Innovationen unter dem Legitimationsdruck der Tradition
Überlegungen zu den Mechanismen der Entwicklung und Etablierung neuartiger Problemlösungen in der traditionsorientierten europäischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit
Von Nicolas Potysch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBis in das Zeitalter der Aufklärung hinein ist die Legitimation einer zweifelhaften Tatsache oder eines Vorschlags zur Problemlösung geradezu zwingend an den Vergleich beziehungsweise die Auseinandersetzung mit einem historisch bewährten Exempel gebunden. Dem, was sich in der Vergangenheit als erfolgreich und durchsetzungsfähig erwiesen hat, wird Stabilität und damit Sicherheit zugeschrieben. Es erlaubt, auch zukünftig auf diese erprobte Zuverlässigkeit zu bauen. Besonders im Kontrast zur heutigen Wahrnehmung, in der Fortschritt und die damit verbundenen beziehungsweise einhergehenden Neuerungen bereits so etwas wie einen Wert an sich darstellen zu scheinen, ist diese weitreichende, geradezu generelle Traditionsverbundenheit fremd. Im Rahmen dieses Sammelbands wird jedoch facettenreich aufgezeigt, dass die europäische Frühe Neuzeit hingegen auf allen gesellschaftlichen Ebenen von ihr durchzogen ist.
Während das Althergebrachte zu dieser Zeit per se über jeden Zweifel erhaben schien und nur in begründeten Fällen modifiziert werden konnte beziehungsweise durfte, musste sich demgegenüber das Neue, das Veränderte direkt in doppelter Hinsicht bewähren: Einerseits musste die Notwendigkeit für eine solche Neuschöpfung aufgezeigt und nachvollziehbar gemacht werden und andererseits galt es, die spezifische Überlegenheit, also den mit der Innovation verbundenen Gewinn gegenüber vorhandenen, anerkannten Vorläufern aufzuzeigen. In diesem besonderen Spannungsfeld, das heißt präziser in der Untersuchung dieser generellen Herausforderung für den Umgang mit Innovativen beziehungsweise dem Bruch mit dem Tradierten begegnen sich die unterschiedlichen Forschungsbeiträge.
Dabei verbindet die „Modell“-Terminologie die zum Teil sehr unterschiedlichen Ansätze mit einer sehr weit gehaltenen theoretischen Fundierung. Bereits 2008 hat das Herausgeberquartett Christoph Kampmann, Katharina Krause, Eva-Bettina Krems und Anuschka Tischer die Grundlagen dafür mit dem verwandten Sammelband „Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700. Bourbon – Habsburg – Oranien“ gelegt, an dessen Konzeption – im weitesten Sinne – mit „Neue Modelle im Alten Europa“angeknüpft wird. Dabei erfolgt die Definition des „Neue Modelle“-Konzepts innerhalb des Bandes knapp mithilfe zweier Strukturgrößen: Zum einen muss es einen oder mehrere greifbare Urheber der zu beobachtenden Innovationen geben und zum anderen müssen die Neuerungen – ob erfolgreich oder auch nicht – Vorbildcharakter beanspruchen. Kampmann/Krause/Krems/Tischer stellen dazu den gesamten Band mit ihrer Einleitung unter eine doppelte Fragestellung: (1) Welche Rahmenbedingungen ermöglichen beziehungsweise erfordern grundsätzlich die Kreation von Neuem das heißt die Entwicklung neuer Modelle? (2) Welche Strategien der Legitimation beziehungsweise Etablierung erfordern solche Innovationen in einer generell neuerungsskeptischen Umwelt, die das Neue als grundsätzliches Risiko für das Bewährte versteht? Das dennoch weit bleibende Untersuchungsfeld wird dafür sogleich um die zentrale Bedingung eingegrenzt, dass die im Rahmen des Sammelbandes analysierten Modelle obrigkeitsgeleitet beziehungsweise -initiiert sein müssen.
Mit Wolf-Friedrich Schäufeles grundlegender – und absolut zu Recht an den Anfang des Sammelbandes positionierter – Untersuchung der terminologischen Gegenüberstellung von „alt“ und „neu“ in der Frühen Neuzeit gelingt dabei eine ausgezeichnete Einführung in die Thematik. Gerade in dem historischen Wechsel der mit den beiden Begriffen verbundenen Konnotationen zeigt sich die geschickte Wahl des Untersuchungszeitraums. Die darauf folgenden Beiträge setzen sich aus (kunst-)historischer Perspektive mit sehr unterschiedlichen Fallstudien auseinander, die aus den Bereichen Staatskunst, Militär, Bauwesen, Gartenkunst und Technikgeschichte stammen. Auch wenn die Heterogenität dieser Abhandlungen auffällt, so ermöglicht insbesondere die geschickte Fragestellung des Bandes dennoch zumeist eine gelungene Zusammenführung. Einzig die Anbindung von Ada Raevs architekturhistorischer Untersuchung des Stadtbildes von St. Petersburg an das oben skizzierte Spannungsfeld und die damit verbundene Systematik bleibt aus – der Beitrag steht daher etwas isoliert.
Abschließend überschreitet der Sammelband mit Hans-Jürgen Bömelburgs Beitrag zum außenpolitischen Modell der polnisch-litauischen Teilungen letztlich die Schwelle zum 19. Jahrhundert und bietet somit zugleich einen Ausblick auf die bereits angedeutete Relevanz der Untersuchungsfrage für die Moderne. Dabei kommt Bömelburg – sozusagen als Schlusswort des gesamten Bandes – zu folgendem Problem, das der Band ansonsten weitestgehend ausspart: Kann ein Modell gesellschaftlich unerwünscht beziehungsweise sogar diskreditiert sein und dennoch anschließend als Handlungsvorbild oder -maßstab dienen? Eine begründete Fragestellung, die in diversen Beiträgen mitschwingt, deren Beantwortung sich jedoch in diesem Rahmen entziehen muss. Dennoch zeigt sich nicht zuletzt in diesem Punkt das weitere Potential dieses Untersuchungsfeldes für weitere Arbeiten.
Als Resümee bleibt festzuhalten, dass die in diesem Sammelband gebündelten Überlegungen zum Verhältnis des Alten zum Neuen nicht nur für (Kunst-)Historiker mit dem Schwerpunkt „Mittelalter/Frühe Neuzeit“ produktive Anregungen bereithalten. Die in der jüngeren Moderne nahezu selbstverständlich zu Gunsten des Innovativen entschiedene Opposition zwischen dem Bewährten und dem Neuartigen steht stellvertretend für ein Spannungsfeld, in dem unattraktive, jedoch notwendige Modifikationen an etablierten Modellen zu verorten sind. Dabei ist es in erster Instanz nicht von Bedeutung, ob diese Modelle aus der Politik, der Architektur, dem Militärwesen oder der Wissenschaft stammen. Insbesondere die aufgezeigten Strategien zur Etablierung innovativer Ansätze können daher (zumindest in mancher Hinsicht) aus ihrer historischen Situation gelöst werden. Die Diskussion spezifischer Charakteristika und möglicherweise vorhandener Analogien auf abstrakterem Niveau könnte die wünschenswerte Aufgabe eines weiteren Sammelbandes sein, die die beiden vorangehenden Auseinandersetzungen sinnvoll ergänzen würde.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg