Bretonische Wahlverwandtschaften

Dieter Hornig hat Julien Gracqs zweiten Roman „Der Versucher“ ins Deutsche übertragen

Von Maik M. MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maik M. Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Übersetzung von Julien Gracqs zweitem Roman „Der Versucher“, im Französischen unter dem Titel „Un beau ténébreux“ bereits im Jahr 1945 erschienen, setzt der Droschl – Literaturverlag die Übertragung von Gracqs Frühwerk ins Deutsche fort, so dass nun das gesamte erzählerische Werk auch in deutscher Fassung vorliegt. Bereits 2013 veröffentlichte der Verlag, ebenfalls in der Übersetzung von Dieter Hornig, aus dem Nachlass von Julien Gracq die „Aufzeichnungen aus dem Krieg“. Beide Texte entstammen einem identischen Entstehungszeitraum um 1940/1941. Während das Kriegstagebuch jedoch Gracqs Erfahrung als Leutnant im Zweiten Weltkrieg in spezifisch literarischer Überformung aufbereitet, entfaltet „Der Versucher“ ein von Krieg und Zerstörung denkbar weit entferntes Szenario. Exakt in der Mitte des Textes steckt jedoch eine Art biografischer Splitter, eine zweiseitige winterliche Imagination der Lausitz um Hoyerswerda, die wie eine Fantasmagorie auf Gracqs deutsche Kriegsgefangenschaft im Jahr 1940 verweist, in der der Prolog des Romans – gewissermaßen seine Keimzelle – entstanden sei, so Dieter Hornig im lesenswerten Nachwort.

Abgesehen von dieser disparaten Reminiszenz bleiben zeithistorische Bezüge in Gracqs Roman außen vor: Präsentiert wird eine mondäne, gebildete Gesellschaft, die sich einer ausgedehnten Sommerfrische in der Bretagne hingibt. In einem luxuriösen Hotel verbringt eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe junger Leute ausgedehnte Ferien, die von Juni bis September reichen. Schon angesichts dieses Zeitraumes wird klar, dass hier kein moderner Urlaubsbetrieb geschildert wird, sondern ein spätbürgerlich-dandyhafter Lebensstil, dessen Protagonisten auf der Suche nach ausgedehnter Zerstreuung über alle Zeit der Welt verfügen. Erzählt wird das Geschehen aus der Perspektive des Literaten Gérard, der in elaborierten Tagebucheinträgen die Szenen und Gespräche, die Begegnungen und sentimentalen Konstellationen, die die Figuren eingehen, bis hinein in feinste Verästelungen verwirrter Gefühle und unterschwelliger Begierden in ausgedehnten Textpassagen ausleuchtet.

Mit der ersehnten Ankunft des letzten Gastes Allan, dessen düsteres Charisma schon im Vorfeld seines Erscheinens für willkommene Spannung sorgt, gerät der gediegene Gleichlauf der Tage ebenso durcheinander wie die Geometrie der Figuren. Allan Murchison, ausgestattet mit allen Attributen charismatischer Strahlkraft, mit einem souveränen Intellekt, aber auch mit suizidalen Tendenzen, entfaltet fortan eine magnetische Faszination, die in der Logik von Kräften der Anziehung und Abstoßung die Konstellation der Paare verwirrt und neu ordnet – wobei Goethes „Wahlverwandtschaften“-Roman den Rang eines explizit reflektierten Vorbildes einnimmt.

Sprachlich wird dabei ein anspruchsvoller Apparat in Gang gesetzt: Sowohl in der Konversation als auch in der Tagebuch-Reflexion wird bildungssprachlich auf höchstem Niveau operiert, wobei der Autor eine Überfülle von Metaphern, intertextuellen Bezügen und literarischen Anspielungen quer durch die europäische Höhenkamm-Literatur installiert – Rimbaud, Goethe und Poe bilden hier nur die prominentesten Bezugspunkte. Die bisweilen allzu hochgelehrte Sprache, die gelegentlich in komplexe Satzkonstrukte von Halbseitenlänge mündet, entspannt sich wohltuend mit dem Wechsel der Erzählperspektive im letzten Viertel des Buches, wenn Gérards Tagebuch endet und ein auktorialer Erzähler die offenen Enden des Textes zum dramaturgischen Finale, dem Suizid Allans, zusammenführt.

Für das Vorkriegs-Kammerspiel, das im „Hôtel des Vagues“ abläuft, bildet die bretonische Küstenlandschaft weit mehr als eine bloße Kulisse. Julien Gracq erhebt die Landschaft in seinen grandiosen Schilderungen vielmehr zu einem Akteur eigener Provenienz und imaginiert sie, in Korrelation zu den Befindlichkeiten der Figuren, in atmosphärisch ungeheuer dichten Beschreibungen. Die Physiognomie der Landschaft und des Meeres, die durch eine breite Palette akustischer und visueller Erscheinungsformen von gleißender Helle bis zum düsteren Horizontverlust gekennzeichnet ist, erlangt dadurch eine ganz eigene Signifikanz. Die späteren Romane Gracqs, vor allem „Das Ufer der Syrten“ von 1951, sind in ihrer verknappten Sprache oft mit den Texten von Ernst Jünger in Verbindung gebracht worden. Auch dieser frühe Text von Julien Gracq unterhält – trotz seiner sprachlichen Opulenz – durch die Semantisierung von Topografien Korrespondenzen zu Jünger.

Titelbild

Julien Gracq: Der Versucher. Roman.
Übersetzt aus dem Französischem von Dieter Hornig.
Literaturverlag Droschl, Graz 2014.
232 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783854209522

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