28–37.

Schulte-Middelich, Bernd: Funktionen intertextueller Textkonstitution. In: Intertextualität.Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, hg.v. Ulrich Broich und Manfred Pfister, Tübingen, 1995, S. 197–242.

Timm, Uwe: Freitisch. Novelle, Köln 2012.