Eine Sprache wie gemalt

Im Debüt der Bachmann-Preisträgerin 2013 Katja Petrowskaja verdichtet sich die Suche nach den Vorfahren zu einem Stück osteuropäischer Geschichte.

Von Lisa-Marie GeorgeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa-Marie George

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über ein halbes Jahr hat die literarische Öffentlichkeit auf den ersten Roman „Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja gewartet. Seit sie im vergangenen Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, stiegen die Erwartungen an das Werk, aus dem sie beim Wettbewerb vorgelesen hatte.

In ihrem Roman verfolgt sie die Annäherungen der Erzählerin an die Verzweigungen ihrer Familiengeschichte. Mittlerweile in Deutschland lebend, begibt sie sich auf eine Reise in die Vergangenheit Osteuropas und sucht an verschiedenen Orten in Polen, Russland und der Ukraine nach ihren Wurzeln. Ein Thema, das schon oft in der Literatur bearbeitet wurde und hier nun in der Generation der Urenkel zum Versuch einer zeugenlosen Rekonstruktion wird.

Bereits beim Bachmannpreis erinnerte der Text im Thema, in der Verwendung von Fotografien und in den schier endlosen Sätzen an das Werk von W. G. Sebald, auch er ein Kandidat beim Bachmannpreis, allerdings im Jahr 1990. Sebald ist ein wichtiger Autor für Petrowskaja. Doch wird sie dadurch zur Epigonin?

Petrowskaja hat sich von literarischen Vorbildern inspirieren lassen, aber ist dabei ihren eigenen Weg gegangen. Ein Weg, der sie von Deutschland in ihre Heimat, die Ukraine, nach Russland und Polen führte. Die Autorin reflektiert, genau wie Sebald, den Prozess der Erinnerung, schafft es dabei aber, sich nicht allein auf dieses Thema zu beschränken. Die Sprache, die Worte und Sätze macht Petrowskaja zu ihrem Gegenstand und ihrem Kunstwerk.

Wenn die Erzählerin im Roman sinniert „Mein Deutsch blieb in der Spannung der Unerreichbarkeit und bewahrte mich vor Routine“, dann ist das ganz nah an der Autorin selbst. Die Nicht-Muttersprachlerin kostet die deutschen Wörter aus, mit denen sie eine jüdisch-russische Familie zum Klingen bringt. Man kann die Worte beinahe auf der Zunge schmecken: „Die letzten Krzewins, die Nachfolger der Hellers, kannte ich noch, jene Verwandten mit dem leicht knirschenden Namen, wie Schnee unter den Füßen, wie kowrishka, Pfefferkuchen, zwischen den Zähnen.“

Petrowskaja empfindet die Geschichte ihrer Familie, die sie nun in ihrem ersten Roman erzählt, als ein Geschenk an ihre Fantasie. Der realistische Stoff, so sagt sie selbst, ist ihre Palette. Seite um Seite malt daher auch die Erzählerin im Roman ein Bild, in dem Realität und Fantasie aufeinander treffen: „[…] eine Kirche, ein Krug, ein Kerzenständer, die Windsbraut am Himmel, der voll ist von fliegenden Objekten, noch eine Kirche mit kupfernen Zwiebeltürmen und schiefem, goldenem Kreuz, dann Geige und blaue Blume eines Jungen mit großen langbewimperten Augen, sie ziehen noch ein paar Kreise über der Erde ihres geliebten Polania, […] und hier könnte die Geschichte einer Familie, eines Clans anfangen und vielleicht sogar diese Geschichte.“

Erinnerungen an einen anderen Künstler jüdisch-russischer Herkunft werden wach. Der Text ist so farbig und symbolträchtig wie ein Zirkusbild von Marc Chagall.

Es ist diese sinnliche Erfahrung, die das Erstlingswerk der Autorin Katja Petrowskaja zu einem neuen und anrührenden Erinnerungsspeicher macht. Gleichzeitig bleibt sie nah am Leben und an der Geschichte Osteuropas: Die Suche nach den Vorfahren ist ein exemplarisches Stück Zeitgeschehen.

Und als hätte sie beim Schreiben darüber sinniert, lässt Petrowskaja die aktuellen Ereignisse in ihrer Heimat – der Ukraine – anklingen: „[…] wie soll Demokratie funktionieren, wenn man nur das kriegt, was man schon gesucht hat, und wenn man das ist, was man sucht, so dass man sich nie allein fühlt oder immer, denn man hat keine Chance, die anderen zu treffen, und so ist das mit der Suche, bei der man auf Gleichgesinnte stößt, Gott googelt unsere Wege, auf dass wir nicht herausfallen aus unseren Fugen […].“

Es ist ihr journalistisches Handwerkszeug, das sie in ihr literarisches Schreiben einbringt. Sie googelt, beobachtet, imaginiert. Für sie gibt es keine rein journalistischen Texte und keine reine Literatur. Alle Möglichkeiten zu zitieren, zu sprechen und zu schreiben will sie nutzen.

Es ist diese Mischung aus authentischer Biografie und dichterischer Fiktion, die Katja Petrowskaja in ihrer leichten Erzählweise miteinander verbindet, so dass der Marathonlauf durch die Geschichte nie zur trockenen Geschichtsstunde verkümmert.

Erst eine Nicht-Muttersprachlerin macht die jüdisch-sowjetische Geschichte, die hier erzählt wird, in der deutschen Sprache für ein deutsches Publikum verständlich. Ein Paradox? Keineswegs, denn genau diese Verschränkung lässt die Geschichte nie ins Pathetische abrutschen. Sie schafft Verständnis; für das eigene Selbst, für die eigene Geschichte und für die Entdeckung der eigenen Sprache – eine leuchtende Sprache.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
285 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424049

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