Glanz und Not der Jugend
Max Brod scheitert in „Stefan Rott“ am Ersten Weltkrieg, brilliert aber auf anderem Gebiet
Von Jan Behrs
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Jahreszahl 1914 ruft nicht nur in geschichtlicher, sondern selbstverständlich auch in literarischer Hinsicht bestimmte Assoziationen hervor. Spielt ein mitteleuropäischer Roman in den ersten Monaten jenes Jahres, so lesen wir die erzählte Geschichte auf das Ende hin, das wir kennen und über das wir uns Aufschluss erhoffen: den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ohne dass die Romanfiguren es ahnen, werden ihre scheinbar privaten Handlungen zu Bestandteilen einer Vorgeschichte des Kriegs, und ihre Schicksale stehen nicht mehr ausschließlich für sich, sondern müssen sich einem allgemeineren Erkenntnisinteresse, eben dem für die Ursachen der jäh hereinbrechenden Katastrophe, unterordnen. Der grundlegende Wissensunterschied zwischen Figuren und Lesern erzeugt so eine gewisse Aufmerksamkeit für den Text, ist aber auch mit Risiken verbunden, da die Handlung Gefahr läuft, in einer deterministischen Motivation gefangen zu bleiben, die gezwungen wirken kann.
Genau so verhält es sich auch in Max Brods Roman „Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung“, der 1931 erschien und nun als mittlerweile fünfter Band einer Reihe von Brod-Neuausgaben (Rezensionen dazu siehe hier und hier) wieder vorliegt. Dem Autor ist die Bedeutsamkeit der Jahreszahl 1914 erkennbar bewusst, doch der ambitionierte Versuch, die Romanhandlung sowohl literarisch als auch zeitanalytisch wirksam werden zu lassen, misslingt: Zu deutlich lässt uns der Erzähler spüren, dass er sehr genau weiß, was die Stunde geschlagen hat, während seine Figuren immer wieder aufs Neue ihr Unwissen präsentieren müssen. „In unserem Zeitalter kann es in Europa keine Kriege mehr geben“, sind sich im Roman alle einig. Sämtliche Hinweise, dass es sich doch anders verhalten könnte, ignorieren sie mit einer Hartnäckigkeit, die Bewunderung für die prophetische Anlage des Buchs wecken soll, aber im Gegenteil nach einiger Zeit nur aufdringlich wirkt.
Sollte Brod wirklich die Absicht gehabt haben, ein „Prager Gegenstück zu Thomas Manns ‚Zauberberg‘“ zu schreiben, wie der Mitherausgeber Norbert Miller in seinem Nachwort vermutet, bliebe sein Versuch hinsichtlich der Konzeption weit hinter dem Vorbild zurück. Insbesondere das letzte Kapitel, das – in tatsächlich deutlicher Analogie zu Mann – den Beginn des Kriegs zum Gegenstand hat und damit die Handlung der vorherigen 15 Kapitel abrupt beendet, wirkt schematisch und wenig souverän, weil es das, was es ohnehin überdeutlich zeigt, zusätzlich mit platitüdenhaften Erzählerkommentaren versieht: „Der Krieg wirft alles um. Denn alles Menschliche steht auf der Kippe.“ Für einen erfahrenen und geschickten Erzähler wie Brod erstaunlich unbeholfen ist auch der Umgang mit realweltlichen Personen: Franz Kafka, Jaroslav Hašek und am Schluss Tomáš Garrigue Masaryk tauchen als Figuren im Roman auf, interagieren aber kaum mit dem sonstigen Personal – sie sind nicht mehr als Kulissen einer dem Autor historisch gewordenen Zeit.
Trotzdem sollte man auch in diesem Fall das Angebot nutzen, das der Verlag mit seiner Neuausgabe macht: Brod mag ein überambitionierter Chronist des Weltkriegsbeginns sein, ein begnadeter Schilderer der Innenwelt bildungsbürgerlicher Heranwachsender bleibt er dennoch. Seine Hauptfigur, Stefan Rott, ist ein naher Geistesverwandter anderer brodscher Protagonisten – Walder Nornepygge aus „Schloß Nornepygge“, Arnold Beer aus dem gleichnamigen Roman –, aber sein Lavieren zwischen verschiedenen Weltentwürfen wird anschaulicher und nachvollziehbarer präsentiert als je zuvor. Das ist umso erstaunlicher, weil die dem jugendlichen Helden präsentierten Ordnungssysteme keineswegs an sich attraktiv sind: Weder der dogmatisch-elitäre Katholizismus von Stefans Religionslehrer Werder noch der naive Sozialismus seines Freundes Anton treten uns sonderlich nahe, und auch seine Affäre mit Antons Mutter, die die Lage verkompliziert und die Handlung vorantreibt, bleibt schwach motiviert. Nur das jugendliche Bemühen Stefans, die aus diesen drei Quellen stammenden, einander widersprechenden Impulse zu einer umfassenden Synthese zu vereinen, gewinnt in nicht enden wollenden Gedankengängen und Monologen eine sehr bildungsbürgerliche Kontur. Brod betrachtet den geistigen Weg seines Helden mit offenkundiger Sympathie (die mit der Nähe zu eigenen Erfahrungen zu tun haben mag), ohne dabei die Beschränktheit der jugendlichen Weltsicht, vor der Stefan auch ausgiebigste Platon-Lektüre nicht schützt, zu verleugnen. Zwar spricht der Roman häufig vom „Glanz der Jugend“, aber er lässt gleichzeitig keinen Zweifel daran, dass eine Jugend im Prag des Jahres 1914 nicht nur glänzt, sondern genauso von Beschränkung und geistiger Einengung geprägt ist. Bei der Schilderung eines in solcher Zwangslage zu sich selbst findenden Intellekts kommt dem Erzähler eine Erkenntnis zugute, die, hier erstmals ausformuliert, auch über manchem früheren Brod-Roman stehen könnte: „[W]ir irren, wenn wir uns die Gedanken der Siebzehnjährigen als prinzipiell von den unseren (den Erwachsenen-Gedanken) verschieden vorstellen. Es ist dort nur alles neu, was uns längst gewohnt ist, sonst aber ist es nicht minder verwickelt, nicht minder durchgegliedert und hintergründig.“
Die konsequente Umsetzung dieser Maxime (und nicht die etwas schale Auseinandersetzung mit dem Jahr 1914) macht den Roman zu einer lohnenden Lektüre; an seiner Aufnahme in die Reihe der Neuauflagen ist – trotz der nicht unerheblichen kompositorischen Mängel – nicht zu zweifeln. Man hätte sich vom Verlag allerdings mehr Sorgfalt beim Umgang mit dem Text gewünscht: Wie schon in den bisherigen Bänden der Reihe lässt das Korrektorat zu wünschen übrig, was diesmal unter anderem zu dem peinlichen Vorfall führt, dass der Held einem Gegenspieler auf dessen „eigenem Grund und Hoden“ begegnet. Sicherlich wäre es unfair, an eine Leseausgabe übertriebene philologische Erwartungen zu richten, und die erneute Verfügbarkeit einer solchen Ausgabe kann nicht genug begrüßt werden. Trotzdem ist die Tatsache, dass der „Stefan Rott“ des Jahres 2014 hinsichtlich der Textgestalt hinter der letzten Edition von 1973 zurückbleibt, kein gutes Omen für die überfällige Wiederentdeckung des Autors Max Brod.
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