Keine Angst haben

Karl Ove Knausgårds „Spielen“ ist der dritte Teil seines autobiografischen Epos

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karl Ove Knausgårds beschreibt im dritten Teil seines autobiografischen Epos die Zeit der Kindheit, in der das Spielen ein wesentlicher Bestandteil des Lebens ist. Mit drei oder vier Jahren ist die „Arbeit“ des Kindes das Spielen. Es hat einen eben so hohen – wenn nicht höheren – Stellenwert als die Beschäftigungen des Erwachsenen. Dabei beschreibt Knausgård ein Kinderleben in einem kleinen skandinavischen Ort, am Wasser gelegen, auf einer Insel, in einem Ambiente und in einem gesellschaftlichen Klima, das für die Erwachsenen von dem Optimismus und der Konsumbereitschaft sozialer westeuropäischer Marktwirtschaften Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre geprägt ist. Konkret geht es um eine junge Familie mit zwei Kindern – der Erzähler und sein etwas älterer Bruder – und einen strenger Vater, der als Lehrer an einer Schule arbeitet. Die Mutter ist das emotionale und liebevolle Element im Leben der Kinder. Sie nimmt nur teilweise die Rolle der Hausfrau ein, arbeitet in einer sozialen Einrichtung. Der Vater ist in dieser häuslichen Situation nur während der Mahlzeiten präsent. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer und sorgt für eine angespannte Atmosphäre. Haben die beiden Brüder doch immer Angst, ihn zu stören oder in irgendeiner Art und Weise seinen Unmut zu erregen.

Knausgård beschreibt die Kindheit des Protagonisten, seines Alter Ego, als ein Warten auf die unvorhersehbaren An- und Übergriffe seines Vaters. Sei es verbaler Natur oder auch durch körperliche Züchtigung. Dabei ist der besondere Schrecken, der in diesen Szenarien der Angst steckt, vor allem in der Zeitauffassung des Kindes zu finden. „Nie vergeht die Zeit so schnell wie in der Kindheit, nie ist eine Stunde so kurz wie in ihr. Alles steht einem offen, und man läuft mal hierhin und mal dorthin, tut dies und tut das, und dann ist die Sonne untergegangen, und man stellt fest, dass man im abnehmenden Licht steht und die Zeit plötzlich wie ein heruntergelassener Schlagbaum vor einem liegt: Oh nein, ist es wirklich schon neun? Aber gleichzeitig vergeht die Zeit auch nie so langsam wie in der Kindheit, niemals sonst ist eine Stunde so lang wie in ihr. Verschwindet das Offene, verschwinden die Möglichkeiten, mal hierhin, mal dorthin zu laufen, sei es nun in Gedanken oder in der Wirklichkeit, wird jede Minute zu einem Schlagbaum und die Zeit zu einer Zelle, in der man gefangen ist.“

Das schwierige Verhältnis zum Vater spiegelt sich in der Bedeutung, die der Autor seiner Mutter in dem Beziehungsgeflecht Familie zuweist: „Sie rettete mich, denn wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich alleine mit Vater aufwachsen müssen, und dann hätte ich mir früher oder später auf irgendeine Weise das Leben genommen. Aber sie war da, Vaters Finsternis wurde ausgeglichen, ich lebe, und dass ich dies nicht voller Freude tue, hat nichts mit der Balance in meiner Kindheit zu tun. Ich lebe, bin selbst Vater und habe im Zusammenleben mit meinen Kindern im Grunde immer nur ein einziges Ziel verfolgt: dass sie keine Angst vor ihrem Vater haben.“

So beschreibt der Autor sehr eindrucksvoll das Spannungsfeld Kindheit und es gereicht ihm zur Ehre, wenn sein Fazit als Vater, der er als Schriftsteller in der Gegenwart auch ist, feststellt, dass sein einziges Erziehungsziel bei seinen eigenen Kindern ist, dass diese keine Angst vor ihm haben sollen. Und wenn er beschreibt, wie seine Kinder ihn ignorieren, wenn er den Raum betritt, rechnet er sich dies als Ergebnis einer geglückten Erziehung an, die es geschafft hat, die eigenen Kinder angstfrei aufwachsen zu lassen. Und wenn sie ihn bei Gesprächen ignorieren und nicht ernst nehmen, wertet er dies ebenfalls als einen großen Erziehungserfolg. Dass man aus einer beschädigten Kindheit so eine weise pädagogische Strategie entwickeln kann, ist fast mehr, als man nach einer solch autoritär strukturierten Kindheit erwarten kann. Und so ist dieses auch in der Übersetzung von Paul Berf sprachlich großartige Buch eine spannende und gleichzeitig berührende Geschichte einer Kindheit, die trotz Widerständen und seelischen Verletzungen durch den Vater letztendlich zu einem guten Ergebnis geführt hat. Ein Ergebnis, das trotz eines solchen Vaters und aufgrund anderer liebevoller Menschen uns Lesern einen großartigen Romancier beschieden hat. Sicherlich eines der besten zehn Bücher des Jahres.

Titelbild

Karl Ove Knausgård: Spielen. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Paul Berf.
Luchterhand Literaturverlag, München 2013.
571 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874128

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