Reden, reden, reden über den NSU

Soziologische Texte über den NSU-Terror, zusammengestellt von Imke Schmincke und Jasmin Siri

Von Martin SchönemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schönemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im November 2011 starben Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, ihre Komplizin Beate Zschäpe stellte sich kurz darauf der Polizei. Seitdem weiß die deutsche Öffentlichkeit von den Taten dieser drei Rechtsradikalen: Sie nannten sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) und verübten aus der Illegalität heraus eine Serie von Raubüberfällen sowie gezielte Morde an neun migrantisch aussehenden Männern und einer Polizistin. Die Terrorserie dauerte mehr als ein Jahrzehnt, dennoch gelang es den Behörden weder durch polizeiliche Ermittlungen noch durch den Einsatz Dutzender von V-Leuten, die Täter dingfest zu machen.

In der öffentlichen Reaktion auf diesen für Deutschland hochpeinlichen Fall überwiegt Fassungslosigkeit: Die einen verdrängen das Thema, die anderen versuchen es durch Verschwörungstheorien erklärbar zu machen. Dieser Fassungslosigkeit stellt sich das Buchprojekt von Imke Schmincke und Jasmin Siri entgegen. Die beiden Herausgeberinnen, Mitarbeiterinnen der Universität München, legen in ihrem Buch den Fokus nicht auf den ungeheuerlichen Kriminalfall selbst, sondern auf soziologische Kontexte desselben. So versuchen sie, die Debatte zu versachlichen, Einordnung zu erleichtern. Neben Wissenschaftlern kommen politische Akteure, Betroffene, sogar Lyriker zu Wort, der Sammelband präsentiert sich als bewusst lose komponierte Sammlung von Interviews, Gedichten, Stellungnahmen und kleinen soziologischen Studien. Entsprechend ergibt sich ein breit gefächertes Bild weniger des NSU selbst, sondern vor allem des Milieus, das ihn ermöglichte.

Über dieses lobenswerte Ansinnen hinaus hat das Buch jedoch wenig zu bieten. Vielleicht liegt das daran, dass der theoretische Ansatz, der die Beiträge zusammenhält, wissenschaftlich überaus bescheiden bleibt. Die Herausgeberinnen beschreiben ihr Vorhaben so: „Es ist ein Ziel dieses Buches, die Debatte um das Bekanntwerden der Gruppe und ihrer Morde selbst in den Blick zu nehmen und dabei notwendigerweise zu erkennen, dass politische und mediale Diskurse dazu beitragen, politische Ordnungen zu befestigen. […] Wir wollen den Gegenstand nicht so zurichten, dass keine Fragen mehr offen bleiben, wollen die Offenheit, mit der die Gewalt sich zeigt, nicht mit theoretischen Immunisierungen beantworten.“ Mit anderen Worten: Es genügt ihnen, das Selbstverständliche festzustellen und ein allgemeines Bild des Phänomens zusammenzustellen. An einer Klärung weitergehender Fragen sind sie nicht interessiert.

Zugegeben: Die Klärung konkreter Fragen zum NSU-Skandal ist in mancherlei Hinsicht schwierig und riskant. Immerhin ist der NSU-Prozess am Münchner Oberlandesgericht noch lange nicht abgeschlossen, beinahe monatlich werden neue Details bekannt. Insgesamt gibt es mehr offene Fragen als gesicherte Erkenntnisse, zusammenfassende Urteile sind kaum möglich. Entsprechend groß ist die Versuchung für Soziologen, es bei Pauschaleinschätzungen zu belassen – oder bloßen Vermutungen nachzugeben. Dazu ein Beispiel: Ulrich Bielefeld verweist in seinem Beitrag zum „NSU als Form der Hetzmeute“ auf den Umstand, dass rechtsradikale Musiker aus dem NSU-Umfeld deren Migranten-Morde 2009 in dem Lied „Döner-Killer“ feierten. Dass sie den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter dabei nicht erwähnten, erklärt Bielefeld mit rassistischen Vorurteilen dieser Musiker. Das ist aber nur eine von vielen Deutungsmöglichkeiten. Denn der Autor weiß nicht, ob die Verfasser des Lieds von dem Zusammenhang von NSU und dem Kiesewetter-Mord überhaupt wussten; ja, es ist noch nicht einmal endgültig geklärt, ob die NSU-Männer in diesem Fall tatsächlich die alleinigen oder maßgeblichen Täter waren. So bleibt Bielefelds Interpretation eine reine Spekulation.

Auch in anderen Beiträgen gibt es immer wieder Pauschalisierungen und Verallgemeinerungen, etwa wenn Marko Pfingsttag in einem Gedicht lamentiert „‘s war schon immer so./ So wird’s auch immer bleiben.“ oder wenn Armin Nassehi feststellt: „Wir reden links und leben rechts“, diese These aber nur anhand einer fragwürdigen Definition von Links und Rechts begründen kann.

Genau genommen gibt es in dem Buch nur eine Analyse, die durch wissenschaftliche Solidität überzeugt. Der Beitrag von Michaela Köttig mit dem schlichten Titel „Rechtsextremer Terror NSU. Die Konstruktion von Genderstereotypen“ widmet sich einem eng begrenzten Thema, der Wahrnehmung von Beate Zschäpe als rechtsextremer Frau, kommt aber zu einem erstaunlichen Ergebnis: Köttig zeigt, wie der NSU Klischeevorstellungen über rechtsradikale Frauen zur Tarnung seines Terrors nutzte. Von solcher aufschlussreichen Detailarbeit hätte man sich mehr gewünscht.

Erhellender als viele der soziologischen Texte wirken in Schminckes/Siris Buch die Beiträge, die von vornherein auf wissenschaftliche Theoretisierung verzichten und den Gegenstand direkt und parteiisch angehen, beispielsweise Nadja Shehadehs bewegendes selbstkritisches Bekenntnis zur Soziologie als „Anästhetikum“ („… ändert all das irgendetwas? Nein. Denn als die Morde geschahen, stellte ich keine Fragen, und heute schreibe ich Texte über sie.“) – oder ein gespielt naives Gedicht von Uljana Wolf („spielen/ heimatländer in den lüften karten?“), das die drastische Problematik von Heimat, Aufenthaltsrecht, Personenfreizügigkeit jenseits jeder ideologischen Simplifizierung thematisiert und deutlich spürbar macht. Beide, Shehadeh und Wolf, scheuen nicht vor Zuspitzungen zurück, aber sie stehen mit ihrer Person für ihre Texte ein. Gerade durch ihre Subjektivität wirken sie aufklärend, denn sie gehen die Probleme direkt an, lassen den weniger involvierten Leser verstehen, worum es geht.

Ähnlich geht auch Falk Neubert vor. Er ist Politiker der Linken in Sachsen und er schildert einige aktuelle Fälle von Rechtsbeugung in Sachsen, die ein erschreckendes Licht auf die Objektivität der Justiz in Sachsen werfen, wenn es um politisch motivierte Straftaten geht. Deutlicher als jede Rassismustheorie erweisen die von ihm erwähnten konkreten Beispiele eine Schieflage, die rechte Gewalt bagatellisiert, linke Gewalt dagegen aufbauscht und kriminalisiert, und illustrieren somit einen Hintergrund, der einige Ungereimtheiten im Zusammenhang mit der NSU-Affäre verstehbarer macht.

In der Zusammenschau zeigen die sehr unterschiedlichen Beiträge des Bandes deutlich, dass der NSU-Affäre mit soziologischem Fachchinesisch (damit tut sich besonders Stephan Lessenich hervor) und Allgemeinplätzen über den strukturellen Rassismus in Deutschland nicht beizukommen ist. Das eigentliche Skandalon bleibt davon unberührt.

Solange die Täter und ihre Hintermänner nicht überführt und bestraft sind, muss allgemeines Sinnieren über strukturelle Ursachen zurückstehen vor der konkreten Aufklärung des Falles und seiner Hintergründe. So absurd es scheint: Das ehrlich gemeinte Haltung-Zeigen gegen Rechts und Rassismus, das Schmincke und Siri mit diesem Band erreichen wollen – es verwischt die Spuren eher, es lenkt von den Schuldigen ab. Im Grunde ist es ein weiteres Dokument der Fassungslosigkeit.

Titelbild

Imke Schmincke / Jasmin Siri (Hg.): NSU-Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse.
Transcript Verlag, Bielefeld 2013.
221 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783837623949

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