Ein Nietzsche für Liebhaber

Der „Zarathustra“ eröffnet eine neue Gesamtausgabe

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man reibt sich verwundert die Augen: das soll es noch nicht geben – eine Gesamtausgabe von Nietzsches Texten in der vom Autor intendierten Form? Und doch ist es so: Bevor der Philosoph im Januar 1889 in Turin zusammenbrach, existierten nur die einzelnen Bücher. Danach war vor allem seine Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche, für die Editionen verantwortlich. Obwohl die Worte mit wenigen Ausnahmen tatsächlich von Nietzsche stammten, veränderte sie die auch nach Gutdünken, strich hier eine wütende Polemik gegen den Antisemitismus oder fügte dort ein paar Huldigungsworte an den Kaiser ein, den ihr Bruder verabscheute. In dieser Version avancierte Nietzsche bekanntlich auch zum Haus- und Hofphilosophen der Nazis, die ihn allerdings selten gründlich lasen. Im Gegensatz zu etwa Benito Mussolini, dessen Verehrung wenigstens auf genauer Kenntnis des – manipulierten – Textes basierte. Daraus erklärt sich die gegenläufige Tendenz aller späteren Nietzsche-Ausgaben, die dem Leser einen möglichst authentischen Textbestand mitgeben wollen. Exemplarisch dafür ist die kritische Gesamtausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, die sämtliche Textschichten erfassen und den Prozess der Entstehung sichtbar machen will. In diesem „Work in Progress“ aus Prinzip geht allerdings der von Nietzsche autorisierte Text als eine Fassung von vielen unter. Dabei beharrte gerade er auf dem abgeschlossenen Werkcharakter seiner Bücher und widmete sich auch solchen scheinbaren Nebensächlichkeiten wie ihrem Design. So ließ er seine Texte nicht in Fraktur setzen, wie es in Deutschland allgemein üblich war, aber ausländischen Lesern die Lektüre erschwerte, sondern bediente sich bewusst der international gebräuchlichen Antiqua-Type.

Die Idee hinter der neuen „Basler Ausgabe“, die Ludger Lütkehaus und David Marc Hoffmann verantworten, ist darum so bestechend wie einfach: In einer „Ausgabe letzter Hand“, die auf zwanzig Bände angelegt ist, präsentieren sie Faksimiles der letzten von Nietzsche verantworteten Ausgaben. Sie zusammen ergeben das zu Lebzeiten veröffentlichte oder jedenfalls noch von Nietzsche selbst autorisierte Gesamtwerk, eine „editio definitiva“ statt einer „editio infinita“. Sie reicht vom Erstling „Die Geburt der Tragödie“ (1872) bis zu den „Dionysos-Dithyramben“ (1888-89), den Poemen, an denen er noch wenige Tage vor dem Turiner Kollaps schrieb. Dass es eine „Basler Ausgabe“ geworden ist, passt nicht nur zu Nietzsches Biografie, der in der alten Stadt am Rheinknie von 1869 bis 1879 bekanntlich Professor der Altphilologie war. Der Name leitet sich auch vom Sitz des Stroemfeld Verlages her, der sich durch seine Faksimile-Ausgaben von Hölderlins, Kleists und Kafkas Manuskripten einen Namen gemacht hat. Demgegenüber ist die Ausgabe von Lütkehaus und Hoffmann allerdings ein viel einfacheres Unternehmen, weil sie einfach schon existierende, wenn auch entlegene Ausgaben reproduziert, die in Nietzsches aktiver Zeit praktisch unverkäuflich waren. Aus den 16 Einzelheften der Stroemfeld-Ausgabe von „Der Proceß“ könnte sich jeder Leser seine individuelle Fassung des Kafka-Romans zusammenstellen. Eine solche Vieldeutigkeit wollen die beiden Herausgeber aber gerade vermeiden. Auf einen Kommentar wird zum großen Teil verzichtet und was sich auf den wenigen Seiten am Ende der Bände findet, bezieht sich auf die Entstehung und Überlieferung des Textes, nicht auf seinen Inhalt. Aber dafür gibt es ja den großen Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, der seit einigen Jahren am Deutschen Seminar der Universität Freiburg entsteht, an dem Lütkehaus wohl nicht zufällig Honorarprofessor ist.

Nur auf den ersten Blick erscheint es widersinnig, eine solche Ausgabe gerade mit „Also sprach Zarathustra“ zu beginnen, also mit Band 11 und 12 des chronologisch angelegten Unternehmens. Der „Zarathustra“ bildet aber nicht nur ungefähr die zeitliche Mitte des Werkes. Seit Nietzsche 1881 auf einem Spaziergang im Engadin seiner Figur in einem Inspirationserlebnis begegnete, wurde sie zum Dreh- und Angelpunkt der noch folgenden Arbeiten. 1882 lässt er sie am Ende des (damals) letzten Teiles seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ erstmals auftreten, und noch in der 1888 geschriebenen Autobiografie „Ecce Homo“ widmet er dem „Zarathustra“ mehr Platz als allen anderen Arbeiten. Ungewöhnlich für einen philosophischen Text ist auch die Wahl eines fiktionalen Rahmens, eines Protagonisten, einer wenn auch rudimentären Handlung, mit der Nietzsche eher an das Neue Testament und die Dialoge Platos anknüpft als an den nüchternen Neukantianismus seiner eigenen Zeit.

Diese große Lebendigkeit hat sicher dazu beigetragen, dass der 1883-85 geschriebene „Zarathustra“ über Jahrzehnte der weitaus populärste Text Nietzsches war, inklusive Übermenschen-Lehre und berüchtigter Zitate wie „Gelobt sei, was hart macht!“ und „Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!“ Dass diese oft aus dem Zusammenhang gerissen wurden und dass Nietzsche ein (fragwürdiges) Programm für eine Elite von über das Gesetz gestellten Individuen, nicht für nationalen Chauvinismus im Sinn hatte, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Umso schöner, dass der Text in der von Nietzsche autorisierten Fassung nun wieder zugänglich ist. Der Clou dabei ist, dass „Also sprach Zarathustra“ erstmals seit 1893 wieder in seiner ursprünglichen Form erscheint, nämlich in zwei Bänden. 1886 hatte Nietzsche seinem ehemaligen Verleger Ernst Schmeitzner die unverkaufte Restauflage der ersten drei Teile abgekauft, immerhin 900 Exemplare. Dann ließ er sie bei Fritzsche, der schon die „Geburt der Tragödie“ publiziert hatte, mit einer neuen Titelseite wieder auf den Markt bringen. Daneben existierte jedoch noch ein vierter Teil, aus Nietzsches Sicht eigentlich ein „ineditum“, das er nur in einer kleinen Privatauflage von 45 Exemplaren hatte drucken lassen, von denen nur noch fünf existieren; damit wurde der vierte Teil so etwas wie eine „esoterische“ Botschaft, die ausdrücklich nicht für eine größere Gruppe von Lesern bestimmt war. Es war Nietzsches Schüler Heinrich Köselitz (alias Peter Gast), der zuerst eine Ausgabe aller vier Bände verantwortete, übrigens gegen beträchtlichen Widerstand von Nietzsches Mutter und Schwester, die eine Klage wegen Blasphemie befürchteten. Natürlich ist diese Trennung zwischen beiden Bänden für heutige Leser meist belanglos, weil sie den ganzen „Zarathustra“ lesen und beurteilen wollen. Trotzdem legen Lütkehaus und Hoffmann damit zum ersten Mal seit beinahe 120 Jahren eine Version des Textes vor, die den Absichten seines Autors entspricht.

Für wen ist die „Basler Ausgabe“ bestimmt? Wer sich um Textfassungen und philologische Umstände nicht schert, für den sind Nietzsches Arbeiten im Buchhandel für wenig Geld und in diversen Online-Datenbanken kostenfrei zugänglich. Wer sich für den Prozess der Entstehung und alle Nuancen des Textbestandes interessiert, wird weiter auf Collis und Montinaris Edition zurückgreifen. Natürlich ist die Basler Ausgabe ein Komplement dazu, weil sie das Ergebnis neben die Bruchstücke setzt. Sie ist aber auch – und vor allem – die schönste, eleganteste Nietzsche-Ausgabe, die derzeit zu bekommen ist. Mit bestechend klarem Druckbild und eleganten türkisfarbenen Einbänden, die dem Text einen würdigen Rahmen geben, ohne ihn zu überstrahlen. Kurz: ein Nietzsche für Liebhaber. Möge er viele Freunde finden.

Titelbild

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. In drei Theilen. Basler Ausgabe.
Herausgegeben von Ludger Lütkehaus und David Marc Hoffmann.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2013.
370 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783866002111

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Titelbild

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Vierter und letzterTheil. Basler Ausgabe.
Herausgegeben von Ludger Lütkehaus und David Marc Hoffmann.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2013.
160 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783866002128

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