Hildebrand und Hadubrand zwischen zwei Systemen

Uwe Kolbes lang erwartetes Romandebüt „Die Lüge“ erzählt von den Verstrickungen zweier Männer ins DDR-System

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pünktlich zum 25. Jubiläum von Wende und Wiedervereinigung hat Uwe Kolbe (Jahrgang 1957) seinen ersten, lang erwarteten Roman vorgelegt. Der bisher vor allem als Lyriker und Essayist hervorgetretene, heute in seinem Geburtsort Berlin wohnende Autor erzählt darin die Geschichte des jungen Komponisten Harry Einzweck und seines Vaters Hinrich. Auch wer sich nur ein bisschen in der Biografie Kolbes auskennt beziehungsweise seinen dichterischen Werdegang in der DDR verfolgt hat, wird schnell merken, dass hinter dem avantgardistischen Tonsetzer und seinem für die Stasi im Kulturbereich der DDR tätigen Vater – Hildebrand und Hadubrand nennen sich die beiden gelegentlich anspielungsreich – ein Stück getarnte Autobiografie des Autors selbst verborgen ist. Denn als der Dichter 1986 mit einem Dauervisum die DDR verließ, ließ er auch seinen Vater Ulrich Kolbe dort zurück, der ihm geholfen hatte, in der Kulturszene Fuß zu fassen, über den Sohn aber andererseits auch Informationen zu gewinnen hoffte in Bezug auf ein Milieu, welches vom Staat immer misstrauisch beäugt wurde.

„Die Lüge“ ist deshalb zum einen eine sehr private Auseinandersetzung Uwe Kolbes mit der eigenen Vergangenheit. Wie schwer dem Autor das Herangehen an diesen „Lebensstoff“ gefallen ist, kann der Leser anhand der dem Romantext nachgestellten Dankesworte nachvollziehen. In ihnen ist davon die Rede, dass die Niederschrift nur deshalb gelingen konnte, weil eine andere Person den Dichter an den Schreibtisch zwang. Auch die ersten Sätze des Buches sprechen sehr beredt davon, wie gern der Erzähler sich diesen Text erspärt hätte, allerdings einsehen musste, dass eine Geschichte, die insgesamt so neu nicht war, auch in der von ihm erlebten Variante erzählt werden musste, damit der eigene Kopf endlich wieder frei würde für Besseres.

Zum anderen zielt Kolbes Roman, indem er die Dichtervita – nicht immer ganz überzeugend übrigens – verfremdet, aus einem Schriftsteller einen Komponisten macht und bekannte Protagonisten der DDR-Literatur unter anderen Namen auftreten lässt, auch auf etwas Allgemeingültigeres. Es geht nicht allein um einen ganz konkreten Vater-Sohn-Konflikt – der klingt an verschiedenen Orten bereits in Kolbes Gedichten an, bedürfte also eigentlich gar nicht mehr seiner Transformation ins Prosaische –, sondern um die höchst provokante Frage, ob man im Rückblick auf das Repressionssystem DDR tatsächlich immer so genau zwischen Opfern und Tätern, Schuldigen und Sich-schuldig-Machenden, Freunden und Verrätern unterscheiden kann, wie das heute so oft wie gern und gelegentlich auch ziemlich pauschal geschieht.

Die Parallelführung zweier Lebensläufe gibt dem Roman seine Spannung. Da ist der Vater, der sich einst bewusst für den östlichen der beiden deutschen Staaten entschied, aus Westdeutschland in die DDR übersiedelte und voller Enthusiasmus mitwirken wollte am Aufbau dieses Landes. Das führt ihn nahezu zwangsläufig in die Reihen der Partei und später zur Spitzeltätigkeit im Kulturbetrieb. Dem Sohn freilich öffnet die herausgehobene Position dieses Mannes – der die Familie im Übrigen früh verließ, die Verbindung zu seinem ältesten Kind allerdings stets aufrechterhielt – Türen, die ihm sonst wahrscheinlich verschlossen geblieben wären. Dass er dafür von dem Älteren „abgeschöpft“ wird, was seine zahlreichen neuen Bekannten in der Szene betrifft, fällt ihm zunächst gar nicht auf. Erst nachdem er mehrfach in schmerzliche Konflikte mit der herrschenden Kulturdoktrin geraten ist und in seinem Meister, Sebastian Kreisler – hinter dem sich natürlich der Kolbe-Entdecker und -Förderer Franz Fühmann verbirgt –, praktisch einen Ersatzvater gefunden hat, wird er vorsichtiger im Umgang mit Hinrich Einzweck.        

Ästhetisch handhabt Uwe Kolbe diese Konstellation souverän. Denn die Distanz, in die sich Harry – der aus der Ich-Perspektive spricht – nach und nach zu Hinrich Einzweck begibt, deutet sich schon darin an, dass man unter Zugrundelegung einer personalen Erzählperspektive an das Leben des Vaters von außen herangeführt wird. Wenn dann im vorletzten Kapitel, jenem mit der Nummer 63, diese beiden Darstellungsformen miteinander verschmelzen, darf das wohl als Signal dafür genommen werden, dass dem Sohn nun auch das Falsche und Lügenhafte an der eigenen Existenz aufgegangen ist, er sozusagen mehr von seinem Vater in sich entdeckt hat, als ihm lieb sein kann.

„Die rote Note“ hat der ältere Einzweck einst ein Blättchen genannt, dass er als im Hintergrund tätiger Mitverantwortlicher für eine nationale Komponistenwerkstatt herausgab. Dem Einfluss seines Erzeugers hat es der Sohn letzten Endes zu verdanken, dass es ihm leichter fiel, in die Musikszene des Landes hineinzukommen, als manchem anderen. Dafür aber musste er Kompromisse machen, sich mit der Zensur  arrangieren, die eine oder andere „rote Note“ selbst schreiben, sich in seiner Kritik am Staat zurückhalten. Die rigorose Abrechnung mit der Generation der Väter, die das Buch in einem seiner letzten Kapitel führt, macht deshalb vor den Söhnen nicht halt. Verriet der eine seine Ideale, die ihn einst aus dem Westen Deutschlands in den Osten führten, indem er sich widerstandslos in einen Machtapparat integrieren ließ, der nur noch eine Sicht der Welt zuließ, machte der andere zu wenig aus seiner exponierten Stellung als Künstler.

„Die Lüge“ ist ein radikal ehrliches Buch, das zu schreiben sicherlich große Kraft gekostet hat. Es erzählt die Geschichte der Verstrickung zweier Menschen, die sich nicht nur im Privaten – der Sohn ist genauso wechselhaft in seinen Liebesbeziehungen wie der Vater – ähnlicher sind, als der Nachgeborene lange Zeit wahrhaben will. Und es plädiert dafür, nicht die Augen zu verschließen vor den Ungerechtigkeiten der Welt – nur um des eigenen kleinen Vorteils willen.

Titelbild

Uwe Kolbe: Die Lüge. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
384 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783100402219

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