Bilder im Kopf

Clément Chéroux untersucht die „Bildpolitik des 11. September“ und stellt die Frage: Was haben wir von 9/11 gesehen?

Von Jonas NesselhaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Nesselhauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 erschütterten die westliche Welt und veränderten die Kultur und das Denken nachhaltig. Die politischen Konsequenzen sind teilweise noch bis heute spürbar – von Bundeswehreinsätzen im Mittleren Osten bis zu einem regelrechten ‚Sicherheitswahn’ im Alltag und besonders bei Flugreisen. Aber die Anschläge, die an jenem Dienstag im September die USA erschütterten, hatten auch ebenso weit reichende, wenn auch nicht immer so klar spürbare Konsequenzen auf Medien, Kunst und Literatur. Schon bald nach den Anschlägen wurde eine „sogenannte post 9/11“-Ära ausgerufen, und Denker wie Jacques Derrida, Jürgen Habermas oder Jean Baudrillard verstanden die Anschläge als bildmächtige und symbolgewaltige Kriegserklärung gegen die freie Welt.

Denn: Als zwei Passagiermaschinen in die beiden Türme des World Trade Centers in Manhattan flogen, ein weiteres Flugzeug in das Pentagon einschlug, und ein viertes noch kurz vor Washington zum Absturz gebracht werden konnte, war dies allem Schrecken und Terror zum Trotz vor allem ein bildgewaltiges Ereignis. Rund um den Globus, live und in Farbe, starrten Millionen von Menschen auf die Fernsehgeräte.

Sind andere historische Großereignisse der letzten 100 Jahre heute nur noch in rekonstruierten Zeichnungen (etwa das Attentat von Sarajewo) oder verwackelten Schwarz-Weiß-Aufnahmen (der Beginn des Zweiten Weltkriegs, der Angriff auf Pearl Harbor oder der Abwurf der Atombomben über Japan) archiviert, so haben sich die Bilder der Anschläge ins kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation gebrannt, die die Flugzeuge am New Yorker Morgenhimmel unmittelbar vor dem Bildschirm verfolgte. Und das auch dank der bereits damals omnipräsenten US-amerikanischen Medienlandschaft, die in stundenlangen Sonderberichten und teils ohne Werbung berichtete – schneller als Live-Nachrichtensendungen wären heute, 13 Jahre später, nur noch die inzwischen etablierten sozialen Netzwerke.

Genau diese Macht der Bilder steht im Zentrum von Clément Chéroux’ Essay Diplopie. L’image photographique à l’ere des médias globalisés, das in einer deutschen Übersetzung von Robert Fajen 2011 bei Konstanz University Press unter dem Titel Diplopie. Bildpolitik des 11. September erschienen ist. Dabei nähert sich Chéroux seiner zentralen Ausgangsfrage – „Auf welche Weise diese Angriffe auf die Symbole amerikanischer Macht in der Presse dargestellt wurden“ – in einer reich bebilderten zweiteiligen Untersuchung: Zunächst analysiert er ein Korpus von 400 Titelseiten amerikanischer Zeitungen vom 11. und 12. September und kann dabei auffällige und wiederkehrende Bildmotive feststellen. In einem zweiten Schritt verknüpft und vergleicht er ikonisch gewordene Aufnahmen mit bekannten Fotografien der amerikanischen Geschichte. Dadurch erklärt sich auch der gewählte Titel der Untersuchung: „Diplopie“ ist der Augenheilkunde entnommen und bezeichnet ein ‚Doppelt sehen‘. So löste 9/11 beim Betrachter durchaus ein solches ‚Déja-vu-Phänomen‘ aus, wiederholten sich doch die immer gleichen Bilder und Aufnahmen, zuerst im Fernsehen und am nächsten Morgen in den Zeitungen.

Diese „Medialisierung durch Wiederholung“ führte zu einer regelrechten „Endlosschleife“ der Bilder, nicht nur in den Livesendungen, sondern auch auf den Titelseiten, wie Chéroux’ Analyse von 400 amerikanischen Tageszeitungen beweist. Zwar waren die Anschläge ein „zutiefst visuelles Ereignis“, doch die veröffentlichten Bildmotive waren erstaunlich identisch: Zunächst die Explosion der WTC-Türme, am folgenden Tag auffällig häufig die Staubwolke oder die Ruine des Welthandelszentrums. Interessanterweise findet sich diese „Uniformität der fotografischen Darstellung“ auch bei der Analyse internationaler Zeitungen bestätigt – eigentlich ein Paradox bei der Bildgewaltigkeit dieses Ereignisses. Umsichtig wiegt Chéroux verschiedene mögliche Erklärungen für dieses Phänomen ab, darunter die bildliche Wiederholung als Strategie der Traumabewältigung, oder eine von den Medien selbst auferlegte Zensur.

Im zweiten Teil seines Essays werden ikonisch gewordenen Fotografien des 11. September mit zentralen Bildmotiven der amerikanischen Geschichte verglichen, so dass Analogien entstehen. Exemplarisch etwa in der Aufnahme des Fotografen Thomas Franklin, der drei New Yorker Feuerwehrmänner beim Hissen der amerikanischen Flagge vor den Trümmern des World Trade Centers festhielt. Das Bild erinnert stark an die aufgeladene und längst im kulturellen Bewusstsein verankerte Szene von sechs US-Soldaten, die den Sternenbanner im Februar 1945 auf Iwojima hissen, damals aufgenommen vom AP-Reporter Joe Rosenthal.

Die Fotografie der Fahne an Ground Zero wurde in den Wochen danach nicht nur auf verschiedenen Magazinen (darunter auch dem deutschen ‚Stern‘) abgedruckt, sondern wurde unter anderem zum Motiv einer Briefmarke, es wurde während des Superbowls 2002 nachgestellt, als zentrales Bildmotiv auf unzähligen T-Shirts, Medaillen und Gedenkplaketten abgedruckt und sogar in einem New Yorker Museum in Wachs nachgebildet.

So kann Chéroux nachweisen, dass andere Aufnahmen (aber auch Karikaturen oder spätere Fotomontagen) vom 11. September gerade deswegen besonders ikonisch wurden, weil sie entweder an zentrale historische Ereignisse von Pearl Harbor bis Vietnam angelehnt sind, oder mit ihnen in Verbindung gebracht werden können. Somit geling es Chéroux in seiner umsichtigen Abhandlung, einen neuen Blick auf die bekannten und ja längst ikonisch gewordenen Bilder des 11. September zu gewinnen und durch das Aufzeigen ähnlicher Muster und Motive interessante Analogien herzustellen. Das 2009 erschienene Essay des Fotografiehistorikers überzeugt dabei durch die pointierte Analyse des umfassenden Korpus, sowie einen historischen Weit- und bildwissenschaftlichen Überblick im zweiten Teil. Zusätzlich besticht der Band durch eine hochwertige Ausstattung und ein unaufgeregtes Layout, und wird darüber hinaus von 65 Farbfotografien begleitet.

Kein Bild

Clément Chéroux: Diplopie. Bildpolitik des 11. September.
Übersetzt aus dem Französischen von Robert Fajen.
Konstanz University Press, Paderborn 2011.
136 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783862530076

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