Alltag im Ausnahmezustand

Brigitte Hamanns Darstellung von Schein und Wirklichkeit im Ersten Weltkrieg

Von Barbara MariacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Mariacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Darstellung des schrecklichen Alltags während des Ersten Weltkriegs ist Gegenstand von Brigitte Hamanns Buch. Es macht auf eindrückliche Weise deutlich, dass es im Krieg letztlich immer nur Verlierer gibt. Es speist sich aus einem umfangreichen Fundus an Bild- und Textmaterialien, bestehend aus persönlichen Briefen, Fotos und Propagandamaterial unterschiedlichster Art, die die anerkannte, deutsch-österreichische Historikerin über Jahre hinweg gesammelt hat. Auf eindrucksvolle Weise dokumentiert sie damit den Widerspruch von Wahrheit und Lüge, genauer gesagt von Kriegspropaganda und der harten Wirklichkeit an der Front.

Die Entstehung des Buches verdankt sich einem persönlichen Anlass, nämlich der Sichtung ihres eigenen Familienarchivs, die sie bereits vor mehr als zehn Jahren vorgenommen hat und deren Ergebnisse im Jahre 2004 veröffentlicht wurden. Wohl aus aktuellem Anlass – nämlich dem hundertjährigem Gedenken an die Opfer des Ersten Weltkriegs – wurde das Buch nun im Piper Verlag neu herausgegeben.

In ihren einleitenden Bemerkungen beschreibt die Autorin ihr Ziel, als den Versuch, „aus zeitgenössischen Bildern und privaten Texten diese wichtigen vier Jahre aus dem Alltag der Menschen heraus auch für Laien vorstellbar zu machen“ und dabei die üblichen militärhistorischen Beschreibungen außen vor zu lassen. Es ist es ein sehr genaues und gut recherchiertes Buch, das nicht nur Laien sondern auch Historikern interessanten Lesestoff und vielfältiges Anschauungsmaterial bietet, wodurch es sich auch für den Einsatz im Geschichtsunterricht gut eignen könnte. Ergänzt werden die Familienpapiere unter anderem mit Auszügen aus den Werken zweier zeitgenössischer Künstler, nämlich mit den Tagebuchaufzeichnungen des Wiener Schriftstellers Arthur Schnitzler und den Briefen der Berliner Graphikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz, die ihren Sohn im Dezember des Jahres 1914 in den Schlachtfeldern von Flandern verloren hat.

Die gezielte Verbindung von Bild und Text ermöglicht es der Autorin, das anspruchsvolle Versprechen ihres Untertitels einzulösen, nämlich Wahrheit und Lüge in Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg darzustellen. Besonders eindringlich geschieht dies, wenn sie aus den von Philipp Witkop im Jahre 1915 herausgegebenen „Kriegsbriefen gefallener Studenten“ zitiert, die von der „Angst vor dem Tod und der Sehnsucht nach Hause“ beherrscht sind. Die Gegenüberstellung von Kriegspropaganda und der furchtbaren Wirklichkeit an der Front sowie der Missbrauch von jungen Männern, die als sogenanntes „Kanonenfutter“ eingesetzt wurden, wird hier besonders deutlich. „Zahlreich sind die Bilder von der angeblichen Gemütlichkeit im Schützengraben“ schreibt Brigitte Hamann unter ein Foto, das am 14. März 1915 in der Sonntagsausgabe einer Wiener Zeitung erschien. Es zeigt zwei Soldaten in einer behelfsmäßigen Küche beim scheinbar gemütlichen Essen im Schützengraben und trägt die folgende Bildunterschrift „Inneres eines Unterstandes deutscher Soldaten. Dieselben verzehren die selbstbereiteten Kartoffelpuffer.“

Die Wirklichkeit sah hingegen ganz anders aus: sehr schmutzig, zu heiß oder zu kalt je nach Jahreszeit und das Essen teilte man sich nicht selten mit den Ratten. Besonders schlimm war es nach einem Angriff, wie der 23-jährige Theologiestudent August Hopp, der wenige Tage nach der Abfassung des Briefes stirbt, an seine Familie schreibt: „Es war früh 9 Uhr, der sogenannte Graben war angefüllt mit Toten und allen möglichen Ausrüstungsgegenständen; man saß auf den Toten als wenn’s Steine oder Holzklötze wären! Ob dem einen der Kopf zerstochen oder abgerissen, dem dritten aus dem zerschlissenen Rock die blutigen Knochen herausragen – es kümmerte einen nicht mehr.“

Dem Leser wird nicht nur der Prozess der inneren Verrohung deutlich gemacht, sondern auch ihrer Verhüllung durch die Mittel der Kriegspropaganda. Aber auch für das gegenteilige Phänomen der Verhüllung, nämlich die extreme Verzerrung des Kriegsgegners in Form der sogenannten Gräuelpropaganda, finden sich zahlreiche Beispiele in den Materialien der Autorin. Gräuelpropaganda, aus der – wie man aus dem Buch erfährt – unter anderem Adolf Hitler „unendlich gelernt“ habe.

Die unter den unterschiedlichen Stichwörtern angeordneten Inhalte, mit denen das chronologische Gerüst des Kriegsverlaufs von 1914 bis 1918 ausgefüllt wird, dienen einerseits dem schnellen Informationsgewinn, beschreiben andererseits die einzelnen Stationen der Alltagsgeschichte des Krieges und bewirken so eine ebenso informationsreiche und spannende wie auch berührende Lektüre.

Titelbild

Brigitte Hamann: Der Erste Weltkrieg. Wahrheit und Lüge in Bildern und Texten.
Piper Verlag, München 2014.
192 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783492056212

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