Lust und Last der Unterscheidung
Jörn Leonhards „Die Büchse der Pandora“ verteidigt den Ersten Weltkrieg gegen Vereinfachungen
Von Daniel Krause
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJörn Leonhards „Geschichte des Ersten Weltkriegs“ ist der kühne Versuch, ein überkomplexes Geschehen abzubilden, ohne dessen Komplexität über Gebühr zu verringern. Wer Zuspitzung sucht, Thesen und Floskeln, wird bei diesem Autor nicht fündig. Langer Atem und Geduld sind vonnöten. Der Satzbau mäandert, die Wortwahl zielt nicht auf Schönheit. Von zünftiger Esoterik ist gleichwohl keine Spur. Wer Laie ist und guten Willens, kann diese „Büchse“ voll Zuversicht öffnen.
Jörn Leonhard bezieht manches Mal Stellung. In der Kriegsschuld-Frage steht er eher auf Christopher Clarks Seite. Die Eskalation während der Julikrise 1914 sei von allen Großmächten zu verantworten, nicht von Österreich und Deutschland allein. Andererseits wird der „Blankoscheck“, der Habsburg Deutschlands bedingungslose Loyalität zusicherte, als wichtiges Einzelmoment der Eskalation aufgefasst.
Anders als Clark spitzt Leonhard die Fülle der Informationen kaum je auf einzelne Gesichtspunkte zu. Seine Erzählung kommt ohne Peripetien, dramatische Raffung und Zurichtung aus. Wer Leonhards Lust an der Differenzierung, sein Misstrauen gegenüber Klischees teilt, wird Clark gern beiseitelegen. Leonhard widmet den „Meistererzählungen“ über die Kriegsursachen ein eigenes Kapitel und zeigt deren Grenzen.
Die chronologische Ordnung wird thematisch gegliedert. So werden die Jahre vor Kriegsbeginn als „Vorläufe“ unter „Kriegseinhegung und Krisenverdichtung“ zusammengefasst, „Sommer und Herbst 1914“ als „Entgleisung und Eskalation“. Solche Überschriften geben allenfalls grobe Orientierung. Die meisten Abschnitte gliedern sich in ein Dutzend thematisch disparater Unterkapitel.
Die Fülle der Informationen zu ordnen, überforderte vor allem die Akteure. Erwartungen, Vermutungen und Gerüchte spielten eine prägende Rolle: „Selbst die erste der vielen Kriegserklärungen entstand unter dem Eindruck von Gerüchten über angeblich bereits ausgebrochene Gefechte“. Kaiser Franz Joseph wurde glauben gemacht, serbische Truppen hätten auf Österreicher geschossen. Solche Gerüchte „erschienen im Augenblick der Entscheidung möglich und erschufen so ihre eigene Wirklichkeit. […] Indem man das eigene Handeln auf sie einstellte, entstand aus der Spekulation eine eigene Realität.“
Dies gilt zumal für die deutsche Befürchtung, ein Krieg an zwei Fronten, gegen Russland und Frankreich, stehe bevor. Leonhard akzentuiert eine „Dynamik gegenseitiger Wahrnehmungen, ein Denken in unterstellten Absichten der Gegenseite, in der Annahme von Wirkungen bestimmter Ereignisse […]. Der Eindruck einer zunehmenden Alternativlosigkeit […] verbreitete sich nicht nur auf deutscher Seite und setzte Militärs und Politiker unter einen im Wesentlichen selbst wahrgenommenen Handlungsdruck.“
Osteuropa wird gründlich gewürdigt. Der Zusammenbruch der Habsburger Monarchie und Russlands Weg in den Bolschewismus werden verständlich. Auch hier vermeidet Jörn Leonhard wohlfeile Vereinfachungen. Seine Lust an der Differenzierung scheint jederzeit durch: „Überwindet man diese doppelte Retrospektive nach Kriegsende, also die österreichische Suche nach den vermeintlichen tschechischen Verrätern als Ursache für den Untergang der Monarchie und die tschechoslowakische Historiografie in ihrer Suche nach der Sezession und der Nationsbildung im Krieg, so wird klar, dass die Situation erheblich widersprüchlicher war.“
Auch das Osmanische Reich wird behandelt. Jörn Leonhard stellt heraus, dass jene Konflikträume der Peripherie, die während des Krieges (um)geformt wurden – Balkan, Palästina und Kurdistan –, bis heute durch Krisen und Kriege von sich reden machen. Fruchtlose methodische Erörterungen bleiben dem Leser erspart. Zugleich ist erkennbar, dass die neueren Entwicklungen der Zunft zur Kenntnis genommen wurden. Reinhart Kosellecks Begriffsgeschichte spielt herein, der wache Blick für Frontalltag und Lebenswirklichkeit im Hinterland fällt ebenso angenehm auf. Die Herrenreiter-Perspektive papierener Diplomatiegeschichte herrscht lediglich dort, wo sie sich aufdrängt, vor allem in der Julikrise.
Diese „Geschichte des Ersten Weltkriegs“ verdankt ihren Titel – „Die Büchse der Pandora“ – einem griechischen Mythos und dessen Adaption durch Thomas Mann beziehungsweise dessen Kinder, die die Parabel von Schuld, Vergeltung und Not im Sommer 1914 zur Aufführung bringen. Die „Generalprobe“ am 1. August muss abgebrochen werden, als die Nachricht von Deutschlands Kriegserklärung ans Zarenreich eintrifft.
Zahlreiche literarische Quellen werden zitiert, ob Musil, Schnitzler, Kisch, Harry Graf Kessler oder Freud. Auch wissenschaftliche Autoren, Max Weber voran, und der feuilletonistische Diskurs zwischen Begeisterung, Räsonnement und Verzweiflung finden Berücksichtigung. Keine der Kriegsparteien, keine der europäischen Öffentlichkeiten wird ausgespart.
Zugleich werden Erfahrungen der Gewalt und Entbehrung, ob an der Front oder im Hinterland, wiedergegeben. Jörn Leonhard entgeht der Gefahr, die Julikrise (und Kriegsschuldfrage) allzu weit in den Vordergrund zu rücken. Der allergrößte Teil des Werks ist dem Kriegsverlauf und -erleben gewidmet, nicht diplomatischen Ouvertüren. Dass während vier Jahren manche Zufälle und menschliches Versagen den Lauf der Dinge bestimmen, wird überzeugend nachgewiesen. Dass ein Sieg der Entente aufgrund deren materieller Ressourcen, österreichischer Schwäche und wachsender amerikanischer Kriegsbereitschaft von Anfang an dennoch wahrscheinlich ist, wird ebenso triftig begründet.
Fritz Fischers These von deutscher Alleinschuld braucht kaum widerlegt zu werden, da sie (in reiner Form) fast nirgends geteilt wird, zumindest nicht außerhalb Deutschlands. Die Bedeutung des notorischen „Kriegsrats“ (Dezember 1912), der häufig als Nachweis deutscher Aggression und Eroberungslust herhalten muss, wird in mehrerlei Hinsicht relativiert. Leonhard macht die „Erratik“ Wilhelms II. geltend, dem kohärente Planung, zugunsten des Kriegs oder des Friedens, kaum unterstellt werden könne, und Bethmann Hollwegs „Verständigungspolitik“ gegenüber England. Statt „konsequenter Handlungslogik“ und „eindeutiger Kriegsintention“ zwischen Kriegsrat und Julikrise müssten „Kompetenzchaos“ und – immerhin – ein „Denken ohne Alternativen, fast panikartige, erratische Reaktionen und eine Tendenz zum Aktionismus“ in Anschlag gebracht werden.
Der Nachkrieg wird ausführlich gewürdigt. Das letzte Kapitel – „Hypotheken“ – stellt die Hinterlassenschaft des Ersten Weltkriegs fürs 20. und 21. Jahrhundert dar. Am Schluss kehrt Leonhard zu „Thomas Manns Kindern“ zurück. Aus der Schwab’schen Fassung des Mythos werden die folgenden Worte zitiert: „‚Und nun erfüllte das Elend in allen Gestalten Erde, Luft und Meer; allerlei Fieber belagerten die Erde, und der Tod, der vordem die Sterblichen nur langsam beschlichen hatte, beflügelte seinen Schritt.’ Es bedurfte vieler Irrwege und zahlloser Opfer und schmerzvoller Anläufe […], um die Extreme der Gewalt wieder einzufangen, die sich seit August 1914 entfaltet hatten, sie zu bändigen und mühsam in eine Friedensordnung zu verwandeln. Wo und wann immer diese Ordnung nach innen oder nach außen gefährdet ist, da sind wird bis heute Erben dieses Krieges.“
„Die Büchse der Pandora“ dürfte stattliche zwei Pfund auf die Waage bringen. Allein ihr Apparat umfasst über hundert Seiten mit Diagrammen, „Verzeichnis der Karten, Tabellen und Schaubilder“, Anmerkungen, Quellenverzeichnis, Register und mehr. Die logistische Leistung eines Autors, der solcherlei Stoffmengen bewältigt, ist aller Ehren wert, die wissenschaftliche und literarische nicht minder.
Die breite Öffentlichkeit wird Leonhards Leistung dennoch nicht würdigen – zu wenig dramatisch ist seine Dramaturgie, zu spröde der Duktus. Allein an Fülle, Kompetenz und Unterscheidungskraft braucht er keine Vergleiche zu scheuen. „Die Büchse der Pandora“ zählt zu den wenigen Weltgeschichten des Ersten Weltkriegs, möglicherweise ist es die beste.
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