Aus dem Seelenleben junger Mädchenblüte

Lou Andreas-Salomés Erzählungen „Im Zwischenland“ wurden nach langer Zeit neu aufgelegt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lou Andreas-Salomé hatte bereits ihr 56. Lebensjahr erreicht, als die zu dieser Zeit längst renommierte Schriftstellerin und Psychoanalytikerin 1917 ein schmales Bändchen veröffentlichte, das „Drei Briefe an einen Knaben“ enthielt. Bekanntlich handelte es sich bei den Briefen um literarische, mithin fiktive Werke. Man könnte sie fast schon zu ihrem Spätwerk rechnen, hätte sie nicht noch weitere zwei Dezennien Lebenszeit und lange Jahre fruchtbaren Schaffens vor sich gehabt, die sie zur Publikation etlicher weitere literarischer, essayistischer und wissenschaftlicher Werke zu nutzen wusste. Auch hat sie sich keineswegs erst in diesem doch schon reiferen Alter literarisch mit der Psyche Heranwachsender befasst. Bereits fünfzehn Jahre vor den „Drei Briefen“ war ihr wesentlich umfangreicherer Erzählband „Im Zwischenland“ erschienen. Doch anders als in den „Briefen“ hat sie sich in den dort enthaltenen „Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen“ dem eigenen Geschlecht zugewandt.

Nachdem der sich um Salomés Œuvre verdient machende Verlag MedienEdition Welsch 2008 die „Drei Briefe“ veröffentlicht hatte, ließ er im Rahmen der „Werke und Briefe Lou Andreas-Salomés in Einzelbänden“ nun als achten und jüngsten Band „Im Zwischenland“ folgen. Es ist die erste seit 1935 erschienene Ausgabe dieser Erzählungen.

Den titelstiftenden Ausdruck des Erzählbandes legt die Autorin dem älteren Bruder einer ihrer Protagonistinnen in den Mund. Ein junger Mensch in den „Flegeljahren“, der voller Verachtung befindet, seine jüngeren Geschwister seien zwar schon keine Kinder mehr, aber auch längst noch keine Erwachsenen, sondern „wohnten nirgends oder so in einem Zwischenland, einem Nirgendwo“. Der gerade mal 10-jährigen und somit doch noch sehr kindlichen Musja, aus deren Perspektive Salomé erzählt, scheint „das, was er da sagte – das vom Zwischenland“ sehr „unheimlich“. Dort müsse man „möglichst schnell hindurch zu den ganz Erwachsenen“, glaubt sie.

Musja, die ‚Heldin‘ der den Band eröffnenden und ihm den Titel stiftenden Erzählung, ist die jüngste aller Protagonistinnen der fünf Kurzgeschichten, aus deren Perspektive meist erzählt wird. Die mit ihren sechzehn Jahren fast schon erwachsene Ljubow steht im Zentrum der abschießenden Erzählung mit dem Titel „Wolga“. Ria, Lisa sowie das Schwesternpaar Mascha und Dascha sind dreizehn oder vierzehn Jahre alt, befinden sich also nicht an den Grenzen des Zwischenlandes.

Ähnlich wie Musja fühlt sich auch Ria, die Protagonistin der Erzählung „Vaters Kind“: im Zwischenland, wenngleich ihr dieser Ausdruck unbekannt ist. Sie mag sich nicht mehr den Kindern zurechnen lassen, wenngleich sie sehr wohl weiß, dass sie auch noch keine Erwachsene ist, „sondern sozusagen nur ein gewesenes Kind.“ Zu ihrem Vater pflegt sie eine Beziehung von „innig vertrauensvoller Heiterkeit“. Er ist es auch, an den sie sich mit all ihren Problemen und Fragen wendet, ist sie doch zweifellos seine Lieblingstochter. Die Mutter hingegen versucht Ria und ihre Schwester in gleichem Maße zu lieben und keine der beiden zu bevorzugen. Nachdem Ria das Vertrauen in den Vater aufgrund eines einschneidenden Ereignisses verliert und sich verzweifelt zu ihrer Mutter flüchtet, nutzt diese die Situation nicht etwa, um ein eigenes, von ihr ersehntes Vertrauensverhältnis zu ihrer Tochter aufzubauen, sondern führt sie selbstlos wieder ihrem Vater zu. Diese aufopferungsvolle, ‚weibliche‘ Haltung, welche die eigene Liebe zur Tochter hinter die des Mannes stellt, lässt die Botschaft der Geschichte denkbar fragwürdig erscheinen. Auch wird ihr harmlos-harmonisierendes Ende dem Konflikt des Mädchens keinesfalls gerecht.

Hierfür entschädigen jedoch die anschließenden Erzählungen. Die Vorstellungskraft der dreizehnjährigen Protagonistin Lisa aus „Die erste Erfahrung“ reicht bis zur „noch deutlich in der Ferne in Aussicht“ liegenden Verlobung, auf die jeder Mensch hinlebe. Die ebenso angestrebte wie unumgängliche Verlobung ist „der Strich an ihrem Horizont; was dahinter kam, musste sich ohne weiteres noch alles mit in diesen Strich hineinbequemen; es war eben das ‚übrige‘ Leben. Das lag irgendwo jenseits, jedenfalls jenseits aller deutlichen Einzelvorstellungen.“ Bewundernd blickt Lisa zu der bereits erwachsenen, ja welterfahren erscheinenden Tatiana auf. Diese wird als selbstbewusste Frau eingeführt, die wenig davon hält, wenn ihre Geschlechtsgenossinnen sich von Männern und Liebhabern „ohne weiteres beleidigen und treten“ lassen. „Lieber“, so findet sie, „sollte sie ihn die vier Stockwerke hinabstürzen.“ Bald wird Tatiana den von Lisa unschuldig angehimmelten Alexander heiraten. Heimlich besucht Lisa das frisch vermählte Paar und findet eine völlig verwandelte, unterwürfige Tatiana ohne jede Selbstachtung vor, die nun stammelnd klagt, „daß wir dazu da sind, um an den Mann fortgeworfen zu werden, – um ihm vorgeworfen zu werden, seine Beute, die er zerstampft, – hörst du: zerstampft, – er, dem wir doch angetraut worden sind, – er, der unser Leben ausmacht, er, – er –“. Eine Erzählung, die sich als Warnung vor allzu rosaroten Mädchenträumen, vor der Ehe und vor der Männergewalt lesen lässt.

Die beiden titelstiftenden Schwestern Dascha und die um ein Jahr ältere Mascha verbindet ein Vertrauensverhältnis, das noch um einiges inniger ist als dasjenige zwischen Ria und ihrem Vater. Zumindest scheint es aus der Erzählperspektive lange Zeit so. Die jüngere Dascha, aus deren Sicht die Kurzgeschichte erzählt wird, glaubt sich mit der Älteren geradezu eins. Dabei ist es der Unterschied dieses einen Jahres, der in der Adoleszenz so bedeutend sein kann, dass er die beiden Schwestern schließlich grausam auseinanderreißen wird und Dascha erkennen muss: „Mascha hatte also ganz für sich gelebt, – nicht nur heute, – nein, immer schon, die ganze Zeit. Sie war gewesen, wo Dascha nie war. In einem ganz anderen Leben war sie herumgegangen, – in einem ganz ganz fremden.“ Es ist die erwachende Sexualität der Älteren, die sie auseinanderführt, wie man schon bald ahnt. Ganz unvorbereitet jedoch trifft nicht nur Dascha, sondern auch die Lesenden das geradezu entsetzliche Ende, das nun einen langen Schatten auch auf die zuvor von Dascha als regelrechte Idylle erlebte vermeintliche Zweisamkeit wirft. Es ist diese Geschichte, die düsterste von allen – und doch bleibt sie dabei denkbar subtil. Auch sie enthält eine Warnung. Wiederum gilt sie ihm, „von dem alles Böse ausging, alle böse Macht und auch die Liebe, – er, ‚der Mann‘ –.“

„Die große schöne weiche Gestalt“ Ljubows, der sechzehnjährigen, aber um zwei Jahre älter wirkenden Protagonistin der abschließenden Geschichte, „verkündet“ stolz: „‚ich bin eine ausgewachsene Person, eine Dame bin ich!“ Dem widerspricht jedoch noch immer ihr „rundes Kindergesicht“. Auch Ljubow lebt noch im Zwischenland, wenngleich sie bereits dabei ist, die Grenze zum Erwachsenendasein zu überschreiten. Auf einer Dampferfahrt entlang der Wolga verliebt sie sich in einen der Passagiere, Doktor Valdevenen, der ihre „Lieblichkeit“ gerne „einfach gewaltsam unter eine Glasglocke setzen“ und so erhalten möchte. Eine Gewaltfantasie, die für den Fortgang der Ereignisse wenig Gutes zu verheißen scheint. Doch klingt im weiteren Verlauf der Erzählung keine von dem paternalistisch denkenden Valdevenen ausgehende Gefahr an. Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass er ihr körperliche Gewalt antun möchte. Vielmehr würde er sogar gerne verhindern, dass Ljubow je „irgend etwas Hässliches“ zu sehen bekommt und sie „am liebsten immer – für immer – vor allem Unschönen bewahrt wissen.“ Gerade das aber ist ebenfalls eine, wenn auch subtile, Form von Gewalt, die impliziert, die Frau vom Leben und der Welt fern, und stattdessen in Unmündigkeit zu halten. Dabei wünscht Ljubow sich insgeheim, ein Mann zu sein, denn der könne tun, was immer ihm beliebt.

Zwar hält der offenbare Schopenhauer-Schüler Valdevenen prinzipiell wenig davon zu heiraten, da er als Arzt schon „genug Elend rings um mich her sehe, um nicht selber auch noch welches verursachen zu wollen.“ Aufmerken lässt an dieser Stelle, dass er nicht fürchtet, selbst unter der Ehe zu leiden, sondern er – wie alle Männer – in der Ehe vielmehr Leiden verursachen werde. Letztlich aber, so räsoniert er, sei es „ja doch im Grunde auch ganz gleichgültig, wer es schließlich einmal sein wird“, der Ljubow heiraten wird, „irgend so ein Laffe bekommt sie doch einmal – irgend so einer –“. Wieso also nicht er selbst? Offen wie das Leben selbst bleibt der Ausgang der Liebesgeschichte zwischen Ljubow und Dr. Valdevenen – trotz eines Kusses und einer Trennung.

Eine nette Idee dieser letzten Erzählung ist, dass die Protagonistinnen der vorhergehenden als frühere „Gefährtinnen“ miteinander verknüpft werden. Ein hübscher Kunstgriff, für den Andreas-Salomé ein kleiner Absatz genügt. Gelegentlich brilliert die Autorin sogar mit ganz wunderbaren Bildern: „Zu ihren Füßen raschelten, unheimlich lebendig, die dürren Blätter, aus langem Herbstschlaf aufgestört.“ Ihnen stehen allerdings auch immer wieder stilistisch wenig ausgefeilte Formulierungen gegenüber. „Ria trank etwas eilig den ihr vorgesetzten Kaffee aus, sie trank ihn aus der alten geblümten Kindertasse“, mag als Beispiel hierfür genügen. Und gelegentlich sind die Namen der – menschlichen wie tierischen – Figuren allzu sprechend, so soll das schließlich vom Vater zu Tode gebrachte Hündchen Love die Liebesbande zwischen Ria und ihrem „Verehrer“ knüpfen, und auch Ljubows Name bedeutet Liebe. Doch damit nicht genug: In beiden Fällen schreckt die Erzählung nicht davor zurück, auch ganz ausdrücklich auf den Sinn der Namen aufmerksam zu machen.

Die Herausgeberin Britta Benert weist im Nachwort darauf hin, dass die Protagonistin der abschließenden Geschichte „Wolga“ ursprünglich Olga heißen sollte und die Namensänderung der Erzählung eine „(recht radikale) Neuorientierung“ verleiht. Doch hat die Herausgeberin nicht nur ein Nachwort verfasst, sondern auch einen Kommentar, der etwa alle Unterschiede zwischen den Erstdrucken und den ersten Buchausgaben der Erzählungen verzeichnet sowie über diverse Wortbedeutungen aufklärt. Zudem enthält der Band verschiedene zeitgenössische Rezensionen zur ersten Buchausgabe. Die von der Herausgeberin nicht zu Unrecht als „engste Vertraute“ Salomes vorgestellte Frieda von Bülow etwa stimmt eine Hymne auf die „unerreichte Genialität“ der Erzählungen an und zeigt so vor allem eins, nämlich dass es nicht empfehlenswert ist, Bücher nahestehender Menschen zu besprechen. Überhaupt fällt auf, dass die Rezensionen ausnahmslos positiv ausfallen, was allerdings auch auf die von der Herausgeberin getroffene Auswahl zurückzuführen sein mag.

Tatsächlich gelingt es Andreas-Salomé vortrefflich, das Seelenleben der heranwachsenden Protagonistinnen vor die Augen der Lesenden treten zu lassen. Dabei lässt sie auch ein gelegentliches Augenzwinkern nicht vermissen, ohne sich allerdings je über die Mädchen und ihre Nöte lustig zumachen. Und selbst in eine „Terrierseele“ weiß sie sich angelegentlich zu versetzen. Zudem wohnt den Erzählungen ein emanzipatorisches Moment inne – und nicht selten eine Warnung vor der Ehe, dem Mann schlechthin gar. Mag die Warnung vor der Ehe auch zeitbedingt gewesen sei, hat sich im Eherecht doch seither einiges getan. Gleichwohl lassen sich noch immer gute Gründe gegen eine Eheschließung anführen. Und die Warnung vor dem Mann ist eh von zeitloser Gültigkeit.

Titelbild

Lou Andreas-Salomé: Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Britta Benert.
MedienEdition Welsch, Taching 2013.
455 Seiten, 32,80 EUR.
ISBN-13: 9783937211299

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