Sex und Gewalt und Tod und Literatur

Péter Nádas schreibt 18 Jahre an einem ungarisch-deutschen Panorama des 20. Jahrhunderts, für dessen Lektüre der geneigte Leser fast genauso viel Zeit und starke Nerven braucht

Von Jens PriwitzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Priwitzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Easy Reading hat Péter Nádas’ Mammut-Roman „Parallelgeschichten“ ungefähr soviel zu tun wie John Cage mit den Top 40 Charts. Dabei sind viele der Aberhunderten von Episoden dazu geeignet, den Leser in ihren Bann zu ziehen. Nádas breitet geradezu ein Füllhorn an Geschichten und Schicksalen aus, die aufeinanderprallen und sich gegenseitig wieder abstoßen; an Figuren, die sich gegenseitig beeinflussen, obwohl sie Jahrzehnte voneinander entfernt leben. Aber kaum hat sich der Leser in eine Szene eingefunden, wird er oft schon wieder herausgestoßen und mit dem nächsten Ereignis konfrontiert, das in großer zeitlicher Entfernung spielt. Wer sich auf diesen Roman einlässt, sollte daher darauf eingestellt sein, allenthalben gedankliche Sprünge mitzumachen und Zeit- und Handlungsebenen eher atmosphärisch anstatt chronologisch miteinander in Bezug zu setzen. Auch Geduld sollte der Leser haben, denn manchmal muss er mehrere hundert Seiten warten, bis ein Zusammenhang sichtbar wird.

Die „Parallelgeschichten“ sind so etwas wie eine Antwort Nádas’ auf seinen Roman „Buch der Erinnerung“. Dieses Werk, 1986 in Ungarn veröffentlicht, 1991 dann auf Deutsch erschienen, zeigt bis heute die Spuren seiner Entstehungszeit. Der Autor hat in früheren Interviews immer wieder darauf hingewiesen, dass er über viele Themen nicht so schreiben konnte, wie er es gern getan hätte, dass die Tabus stärker waren als seine Kraft, sie zu durchbrechen. Das „Buch der Erinnerung“, obwohl es sich in die Geschichte des 20. Jahrhunderts vertieft, kann den Holocaust nur versteckt thematisieren; die jüdische Identität mancher Charaktere lässt sich nur erahnen und Sex kommt nur am Rande vor. Mit der neu gewonnen Freiheit nach dem Untergang der kommunistischen Diktatur in Ungarn widmete sich Nádas nun offener den Abgründen des vergangenen Jahrhunderts. Zugleich war er auch stilistisch freier. Denn die Ich-Perspektive des „Buchs der Erinnerung“, die Story und Plot zusammenhält, fehlt hier. Stattdessen erwartet den Leser, der sich auf den Roman einlässt, ein Netzwerk von Geschichten, ein narratives Rhizom, in dem die Bedeutung in Bewegung gerät.

Bedürfnisse und Triebe, bis ins letzte Detail beschrieben

Schon der Versuch, das erste Buch, „Stumme Gefilde“, zusammenzufassen, scheitert zwangsläufig. Dabei beginnt es wie ein Thriller. Carl Maria Döhring, Student in West-Berlin, findet im Tiergarten einen Toten. Man schreibt das Jahr 1989, es ist Weihnachten, die Berliner Mauer ist ein paar Wochen zuvor gefallen. Döhring hat die Leiche angeblich beim morgendlichen Joggen gefunden. Doch er ist viel zu nervös, die Polizei vermutet eine Verstrickung. Der Student flüchtet nach Düsseldorf, er hat dort eine Tante, die er besuchen will. Doch die Wohnung wird er nicht betreten, stattdessen verfällt er, wie es scheint, dem Wahnsinn. Viele der weiteren Handlungsstränge führen nach Budapest. Der Leser trifft den 19-jährigen Kristóf, der sehnsüchtig auf die körperliche Vereinigung mit einer Frau wartet. Er beobachtet die Bewohner einer ehemals vornehmen bürgerlichen Wohnung, wie sie nach und nach erwachen. In einer Schwimmhalle sitzt er dann zusammen mit einer Gruppe eng befreundeter Männer, die nicht nur im geistigen Austausch stehen.

Die Schilderung menschlicher Bedürfnisse, der Triebe, Begierden, aber auch der Körpergerüche und Ausscheidungen, nehmen einen großen Raum im Roman ein. Jede auftretende Figur wird bis in die Tiefe ausgeleuchtet, sie teilt ihre intimsten Gedanken mit dem Leser, der zugleich Zeuge sämtlicher ihrer Verfehlungen wird. Mitleid wird man mit diesen Charakteren kaum entwickeln; selbst in der kontrovers diskutierten, kaum auszuhaltenden, endlos anmutenden Beschreibung des viertägigen Sex-Marathons zwischen Àgost und Gyöngyvér bleibt der Leseeindruck kühl, fast sachlich. Überhaupt ist sowohl der hetero- wie der homosexuelle Geschlechtsverkehr permanent präsent, es gibt nur wenige Seiten, auf denen nicht jemand real oder imaginär Sex hat. Von der lesbischen Fantasie führt der Weg direkt zu Menstruationsausflüssen; der Autor zwingt den Leser dazu, die nackte und gelegentlich sehr dreckige Körperlichkeit auszuhalten. Nádas kennt keine Tabus – selbst bei der Verbindung von Sex, Gewalt und Tod. So erlebt der Leser über mehrere Seiten die Selbstbefriedigung eines Mannes mit, seine Anstrengungen, sich selbst zum Höhepunkt zu treiben. Doch der Moment der Erlösung wird nicht kommen, wird der Mann doch kurz davor von drei Fremden grausam erschlagen.

Wie sich herausstellt, sind die drei Männer Ungarn, die aus einem brennenden Konzentrationslager flüchteten. Und der getötete Mann ist der Großvater des Studenten Döhring, der als Lagerleiter den Häftlingen Gold geraubt hatte. Doch der Mord passiert eher zufällig, denn die Ungarn sind verrückt vor Hunger und Döhring ist, weil er allein lebt, ein leichtes Ziel. Mit Hilfe der Figuren überschneiden sich im Roman deutsche, ungarische, europäische und Weltgeschichte. Die Kapitel springen wie wild vor und zurück im Raum und in der Zeit, bringen Geschichte und Geschichten zusammen, hauptsächlich Nazi-Deutschland in den 30er- und 40er- Jahren sowie Ungarn Anfang der 1960er-Jahre. Kristófs Onkel István Lippay entpuppt sich als mitverantwortlich für die Deportation ungarischer Juden im Jahr 1944, Àgost ist ein Spion im Dienst der Kommunisten, sein Freund Hans von Thum zu Wolkenstein wurde als Kind während des Weltkrieges zu eugenischen und rassebiologischen Zwecken in ein Heim tief in den Bergen deportiert. Das Panorama der Figuren lässt sich beliebig ergänzen, inklusive Auftritten älterer Budapester Damen, die es schafften, den Holocaust zu überleben und sich nun im poststalinistischen Ungarn zum Bridge treffen.

Eine Struktur wie ein wucherndes Wurzelgeflecht

Die parallel erzählten Geschichten bleiben zum großen Teil nur lose miteinander verbunden. Erst am Ende des Romans treffen zwei der Lebensgeschichten direkt aufeinander, auch wenn der Schnittpunkt der parallelen Bahnen eher im Unendlichen lieg. Das wurzelgeflechtartige Strukturprinzip des Romans ist auch dafür verantwortlich, dass das große Ganze kaum zusammenhängt, auch wenn Themen und Motive ein allzu wildes Auswuchern des Erzählten verhindern. Vergangenheit und Gegenwart lassen sich nicht mehr in eine streng chronologische Linie ordnen, genauso stößt die Kausalität an ihre Grenzen. Um dies besser zu verstehen, könnte es sich als Gewinn erweisen, diese Linien einmal genauer nachzuzeichnen, und dabei dem Tiefenmuster auf die Spur zu kommen, das den Roman strukturiert und als Ganzheit formt. Eine Aufgabe, die nach dem Abflauen der Diskussion um die Anstößigkeit der Sex-Szenen und die Betroffenheit angesichts bei der extremen Körperlichkeit der Figuren lohnend sein könnte. Denn selbst die Zusammenführung von Politik, Geschichte und Körpersekreten ist immer nur vorläufig. Sie kann im nächsten Absatz schon aufgelöst werden oder ins Groteske abstürzen.

So erweisen sich die deformierten Psychen aller Figuren als eines der geheimen Zentren der „Parallelgeschichten“, bedingt durch die totalitären Erfahrungen, die sie erleiden mussten, bedingt aber auch durch den Umstand, dass sie ihre Körper den Gewalttaten des 20. Jahrhunderts ohne Einschränkungen unterwerfen mussten. So wie die Biografien von Döhring, Àgost oder Kristòf keine Ordnung aufweisen, entwickelt der Romane keine Gegen-Ordnung, die die chaotischen Begebenheiten auffangen könnte. Doch der Wille zur Form ist in den vielen gelungenen Mikro-Erzählungen und Mini-Romanen deutlich zu spüren. Beispielsweise in der Beschreibung der alltäglichen Arbeit im Grand Hotel auf der Margareteninsel, dessen beste Tage weit zurück liegen, dessen Personal aber auf die Wahrung der gewohnten Eleganz und großbürgerlichen Noblesse besteht; oder beispielsweise in der Erzählung, die von der Fahrt auf einem alten Donaudampfer von Budapest ins südöstliche Ungarn Anfang der 1930er-Jahre berichtet. Die Schilderung dieser vielen kleinen Begebenheiten führt das ganze Ensemble des 20. Jahrhunderts vor – wie sich ihre Schicksale kreuzen, berühren oder mit weitem Abstand aneinander vorbeibewegen. Doch emotional ergriffen wird der Leser kaum von diesen Figuren. Eher verhält sich die Lektüre wie ein Puzzle, bei dem es darauf ankommt, die tausenden von Steinen richtig zusammenzusetzen, ohne Vorlage und  –  noch wichtiger – ohne Rahmen.

18 Jahre lang hat Nádas an dem Roman geschrieben, sieben Jahre arbeitete Christina Viragh an der wundervollen Übersetzung. Wie lange braucht der Leser für die 1.728 Seiten? Wochen, Monate? Manch einer könnte das Buch wohl Jahre auf seinem Nachttisch liegen haben, ohne es jemals zu beenden. Aber wie John Cages Musikstücke zwingt Péter Nádas’ Roman den Leser dazu, etwas auszuhalten, das dieser eigentlich nicht ertragen will. Das ist eine der unglaublichen Provokation, die gute Literatur zu leisten vermag, indem sie dabei scheinbar fest gefügte Konventionen sprengt und neu arrangiert. Indem Nádas den Leser durch Räume und Zeiten katapultiert, an der Vielzahl von Figuren schier verzweifeln lässt und sich jeder immanenten Sinngebung geschickt zu entziehen vermag, erweist sich der ungarische Autor – wie Cage übrigens auch – als einer der letzten Optimisten in der Weltliteratur. Er vertraut darauf, dass es Leser gibt, die sich auch über eine längere Zeit hinweg in Literatur (und Kunst allgemein) versenken möchten. Dafür bremst der Roman den Leser aus und hält ihn gnadenlos dazu an, die Details seiner Geschichte wahrzunehmen. Was sich hier vollzieht, ist eine neue Entdeckung literarischer Langsamkeit, die sich Zeit zu nehmen weiß inmitten einer Welt, die vor lauter Beschleunigung nicht mehr zur Ruhe kommen will. Ein historischer Roman, der mit Blick auf die Zukunft geschrieben ist.

Titelbild

Péter Nádas: Parallelgeschichten.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Christina Viragh.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2012.
1723 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783498046958

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