Für die schlichte Kontinuität

Lorenz Langenegger fängt die Gefühle unzufriedener Mittdreißiger ein

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Edith verlässt Jakob Walter – nach zehn Jahren Ehe. Er wirft seinen Wohnungsschlüssel in den Briefkasten, versperrt sich somit den Weg zurück und beginnt eine Reise mit ungewissem Ziel. Zunächst führt es ihn von Bern nach Zürich, schließlich über Italien nach Griechenland. Die Handlung des neuen Romans „Bei 30 Grad im Schatten“ von Lorenz Langenegger lässt sich kurz zusammenfassen. Doch diese Zusammenfassung wird dem Buch nicht gerecht. Es ist mehr als ein „Roadmovie“ eines Aussteigers ohne Ziel, es ist die schonungslose Reise in die Psyche eines unzufriedenen Mannes auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.

Das Ende der Beziehung zu Edith markiert für Walter das Ende der schlichten Kontinuität, die Trennung berührt ihn wenig, glaubt er. Er meldet sich an seinem Arbeitsplatz nicht ab, tritt auf die Straße, atmet tief ein und beobachtet, wie alles um ihn herum seinen gewohnten Gang nimmt. Der Tag seiner Abreise ist für die meisten Menschen ein ganz normaler Arbeitstag. Zunächst ist alles nur ein Spiel: Walter trinkt auf einer Züricher Friedhofsbank Bier mit einem scheinbar Fremden, der ihm vorschlägt, nach Italien zu fahren. „Unüberlegt und ungeplant“ bricht er tatsächlich in die Ferne auf. „Auf See gelingt es ihm, mit offenen Augen und wachem Bewusstsein über nichts nachzudenken“. Er war noch nie in Griechenland, genießt die Sonne und Sardinen vom Grill, lernt eine junge Schönheit, Natalia, kennen – und verlässt sie sogleich wieder. Er verbringt eine Nacht unter freiem Himmel. Ihm läuft ein herrenloser Hund zu, mit dem er im Bus durch Griechenland reist. Walter zieht Zwischenbilanz: „Zufrieden stellt er fest, dass sich seine Flucht inzwischen fast wie Urlaub anfühlt.“

Dass es nicht einfach ist, mit sich alleine zu sein, erkennt Walter am Leuchtturm auf der Spitze des Kap Tenaro, einer Landzunge. Am Fuß des Leuchtturms lässt er sich in der Hitze auf einem Steinsims im schmalen Schatten des Turmes nieder. Dieser Leuchtturm ist das Ziel seiner Reise, bestimmt Walter. Doch nachdem er es erreicht hat, schnürt ihm die Einsamkeit die Brust zu. Die Nacht bricht herein, kein Licht ist zu sehen. „Er kann die Tatsache, dass eine Reise nicht nur aus dem Hinweg besteht, nicht länger verdrängen.“ Und er erkennt, dass eine Woche als Wanderer abseits des Arbeitsalltags – ohne sich zu rasieren, ohne frische Hemden und ohne seine Frau – sein Leben nicht verändert. Walter versteht, dass er kein verwegener Vagabund, sondern ein Büroangestellter ist.

Die Finanzverwaltung in Bern war zu einer Heimat für Walter geworden: „Wenn er das Verwaltungsgebäude betritt, fühlt er sich sicher.“ Walter wollte nie Karriere machen, es ist seine Überzeugung, „dass er ein zufriedeneres Leben führte, wenn er sich nicht Ast für Ast hinaufhangelte, um an immer noch glänzendere Früchte zu kommen“. Die Gewissheit, dass das Leben in den nächsten Jahrzehnten im Wesentlichen aus der Büroarbeit zur Sicherung des Lebensunterhaltes besteht, beruhigt Walter. Alles könnte weitere dreißig Jahre seinen gewohnten Gang gehen. Die schlichte Kontinuität des Alltags ist sein Halt. Was könnte passieren, wenn das „wohl geordnete Leben“ in Einzelteile zerfällt? Langenegger lässt den Erzähler antworten: „Die Übersicht geht verloren. Die Stunden müssen gefüllt werden.“

Diese vermeintlich hellen Gedanken des Protagonisten in der Finsternis der griechischen Nacht erden ihn. Ihm wird die Bedeutung des weichen Lichtes „von Sicherheit und Zuversicht“ klar. „Sich selbst wird der Mensch auch auf der abgeschiedensten Insel nicht los“. Die kleinen Fragen gewinnen in seinem Kopf an Bedeutung. Es sind Fragen wie jene, die den reibungslosen Ablauf des Frühstücks am Wochenende in unzähligen Haushalten prägt: „Möchtest du ein Ei?“ Diese Frage stellte Edith im 2009 erschienenen ersten Roman mit dem Titel „Hier im Regen“ von Lorenz Langenegger, der vom Leben Ediths und Walters in Bern handelte. Damals bedrückte Walter der Alltag: An freien Tagen ging er selten aus. Freizeit sinnvoll gestalten zu müssen, empfand Walter als Last. Edith war an seiner schlechten Laune nicht schuld. Aber an scheinbar unwichtigen Punkten entstanden hernach Provokationen und Streitereien. „Hier im Regen“ findet im neuen Roman „Bei 30 Grad im Schatten“ seine Fortsetzung; der zweite Roman ist die logische Konsequenz des Debüts von Langenegger.

Scheitert Walters Reise oder findet er zurück in sein Leben? Ist ein Leben mit finanzieller Sicherheit, Büchern und den kleinen Freuden des Alltags ein erfülltes Leben oder nur ein Trugbild schlichter Kontinuität? Lorenz Langenegger lässt seinen Protagonist zunächst in Griechenland stranden. Ob er sich nun am Anfang oder am Ende befindet, bleibt offen. Walter bekennt sich zur Mittelmäßigkeit. Dieses Gefühl können Mittdreißiger wie der 1980 geborene Autor sicherlich am besten nachvollziehen. Langenegger hat ein Buch für seine Generation geschrieben, die am Schreibtisch sitzt und sich fragt, was noch kommt und ob man sich auf dem richtigen Weg befindet. Und er hat es geschrieben für Lohnempfänger – wie es Walter im Roman formuliert – „im Dienst eines äußerst stabilen Staates“, die für sich beanspruchen, „Kraft [ihrer] Arbeit zum allgemeinen Wohlstand“ beizutragen. Es ist ein Buch, das von den präzisen Beobachtungen des Autors zehrt – sprachlich auf hohem Niveau und brillant konstruiert. Einfühlsamer und kurzweiliger kann aus dem Leben eines Menschen nicht erzählt werden. Das Buch fesselt und macht neugierig – und es macht neugierig auf einen dritten Teil aus dem Leben des Jakob Walter.

Titelbild

Lorenz Langenegger: Bei 30 Grad im Schatten. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2014.
141 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783990270486

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