Eine doppelte Spurensuche (2)
Terézia Mora stellt in ihrem preisgekrönten Roman „Das Ungeheuer“ die Leserschaft auf eine ereignisreiche Bewährungsprobe
Von Sabine Wohs
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseTerézia Moras eindrucksvoller Roman „Das Ungeheuer“, innerhalb einer Trilogie als Fortsetzungsroman von „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ erschienen, wurde 2013 mehr als zurecht mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Zum Selbstverständnis des Preises gehört es, die Bevölkerung zum Lesen aufzufordern und auf deutschsprachige Literatur und Autoren über Ländergrenzen hinweg aufmerksam machen. Diese Anforderungen wurden mit dem neusten Mora-Roman grandios erfüllt.
In „Das Ungeheuer“ begegnet die Leserschaft erneut Darius Kopp, der diesmal allerdings deutlich verändert erscheint. War er im ersten Roman noch der aufgeschlossene und positiv denkende IT-Spezialist, ist er nun der arbeitslose und verzweifelte Witwer. Nach zehnmonatiger Einsamkeit in seiner Wohnung – er verbarrikadiert sich regelrecht – bricht er in das Heimatland seiner Ehefrau Flora auf, um dort nach Anhaltspunkten für die Ursachen ihres Suizids zu suchen. So ließe sich der Roman in wenigen Worten zusammenfassen, doch ist dadurch längst nicht alles über seine beeindruckende Vielschichtigkeit gesagt. Denn im Vergleich zum ersten Roman hat nicht nur Darius eine Entwicklung durchgemacht, sondern auch die Erzählweise hat sich maßgeblich verändert. „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ verfügt über die Satztechnik eines konventionelles Romans und ermöglicht somit einen Lesefluss. „Das Ungeheuer“ hingegen löst zunächst Verwirrung bei der Leserschaft aus: Die Textfläche auf den einzelnen Seiten ist mit einer durchgezogenen Linie in der Mitte in zwei Hälften geteilt. Diese Trennlinie versinnbildlicht die Grenzen zwischen Lebenden und Toten, zwischen Mann und Frau, zwischen Gegenwart und Vergangenheit und trennt zudem zwei Erzählperspektiven voneinander ab: die von Darius, die von Flora. Darius‘ Geschichte wird auf der oberen Hälfte der Buchseite erzählt und spielt in der Gegenwart. Immer wieder kreuzen sich Erzählerfigur und innere Monologe. Zudem imaginiert Darius Dialoge mit seiner verstorbenen Frau. Diese Dialoge, ohne Kennzeichnung der Sprechenden, vermitteln den Eindruck eines stetigen Perspektivwechsels.
Darius‘ Reise und seine zahlreichen Begegnungen werden detailreich erzählt, wobei die Beschreibung der Geschehnisse stets einen düsteren, fast ungeheuerlichen Unterton besitzt: „Menschen, die ins Meer gehen. Der Punkt, an dem man, selbst wenn man es wollte, nicht mehr zurück könnte, ist schneller erreicht, als man denkt. Im Meer schwimmen. In Kleidung schwimmen. Das Gewicht des Wassers in den Kleidern. Aber selbst, wenn man nackt wäre. Die letzten Minuten. Solange man noch kämpft. Denn man kämpft, immer, auch wenn man die Todesart selbst gewählt hat. Die Verzweiflung wird kommen, und wenn es eine Sekunde dauert, aber es dauert keine Sekunde, das hättest du wohl gerne. Die Verzweiflung vor dem Schluss, der kannst du nicht entgehen.“ Wenngleich diese Informationen zwar selten zum Verständnis des Geschehens beitragen, so ermöglichen sie der Leserschaft doch einen präzisen Einblick in Darius’ Gefühlswelt.
Unterhalb der Trennlinie befinden sich Floras „Tagebucheinträge“: Sie sind gewissermaßen Relikte der Vergangenheit. Auf Darius Wunsch hin wurden die auf ungarisch verfassten Texte von einer Studentin ins Deutsche übersetzt, da er der Sprache seiner Frau nicht mächtig ist. Von Floras Dokumentation erhofft er sich Aufschluss über die Gründe für ihren Suizid. Die Einträge sind mit Dateinamen versehen und sind mehr Textsammelsurium denn bloße Alltagsbeschreibungen. So bekommen wir Gedichte, Beipackzettel von Medikamenten, Speisepläne, Anweisungen und Übungen von Floras Therapeutin, Patientenbriefe aus dem Internet zum Thema Depressionen und Worterklärungen mit Definitionscharakter zu lesen. Weiterhin ist auffällig, dass Wörter oder ganze Sätze durchgestrichen sind, eine willkürliche Aneinanderreihung von Buchstaben vorhanden ist oder ein Satz ohne Interpunktion und Groß- und Kleinschreibung mehrfach hintereinander niedergeschrieben wird, sodass eine simulierte Abschrift entsteht. Anhand dieser verschiedenen Textsorten und der unterschiedlichen Schreibweisen macht Mora nicht nur Floras Verwirrtheit deutlich, sondern symbolisiert ihre Depressionen als Teil ihres Krankheitsbildes. Eine wirkliche Erklärung für den Selbstmord findet aber weder Darius noch der Leser in ihnen.
Durch den außergewöhnlichen Aufbau des Romans ist vor allem der Rezipient gefordert, denn trotz nummerischer Unterteilung werden drei unterschiedliche Rezeptionsmöglichkeiten angeboten: Primär eine lineare, die den Kapiteleinteilungen folgt und zwischen den Erzählperspektiven hin und her wechselt. Als zweite Möglichkeit könnte man die gesamte Geschichte aus Darius’ Perspektive lesen, um anschließend additiv die Tagebucheinträge hinzuzuziehen. Der dritte Rezeptionsweg wäre, mit den Tagebucheinträgen von Flora zu beginnen und erst dann Darius‘ Geschichte zu folgen (Auswirkungen dieser Rezeptionsmöglichkeiten: siehe Rezension von Darius Watolla) Nun könnte man dieses vielfältige Rezeptionsangebot leicht als ein simples Spiel mit den herkömmlichen Lesegewohnheiten abtun, würde dabei aber die meisterhafte Verquickung von Form und Inhalt ignorieren, denn der Aufbau fungiert vor allem als Spiegel der Gefühlswelten von Darius und Flora. Dieser Eindruck wird auf den ersten Seiten besonders hervorgehoben, indem das Erzählte zunächst mit der Geschichte von Darius beginnt und Floras Einträge noch ausbleiben: Unterhalb der Linie erscheint eine weiße Fläche. Diese Leere unterhalb der Trennlinie kann als tabula rasa verstanden werden und die Vereinsamung des Ehemannes sowie seine emotionale Erschütterung versinnbildlichen, da gerade die Leere die Abwesenheit von Flora allegorisiert.
Aber nicht nur der Aufbau des Romans, sondern auch die Satztechnik verdeutlicht, dass Mora den Roman mit virtuoser Präzision angefertigt hat und so die Leserschaft zum einen auf die Bewährungsprobe stellt, da sie sich als eigenständige Subjekte entscheiden müssen, welche Rezeptionsmöglichkeit sie wählen, und sie zum anderen in das Geschehen einbindet: Die Rezipienten begleiten Darius auf seinem Leidensweg und tauchen somit kontinuierlich in die private Vergangenheit von Flora ein. Mora hat dadurch einen Roman konzipiert, welcher einen Spagat zwischen den zwar abenteuerlichen, jedoch auch erinnerungsreichen und somit traurigen Reisen von Darius und Floras qualvollem Seelenschmerz darstellt und durch Verwendung von unterschiedlichen Stilarten der Beschreibung (von brutal bis zärtlich über lustig und absurd) überzeugend zur Geltung gebracht wird. Mehr noch: Auch die physische Gestaltung des Buchs spielt eine entscheidende Rolle und ist mit kleinen Einzelheiten meisterhaft auf den Inhalt abgestimmt. Zunächst ist anzumerken, dass es zwei Lesebändchen gibt. Hierbei knüpft Mora an die beiden Erzählperspektiven von Darius und Flora an und verdeutlicht, dass es voneinander getrennt zu lesende Erzählstränge gibt. Des Weiteren sind am Ende des Roman ein „Hinweis“ und ein „Nachweis“ zu finden, welche, für einen Roman untypisch, als eine Art Literaturverzeichnis fungieren und wissenschaftliche, meist soziologische oder sozialphilosophische, Literatur über das Wechselspiel von Individuum und Gesellschaft, Aspekte depressiver Erkrankungen oder den menschlichen Umgang mit gesellschaftlichen Ereignissen listen. In dem Abschnitt „Nachweis“ lassen sich ähnliche Literaturangaben mit gleicher Thematik finden. Erst nach intensiverer Betrachtung wird deutlich, dass Mora hier zwei Fragebögen nennt, welche zur Ermittlung von Depressionen und bipolaren Störungen dienen. Diese Hinweise und Nachweise, welche von Mora dezent am Ende angeführt werden, wecken die Neugier der Leserschaft und stellen das Bedürfnis des Hinterfragens in den Vordergrund, wodurch der Roman zu einer Art Krimi wird.
Mora hat folglich mit dem Roman „Das Ungeheuer“ den alten, unzählige Male verwendeten Topos der Reise in die Vergangenheit zur Identitätssuche und Identitätsrekonstruktion auf eine neue, überzeugende Weise wiederbelebt und stellt mit dem Balanceakt zwischen Leben und Tod den Rezipienten auf eine formale wie auch auf eine inhaltliche Bewährungsprobe; allein das rechtfertigt die Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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