Vom Deichsagenstoff zur Meisternovelle

Gerd Eversbergs wegweisende historisch-kritische Edition von Theodor Storms „Der Schimmelreiter“

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Novelle Der Schimmelreiter gehört zu den wenigen Erzähltexten des 19. Jahrhunderts, die zum Kanon des Deutschunterrichts der Sekundarstufe I gehören und nicht von der Gegenwartsliteratur verdrängt wurden. Das Schicksal des Deichgrafen Hauke Haien spricht weiterhin die jungen, aber auch erwachsenen Leser an. Die realistische Sprache und Darstellung prägen seit Generationen die Vorstellungen vom historischen Deichbau und lassen bei einem Spaziergang am Meer bei Nebel oder Sturm vor dem inneren Auge den unheimlichen Schimmelreiter vorbeigaloppieren.

Der Text der Novelle liegt zwar in zahlreichen wissenschaftlichen, literaturdidaktischen und populären Ausgaben vor, doch fehlte bisher eine Edition, die vollständig die Genese der Novelle von der Konzeption bis zur ersten Buchpublikation abbildet und erläutert. Mit der historisch-kritischen Edition durch Gerd Eversberg, einem der führenden Experten der Theodor-Storm-Forschung und zur Entstehung der Novelle Der Schimmelreiter, wird dieses Desiderat erfüllt.

Die Ausgabe bietet als diplomatische Wiedergabe alle bekannten Texte, die im Zuge der Entstehung der Novelle zwischen 1886 und 1888 verfasst wurden. Sie beginnt mit dem Abdruck der ersten Buchausgabe, die von Storm noch korrigiert wurde, deren Erscheinen er aber nicht mehr erleben sollte. Anschließend werden Storms Notizen und Entwürfe sowie die von ihm genutzten Karten abgedruckt. Es folgt eine genetische Paralleledition des „Concepts“ als Entwurfsmanuskript und der daraus entstandenen „Reinschrift“, die als Vorlage für den Erstdruck der Novelle in der Zeitschrift „Deutsche Rundschau“ fungierte. Dieser diente dann als Textbasis für die erste Buchpublikation. Die Varianten zwischen Zeitschriftendruck und Buchausgabe werden in den Anmerkungen zur Edition der ersten Buchpublikation ausgewiesen. Die Ausgabe schließt mit den kurzen Nachträgen für den Zeitschriftendruck und die Buchausgabe sowie des von Storm für die Buchausgabe gestrichenen Textes des Zeitschriftendrucks.

Durch die Edition der verschiedenen Arbeitsschritte können heutige Leser sehr anschaulich „Storms Schreibprozess als außerordentlich strukturiert und zielgerichtet“ erkennen und nachvollziehen, wie er sein „Erzählkonzept während des Schreibens“ entwickelte. Die Stufen der Reifung des Erzählkonzepts und der Entfaltung des Schreibprozesses wären allerdings durch eine parallele Edition des „Concepts“, der Reinschrift und der ersten Buchausgabe noch deutlicher beziehungsweise leichter zugänglich geworden.

Der edierte Text erfährt eine vielschichtige Erläuterung durch einen umfassenden Kommentar, der die Überlieferung der Handschriften und Drucke beschreibt und das Editionsverfahren plausibel begründet. Sehr ausführlich und fundiert wird der Text der ersten Buchausgabe sowie der Notizen und Entwürfe erklärt, aber auch die Entstehungsgeschichte, die Geographie und das Personal der Novelle einbezogen und kurz ihre Rezeption geschildert. Durch ein annotiertes Verzeichnis der zahlreichen von Storm genutzten Quellen sowie die Dokumentation des Entstehungsprozesses von der ersten Idee bis zum Erhalt des letzten Honorars wird die Edition abgerundet.

Der Kommentar ermöglicht verschiedene Zugänge zur Novelle. Bereits Storm fügte der ersten Buchausgabe Erklärungen für „binnenländische Leser“ bei, der vorliegende, sehr ausführliche Stellenkommentar legt nicht nur regionale und fachsprachliche Begriffe aus, sondern erläutert zahlreiche, nicht mehr gebräuchliche Wörter, historische Zusammenhänge und die von Storm gelesenen Quellen. Dazu werden Texte wie beispielsweise Sagen und die Erzählung „Der gespenstige Reiter“ abgedruckt, in welcher Storm zum ersten Mal der Figur begegnete, die er als Vorlage für den Schimmelreiter nutzte. Der Stellenkommentar sichert damit auf eindrucksvolle Weise das inhaltliche Verständnis der Novelle und gibt wesentliche Einblicke in Storms Arbeit als Schriftsteller.

Des Weiteren bieten die Darstellung der Entstehungsgeschichte und die Beschreibung der Landschaft und des Personals wichtige Informationen in einer narrativen Kohärenz, die der Stellenkommentar in dieser Form nicht leisten kann. Dort wird herausgearbeitet, wie im Anschluss an die Publikation der Novelle aus der Figur des Schimmelreiters eine nordfriesische Sagenfigur konstruiert wurde. Storm selbst hat allerdings deutlich betont, dass der Schimmelreiter und seine Sage „leider nicht unserm Vaterlande“ angehören. Außerdem wird klargestellt, dass der Deichbau der Frühen Neuzeit nicht, wie Storm aufgrund der Lektüre einiger Chroniken aus dem 16. Jahrhundert schloss, vom Manko zu steiler Deiche geprägt war, das dann zu ihrem Bruch bei Sturmfluten führte. Bereits die Deiche des Spätmittelalters wiesen ein flaches Profil auf, ihnen mangelte es aber an Höhe. Durch diese Ausführungen korrigiert der Kommentar weit verbreitete Vorstellungen von der historischen Entwicklung des Deichbaus an der Nordsee und vom Schimmelreiter als friesische Sagenfigur. Die Entstehungsgeschichte führt zudem nachdrücklich vor Augen, wie lange und intensiv sich Storm mit dem „Deichsagenstoff“ beschäftigte, bis er ihn zum Abschluss seines Lebens nach gründlichen Studien und Recherchen zu Papier bringen konnte.

Die Darstellungen der Entstehungsgeschichte, der Geographie und der Personen sowie der Stellenkommentar stehen für sich. Sie weisen daher zahlreiche Doppelungen auf, erlauben aber so verschiedene Annäherungen an den Text. So sollten Leser, die sich mit dem Inhalt und der Historie der Novelle vertraut machen wollen, mit der Lektüre der Entstehungsgeschichte und des Kapitels über die Landschaft und Personen starten und sich dann dem Text der ersten Buchausgabe widmen, während Editionswissenschaftler wohl nach der Beschreibung der Textüberlieferung und den Angaben zur Transkription die Notizen, das „Concept“, die Reinschrift und die erste Buchausgabe lesen und so die Genese des Textes erschließen können.

Die Konzeption der verschiedenen Zugangsmöglichkeiten zur historisch-kritischen Edition entspricht der zu erwartenden Leserschaft. Die Ausgabe stellt eine sehr fundierte Basis für die zukünftige literaturwissenschaftliche Forschung dar, die sich aufgrund der präzisen Darbietung der Textgenese und der genetischen Edition mit Storm als Schriftsteller und dem Text der Novelle auf einem sicheren philologischen Fundament damit auseinandersetzen kann. Dies und die zahlreichen Erklärungen und zusätzlichen Texte werden der Literaturdidaktik Hilfe und Anregung bieten, neue Konzepte zur Novelle zu entwickeln und Korrekturen an den überkommenden Auffassungen – etwa zur Sagenfigur des Schimmelreiters oder dem Deichbau – vorzunehmen. Schließlich finden interessierte Leser aufgrund der klaren und verständlichen Darstellung und Anlage der Edition und ihrer Kommentare einen leichten Zugang zum Text.

Titelbild

Gerd Eversberg (Hg.): Der Schimmelreiter. Novelle von Theodor Storm. Historisch-kritische Edition.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2014.
590 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-13: 9783503155064

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