Der „Abbruch“ in der Gegenwartsliteratur

Jörg Albrechts Studie untersucht die poetische und performative Kraft des „Abbruchs“ am Beispiel von zeitgenössischen Romanen und Hörspielen

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wissenschaftliche Akribie und Qualität zeigen sich mitunter bei germanistischen Qualifizierungsschriften bereits im Literatur- und Medienverzeichnis. Ein präzise erfasster und bibliographierter Korpus an Primärliteratur und die entsprechend selektierte Sekundärliteratur lassen oftmals auf das Niveau der Arbeit schließen. Bereits das Verzeichnis der Primärquellen in der Studie von Jörg Albrecht weckt Neugierde: Mehr als 100 Buch-, Hörspiel- und Filmmaterialien hat er ausgewertet. Darunter fallen Namen von bekannten Gegenwartsautorinnen und -autoren wie Rolf Dieter Brinkmann, Rainer Werner Fassbinder, Ernst Jandl, Ferdinand Kriwet, Franz Mon, Andreas Neumeister, Kathrin Röggla oder Ror Wolf besonders ins Auge. Mehr als 20 Seiten umfasst die Auflistung der Sekundärquellen, die Albrecht zusammengetragen und verwertet hat. Auf dieser Basis betrachtet er, wie die Möglichkeiten und Prozesse von Abbrüchen in der Gegenwartsliteratur gestaltet sind. Progressiv ist sicherlich auch der Gedanke, nicht nur Printtexte zu berücksichtigen, sondern einen intermedialen Zugang zu wählen, indem Hörspiele gleichberechtigt behandelt werden. Dies erhöht die Stichhaltigkeit der Aussage und macht die Allgegenwart von Abbrüchen als poetischen Gestaltungsmitteln transparent.

In der knappen Einleitung umreißt er seine Fragestellung präzise: „Diese Arbeit will den Abbruch vor allem als strukturellen Einschnitt in die Textgestalt untersuchen, als performatives Instrument, das es Autoren erlaubt, die Setzungen des eigenen Lebens und Arbeitens, aber auch die Macht der sie umgebenden Diskurse zu hinterfragen.“ Mit anderen Worten: In Zeiten von kurzen Youtube-Sequenzen und filmisch verbreiteten Cliffhangern, aber auch in Kontinuität zu tradierten literarischen Fragmenten gewinnt ein Aspekt große Bedeutung – die Poetizität von gebrochener Ästhetik in Form von Abbrüchen. Betrachtet wird folglich die poetische und performative Kraft des Abbruchs in deutschsprachigen Romanen und Hörspielen für einen Zeitraum von beinahe vierzig Jahren: exemplarische Medien aus den Jahren 1965 bis 2002 werden einer perspektivischen Analyse und Interpretation unterzogen.

Dazu ist die Dissertation, die 2011 an der Ruhr-Universität Bochum eingereicht und von der bekannten Komparatistin Monika Schmitz-Emans betreut wurde, klassisch aufgebaut. Nach der knappen, das Thema akzentuierenden Einleitung geht es im ersten Kapitel um „Abbrüche und ihre Geschichte“. Neben einem Überblick über den Stand der bisherigen Forschung zeigt sich, dass bereits mit den Begriffen „(literarisches) Fragment“, „Abfall“ beziehungsweise „Montage“ sprachliche Möglichkeiten gegeben waren, etwas Unvollständiges respektive Unfertiges zu bezeichnen. Albrecht ergänzt noch ein weiteres Detail – den „cut-up“ als radikale Form literarischer Montage: „Wo Literatur schneidet, geschieht oftmals beides zugleich: Eine Bewegung wird gestoppt und damit ebenfalls als zusammengesetzt oder überhaupt gesetzt erkennbar“. Auch literaturgeschichtlich gibt es zu diesen zeitgenössischen ‚Abbrüchen‘ Vorläufer, wie Albrecht etwa an Laurence Stern, E.T.A. Hoffmann und Jean Paul verdeutlicht. Fortgeführt wird diese Entwicklungslinie in Werken der historischen Avantgarde. Vorrangig an Texten von Kurt Schwitters, Hans Arp oder Hugo Ball zeigt Albrecht, dass die Avantgardebewegungen – vor allem der Dadaismus – ein diszipliniertes Arrangieren von Textabbrüchen etabliert haben, bedingt durch gesellschaftlich-kulturelle Wahrnehmungsbrüche.

Im umfangreichen zweiten Teil seiner Dissertation geht der Autor auf das Thema „Abbrüche und Performanz“ ein. Mehr als 110 Seiten widmet er den theoretischen Grundlagen und Analysekategorien, mit denen das Proprium des Abbruchs (sprach-)philosophisch bestimmt werden kann. Terminologisch klärt er die Kategorien Performanz und Iterabilität, gestützt auf aktuelle Vordenker wie Jacques Derrida, Judith Butler, Michel Foucault oder Gilles Deleuze. Es wird evident, dass Wiederholung und Beständigkeit nicht per se zu gelingender Subjektivität beitragen, wohingegen Unbeständigkeit und Alterität den Seinsbedingungen der Gegenwart mehr entsprechen. Gerade in Hörspielen ist bemerkbar, dass durch Stimmgestaltung und Sprachexpression eine „leicht zu störende performance“ zu generieren ist.

Im Zentrum des dritten Teils und Schwerpunkts der Studie steht die exemplarische Analyse von zwanzig Texten aus dem deutschsprachigen Raum, die jeweils genrekonform und zeitlich geordnet betrachtet werden. Der Grund für dieses Vorgehen erschließt sich schnell, wie Jörg Albrecht betont: Ihm geht es um die Spezifik des Abbruchs bei einzelnen Autoren, vice versa aber auch um das Generelle mit Blick auf eine typische Poetik, die für eine literarische Strömung beziehungsweise für einen Abschnitt relevant ist. Die Zäsur setzt er um das Jahr 1982, da hier ein medialer Wandel eingesetzt habe, der gegenwärtig Internet und Computer zu Leitmedien werden lässt. Ohne die Ergebnisse von Albrechts Detailanalysen an dieser Stelle nachzuzeichnen, fallen einige Tendenzen besonders auf: Poetisch existierten höchst divergente Wege, um Brüche und Irritationen auszulösen. Besonders seit Ende der 1980er-Jahre konvergieren allerdings dank der medialen Entwicklungen die verwendeten Mittel, wie Albrecht am Beispiel von Rainald Goetz, Andreas Neumeister und Kathrin Röggla zeigt.

Im Fall von Hörspielen lässt sich vor allem an den sogenannten Neuen Hörspielen seit den 1960er-Jahren erkennen, dass das Spiel mit Montage, Stimmen und Blenden wesentlicher Bestandteil der Hörspieldramaturgie geworden ist. In jüngster Zeit bieten die technischen Möglichkeiten (zum Beispiel digitale Aufnahmen und PC-basierte Schnittprogramme) unendliche Gestaltungspotenziale. Mit den Worten von Albrecht: „Ähnlich wie Neue Musik gestaltet das Hörspiel ab 1980 […] den Abbruch als Teil einer dissonanten Vertonung von Wirklichkeit“.

Neben vielen anderen Aspekten sind sicherlich zwei Erkenntnisse der Studie beachtenswert: Zunächst einmal konstatiert Albrecht, dass „der Abbruch mit einem politischen Potential des Nachdenkens über die Macht des Sprechens und Schweigens ausgestattet zu sein“ scheint. Prosa und Hörwerke von Ror Wolf etwa sind dafür geradezu paradigmatisch. Zudem weist die Studie über den deutschsprachigen Kontext hinaus und fokussiert en passant andere Nationalliteraturen und deren Verhältnis zu Abbrüchen. Dies sollte in Zukunft viel stärker von Folgestudien explizit analysiert werden, wie Albrecht zurecht postuliert. Denn Abbrüche machen Textgrenzen, Mittel und Entstehungsbedingungen sichtbar und hinterfragen sie. Insgesamt liegt mit Jörg Albrechts Arbeit eine verdienstvolle wissenschaftliche Studie vor, der man eine hohe Verbreitung und Rezeption wünschen kann.

Titelbild

Jörg Albrecht: Abbrüche. Performanz und Poetik in Prosa und Hörspiel 1965-2002.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
489 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313613

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