Der Wiener Prater als „hetero topos“

Eine Raum-Text-Erfahrung

Von Fabian OellersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Oellers

I.

Viele literarische Werke spielen in der Metropole Wien. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei meist um Texte von Autoren und Autorinnen, die selbst unmittelbar mit der Stadt verbunden sind, weil sie dort leb(t)en oder aufgewachsen sind und letztlich auch literarisch wirk(t)en. Einen zentralen Einfluss auf Wien als literarische Stadt hatten gewiss die Vertreter der Wiener Moderne um Arthur Schnitzler, Hermann Bahr oder Hugo von Hofmannsthal. Die Texte des Jung-Wien sind von Verweisen auf prototypische Stadtlokalitäten wie Bahnhöfe, Theater oder die – nicht nur literarisch – allgegenwärtigen Kaffeehäuser durchzogen.

Auch in den Texten zeitgenössischer Autoren und Autorinnen wie Wolf Haas oder Elfriede Jelinek lassen sich solche Verweise vielerorts finden. Die vielen Wien-Spuren in der Literatur haben längst dazu geführt, dass sich ein Literatur-Tourismus etabliert hat: Schauplätze literarischer Orte wie die Strudlhofstiege werden begangen, literarische Reiseführer werden publiziert, der Leser macht sich auf zur Feldforschung, er begibt sich sozusagen auf literarische Spurensuche. Doch ist eine solche Spurensuche aus literaturwissenschaftlicher Perspektive wirklich ergiebig? Es drängt sich hier der Verdacht auf, dass oftmals vergessen wird, dass der in der Literatur beschriebene Raum trotz Wirklichkeitsbezug ein fiktiver ist. Trotz mimetischer Konstruktion ist der dargestellte Raum nicht der wirkliche, sondern höchstens sein schriftgewordenes Abbild. Dass jedoch ein besonderer Reiz darin besteht, das beschriebene Realsubstrat, welches wir uns aus unterschiedlichen literarischen Darstellungen heraus vielleicht nur vage, vielleicht sogar relativ detailliert vorzustellen vermögen, mal ,in echt‘ zu sehen und es gewissermaßen live zu erleben, ist nachvollziehbar und keineswegs verwerflich. (Ist das, auf anderen Ebenen, nicht auch ein Grund für die enorme Nachfrage nach Literatur-Verfilmungen?)

Die Frage bleibt jedoch, wie man eine solche Begehung literaturwissenschaftlich frucht- und nutzbar machen kann. Helfen könnte hierbei Julia Kristeva. Im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit den Theoremen Michail Bachtins schuf sie 1967 den Begriff der Intertextualität: Jeder Text sei ein Mosaik aus Zitaten, jeder Text sei Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich damit als eine doppelte lesen.

Roland Barthes, zu jener Zeit Kristevas Mentor in Paris, bezieht sich in seinem 1969 erschienenen Aufsatz „Der Tod des Autors“ eindeutig auf die Literaturwissenschaftlerin und weitet den Textbegriff in einem Maße aus, dass er für unsere raumtheoretischen Überlegungen anwendbar erscheint. Demnach ist der Text „ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur“. Hieran anknüpfend lassen sich die den literarischen Texten vorkommenden Räume und Orte ebenfalls als Texte verstehen. Der Raum ist also ein Text. Allerdings drängt sich hier unweigerlich die Frage auf, wie ein solcher ,Text‘ nun zu lesen wäre. Damit sind wir wieder beim Literatur-Tourismus, sollten ihn jedoch in unserem Sinne nun lieber zur Forschungs-Reise aufwerten. Denn unter der Prämisse „Raum als Text“ scheint eine Schauplatz-Begehung äußerst sinnvoll. Hier bietet sich zum Vergleich das Bild eines Historikers oder Archäologen an, der einen Erinnerungsort zur Analyse begehen, ja erfahren möchte.

Ein Raum, der Eingang in verschiedene literarische Texte gefunden hat, ist der Wiener-Prater, ein populärer Vergnügungs- und Naturpark. Verweise auf den Prater als Intertext finden sich in Jelineks „Die Klavierspielerin“ (1983), in Graham Greenes „The Third Man“ (1950) oder, als vielleicht prominentestes Beispiel, in Schnitzlers „Lieutenant Gustl“ (1900). Eindrucksvoll sind diese Beispiele unter anderem deshalb, weil sich die Örtlichkeiten der literarisch beschriebenen Raumstruktur mitunter eindeutig ermitteln lassen. Nachdem der Protagonist in Schnitzlers Text den Musikverein, ein Konzerthaus am südlichen Rand der Innenstadt, verlassen hat, läuft er panisch und in Gedanken versunken die Ringstraße entlang. Sein Weg führt ihn schließlich über die Praterstraße stadtauswärts und hinein in den Prater. Im Kontext der suizidalen Gedanken Gustls wird der idyllische Naturort zu einem gar schaurigen Ort, und so stellt dieser Raum-Verweis zweifelsohne einen Höhepunkt der Erzählung dar. Die Möglichkeit, den echten Prater zu besichtigen, zu erfahren und damit den Versuch zu unternehmen, ihn als Intertext selbst zu lesen, nahm ich im Rahmen einer studentischen Wien-Exkursion im Mai 2014 unter der Leitung Jörg Schusters wahr.

II.

Den Weg zum Prater befahre ich mit der Straßenbahn vom Westbahnhof zum Praterstern. Damit meide ich den ca. 45-minütigen Fußweg, den Gustl vom Musikverein zum Prater zurücklegt, aber macht Erika Kohut aus „Die Klavierspielerin“ es nicht genauso? Auf dem Weg in den 2. Bezirk, so habe ich das Gefühl, scheint sich irgendetwas aufzulösen. Das Bild vor meinen Augen verändert sich, das belebte, das vornehm-städtische, das mondäne Wien wandelt sich in ein beinahe zwielichtiges. Die Boutiquen und edlen HiFi-Fachgeschäfte, die mir zuvor ins Auge stachen, wandeln sich in finstere Kneipen und Rotlicht-Etablissements.

Vom Praterstern aus schließlich erübrigt sich ein Blick in den Stadtplan, das prominente Wiener-Riesenrad sieht man schon aus der Ferne, es lacht mich an, wie der sich nach dem Regen öffnende Himmel dahinter. Es markiert den Eingang zum Wurstelprater. Zu der Zeit, in der „Lieutenant Gustl“ verfasst wurde, gab es den Vergnügungspark schon lange, auch das Riesenrad als Wahrzeichen war bereits errichtet worden. Dennoch findet der Ort selbst keinen Eingang in den als inneren Monolog konstruierten Text. Das ist nicht verwunderlich, passt doch der Raum mit seinen fliegenden Bauten, Schaubuden und Karussellen mit (Jelinkes) „bunt lackierten (Plastik-)Pferdchen“ so gar nicht zum äußerst verzweifelten Gemütszustand des jungen Leutnants. Gustl führt es über die Hauptallee direkt in den nächtlichen Naturpark; „und dunkel ist es, hu! man könnt’ schier Angst kriegen.“ Ich folge ihm, das heißt, ich folge der sukzessiven Raumbeschreibung Arthur Schnitzlers und ertappe mich selbst dabei, wie ich mich frage, auf welcher Bank sein Protagonist denn nun gesessen hat. Nein! Der literarische Raum ist und bleibt ein fiktiver. Doch was ist die Funktion der Raumdarstellung innerhalb des literarischen Textes? Ich gehe weiter. Die bereits beobachtete Auflösung des Urbanen scheint nun vollkommen. Es ist, als ob einen der Prater verschluckt, Erika zieht etwas „saugend in diese Landschaft hinein“ und auch Gustl macht diesen Weg eher unbewusst als vorausschauend: „jetzt bin ich gar im Prater.“

Die Hauptallee ist ein schier unendliches Geradeaus. An den Seiten befinden sich einige Sportstätten: Fußballplätze, Hockeyfelder, sogar eine Skate-Anlage entdecke ich. Doch je weiter ich vordringe, desto naturbelassener wirkt der Park auf mich. Die Ränder sind nun deutlich mehr bewaldet. Wie weit es wohl noch geht? Ein Blick auf den Plan verrät mir: Ich bin noch relativ am Anfang und doch bin ich mittendrin. Ist das noch Wien? Oder bin ich längst an einem anderen Ort? Zweifelsohne befinde ich mich immer noch in der österreichischen Hauptstadt, doch innerhalb dieser stellt der Prater tatsächlich so etwas wie einen „hetero topos“ dar. Der Begriff ist bewusst in Anlehnung an Michel Foucaults Vortrag „Von anderen Räumen“ gewählt. Eine Heterotopie beschreibt Foucault als „Gegenplazierung“ oder „Widerlager“, in denen „die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind“. Demnach bezeichnet er sie als „Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“.

Zwar haben wir es mit unterschiedlichen Texten und deskriptiven Verfahren zu tun, dennoch verweisen sie auf dasselbe Realsubstrat und seine literarische Funktion scheint – zumindest bei Jelinek und Schnitzler – eine ähnliche zu sein. Mein bescheidener Versuch einer Raumlektüre offenbart den Prater, deutlicher als es ohnehin schon aus den literarischen Texten hervorgeht, als beinahe „unzivilisierten“ Raum und damit als Gegenort zum städtischen, von Prachtbauten ausstaffierten Wien. Das ist geradezu sinnbildlich für Gustls inneres Drama. Auch die Klavierlehrerin Erika ist offenbar auf der Suche nach einem Gegenort zur beengenden, von ihrer herrschsüchtigen Mutter dominierten Wohnung. Solche Erkenntnisse lassen sich zwar auch aus der Lektüre der eigentlichen Texte gewinnen, jedoch kann – und das sollte hier gezeigt werden – eine „literarische Spurensuche“ die Wahrnehmung für den ursprünglichen Text intensivieren. Und das ist freilich der Raum, der Eingang in verschiedene Texte und Verfahren nimmt. Gleichwohl gibt es für diesen Raum als Text keinen klassischen Urheberrechtsschutz, und so unterliegt er stetigen Veränderungen. Eine Skate-Anlage hat es zu Schnitzlers Zeiten im Prater sicher noch nicht gegeben. Eine Untersuchung der Frage, wie der diachrone Wandel des Raums an der Literatur gewissermaßen mitschreibt, hätte ihren eigenen Wert. Ich belasse es bei dieser ersten Erfahrung. Die Jesuitenwiese erreiche ich nicht mehr, zu finster ist es mir bereits geworden. Der Rückweg führt mich wieder am Riesenrad vorbei, ich lasse es lieber hinter mir. Vielleicht – denke ich – hat in der Nähe vom Praterstern ja noch ein Kaffeehaus geöffnet.

Erzählliteratur:

Jelinek, Elfriede: Die Klavierspielerin. Hamburg 2012 (43. Aufl.) [1983].

Schnitzler, Arthur: Lieutenant Gustl. Stuttgart 2009 [1900].

Andere Quellen:

Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“. In: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft. Frankfurt a.M. 2002, S. 104–110.

Foucault, Michel: Andere Räume. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1992, S. 34–46.

Kristeva, Julia: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Hrsg. v. Jens Ihwe. Frankfurt a.M. 1972, S. 345–375.