Ein Film verliert seine Stimme

In Nana Neuls „Stiller Sommer“ verstummt nicht nur die Protagonistin

Von Ann-Christine ReehRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ann-Christine Reeh

Mit ihrem ersten Film „Mein Freund aus Faro“ (2008) hätte es Regisseurin und Drehbuchautorin Nana Neul nicht besser treffen können. Die Fachpresse lobte den sensiblen Erzählstil des Coming-Of-Age-Films, in dem ein junges Mädchen seine Homosexualität entdeckt, und Neul gewann den Max Ophüls Preis 2008 für das beste Drehbuch. Auch in ihrem neuen Film „Stiller Sommer“ widmet sich die Regisseurin der Identitätssuche und Sexualität ihrer Protagonisten. Doch anstatt Teenies und Twenty-Somethings stellt sie die Generation 50+ in den Mittelpunkt ihres Films.

Kristine (Dagmar Manzel), eine Kunsthistorikerin und Auktionatorin, verliert plötzlich ihre Stimme. Ob dies tatsächlich am Stress der letzten Auktion oder an Ehemann Herbert (Ernst Stötzner) liegt, der drängt das Sommerhaus in den Cevennen zu verkaufen, ist nicht klar. Kristine jedoch verschreibt sich eine Auszeit, reist Hals über Kopf nach Südfrankreich, in das Sommerhaus, in dem sie seit 20 Jahren nicht mehr war. Dort hat sich zu ihrer Überraschung schon Tochter Anna (Marie Rosa Tietjen) eingenistet, die ihre Zeit lieber mit Charmeur Franck (Arthur Igual) verbringt, als sich mit einer nichtbestandenen Prüfung auseinander zu setzen. Schnell ist Kristine wieder in die Dorfgemeinschaft, die sich aus Einheimischen und deutschen Auswanderern zusammensetzt, integriert – trotz Stimmlosigkeit. Vor allem Freundin Barbara (Victoria Trauttmannsdorff), ihres Zeichens Althippie, freut sich über das Wiedersehen. Doch dann kommt Unruhe in das französische Idyll: Franck macht Kristine Avancen, denen sie bald erliegt, und dann reist zu allem Überfluss auch noch der miesgelaunte Herbert an. Schockierende Entdeckungen werden gemacht, die nicht nur die Ehe von Kristine und Herbert, sondern auch den gesamten Plot um 180 Grad wenden.

Neuls neuster Film kommt zunächst mit dem Charme einer leichten Sommerkomödie daher. Sonnendurchflutete Bilder vom schönen, französischen Paradies und säuselnde Chansons bilden den Hintergrund für ein bisschen Seitensprung, für ein bisschen Ehefrust und Familien-„Subtextsuche“. Gefällig plätschert „Stiller Sommer“ dahin, macht es sich bequem in Klischees und Gemeinplätzen. Da ist zum Beispiel die schlechte Beziehung von Mutter und Tochter. „Das Tolle an deinem Stimmverlust ist: Wir können gar nicht streiten. Du hörst mir zu“, sagt Anna ihrer Mutter gleich zu Beginn des Films. Damit ist für den Plot alles geklärt, denn warum Mutter und Tochter im ewigen Zwist liegen, ist nicht weiter von Interesse. Familien im Film, so die Logik, haben nun mal Probleme, auch wenn diese unbekannter Natur sind. Genauso verhält es sich mit der Beziehung von Kristine und Herbert. Irgendwie sind sie unglücklich, irgendwie ist die Luft raus. Und der zunächst stoffelige Herbert darf dann zwischendurch noch mal ganz ‚soft’ werden und nach dem werten Glücksempfinden der Gattin fragen, die irgendwie zwischen Selbstfindung und Midlife-Crisis treibt. Der Film verliert sich oft auf der Ebene der Andeutungen, wenig wird ausgesprochen, wenig verständlich gemacht. Was bei anderen Filmen zum Qualitätsmerkmal wird, zerstört Neuls durch ihre holzhammerhafte Stereotypisierung. Dass Kristine kurzzeitig ihr Glück in den Armen eines jüngeren, französischen Beaus sucht, setzt „Stiller Sommer“ nur die Krone der Klischeehaftigkeit auf.

Fast scheint es so, als ob der Regisseurin dies nach zwei Dritteln ihres Films dann auch aufgefallen ist. Durch einen krassen ‚turn’ der Handlung versucht sie zu retten, was nicht mehr zu retten ist. In einer viel zu langen Rückblende wird nach etwa 60 Minuten die Kehrseite der Geschichte, die Geschichte von Herbert erzählt, in der all die unterdrückten Geschehnisse und Gefühle zu Tage kommen, die bis dahin nur unter der Oberfläche schlummerten. Vermeintliche Lücken des Plots, nun als bewusste Auslassungen erkennbar, werden geschlossen und das Erklärungsbedürfnis des Zuschauers befriedigt – zumindest versuchsweise. Diese Extremwendung mag man für einen mutigen und waghalsigen Kniff des Drehbuchs halten, doch kann die überkonstruierte Hintergrundgeschichte des Ehemanns nicht überzeugen. Was als komplementierender Rückblick gedacht ist, nimmt Form und Größe einer zweiten, eigenen Handlung ein, die nicht zum Rest des Films passen will.

Keinen Vorwurf kann man dem Film hingegen in schauspielerischer Hinsicht machen. Obwohl Dagmar Manzel zu Beginn nur Mimik und Gestik zu Verfügung stehen, bleibt ihre Kristine nicht stumm. Und auch Ernst Stötzner gelingt es, in seinem mürrischen Herbert schon früh in der Handlung eine verletzliche, unsichere Seite anzudeuten. Dem Zuschauer wird schnell klar, dass Herbert, der vehement auf den Verkauf des Sommerhauses pocht, etwas zu verheimlichen hat. Besondere Erwähnung gebührt jedoch Marie Rosa Tietjen und Victoria Trauttmannsdorff. Tietjens Anna ist so erfrischend natürlich und echt, wie man es nur selten im deutschen Film zu sehen bekommt. Schnell ist man geneigt, dieser jungen Frau, die zwischen den komplizierten Fünfzigern viel erwachsener wirkt, seine Sympathie zu schenken. Die Figur der Barbara, die für den Plot nur eine Nebenfigur darstellt, wird durch Trauttmannsdorffs augenzwinkerndes Spiel unerlässlich. Sie schafft es immer wieder den vom französischen Flair beduselten Zuschauer durch Witz und plakative Offenheit aufzuwecken, so zum Beispiel wenn sie weinschwanger von „Hängetitten“ und Cellulite spricht oder mit Herbert verhandelt, ob sie denn jetzt mal miteinander schlafen sollten.

Dennoch bleibt der Zuschauer am Ende mit einem Film zurück, der weder Beziehungskomödie, noch Drama ist. Und man fragt sich: Worum ging es hier eigentlich? Um eine Frau, die in einer Art Selbstfindung eine Liaison mit dem Liebhaber ihrer Tochter beginnt? Um eine Ehekrise, die ihren Beginn und Höhepunkt in einem bohèmen Aussteigerdorf in Südfrankreich hat? Um unterdrückte Sexualität und komplizierte Beziehungskonstellationen? Und ging es am Ende weder um Kristine, noch um die Paarbeziehung von ihr und Herbert, sondern allein um den Ehemann und dessen Verleugnung der eigenen Identität? Kristines plötzlicher Stimmverlust, der eigentliche Erzählanlass, verkommt bei so vielen Themen zur Staffage. Da verwundert es auch nicht, dass ihre wundersame Heilung durch den Sex mit Franck nicht weiter thematisiert wird – weder von ihr selbst, noch von den anderen Figuren. Neul will in „Stiller Sommer“ zu viele Geschichten erzählen und scheitert dabei an ihrer eigenen Überambitioniertheit.

„Stiller Sommer“ (Deutschland 2013)
Regie und Drehbuch: Nana Neul
Darsteller: Dagmar Manzel, Ernst Stötzner, Marie Rosa Tietjen, Arthur Igual, Hans-Jochen Wagner, Victoria Trauttmansdorff
Verleih: Zorro Film
Laufzeit: 90 Minuten

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Weitere Filmrezensionen hier