Wie eine ältliche Dame begann, die Science-Fiction-Welt aufzumischen

James Tiptree Jr. führt ihre Lesenden auf ferne Welten und in künftige Zeiten

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende der 1960er-Jahre betrat ein bis dahin unbekannter Shootingstar die Bühne der Science-Fiction-Welt, bei dem es sich offenbar um einen jungen, jedenfalls aber äußerst begabten und bald auch schon sehr erfolgreichen Mann handelte. Bewundert wurden die unter dem Namen James Tiptree jr. veröffentlichten Kurzgeschichten von Kollegen nicht zuletzt, weil von ihnen „etwas unbedingt Maskulines“ ausströmte. Dies fand zumindest Robert Silverberg, der selbst einige bekannte Zukunftsromane verfasst hatte. Die feministische Science-Fiction-Autorin Joanna Russ wiederum meinte, Tiptree entwickele Ideen, „die keine Frau auch nur denken oder verstehen, geschweige denn gutheißen könnte“, bat aber zugleich um einen Beitrag für eine Anthologie, zu der ansonsten nur Autorinnen eingeladen waren. Beide hatten sich gründlich geirrt. Denn als das Pseudonym 1976 gelüftet wurde, „entpuppte“ sich Tiptree, als „ältliche Dame aus Virginia“, wie sich die damals 61-jährige Alice Sheldon angesichts ihrer Enttarnung charakterisierte.

Schon in den 1970er-Jahren wurden einige der mit diversen Preisen ausgezeichneten Science-Fiction-Stories Tiptrees auch hierzulande auf den Markt gebracht. Sie sind ausnahmslos längst vergriffen. Dies wäre sehr bedauerlich, wäre da nicht der österreichische Septime Verlag, der vor wenigen Jahren damit begann, eine auf sieben Bände angelegte Reihe mit sämtlichen Erzählungen von James Tiptree jr. herauszugeben. Zuletzt erschien der numerische Band Eins, der die frühesten Erzählungen Tiptrees enthält. Zu ihnen zählt die 1969 erstmals veröffentlichte Kurzgeschichte „Dr. Ains letzter Flug“, deren mörderischer Titelheld dem vorliegenden Band seinen Namen zur Verfügung stellt. Um seine Geliebte zu retten, ist er gewillt, die gesamte Menschheit auszulöschen. Diese Geliebte selbst aber ist zwar durchaus nicht menschlich, sehr wohl aber irdisch.

Da die Anordnung der siebzehn Erzählungen der Chronologie ihrer Entstehung respektive ihrer ersten Einreichung bei Verlagen oder Zeitschriften folgt, eröffnet jedoch nicht die Geschichte des Dr. Ain den Band. Vielmehr stehen zwei kleine Texte an seinem Beginn, die Sheldon zwar bereits in den 1950er-Jahren verfasste, die aber erst postum erschienen: „Bitte keine Spiele mit der Zeitmaschine“ und „Haltet euch fern von mir, ich bin deren eine, die ermüden (Eine Parodie auf meinen Stil)“. Letztere hatte die 1987 von eigener Hand aus dem Leben geschiedene Schriftstellerin nicht einmal zur Publikation angeboten. Sie würde vermutlich auch schwerlich ein aufnahmebereites Science-Fiction-Publikum gefunden haben – weder zur Zeit ihrer Entstehung Ende der 1950er-Jahre, noch während der frühen 1970er-Jahre, als Tiptree sich bereits einen Namen gemacht hatte. Dazu war sie selbst für die Science-Fiction-Gemeinde zur Zeit der Drogenräusche zu bizarr. Auch heute lädt sie nicht unbedingt zur weiteren Lektüre des Bandes an.

Doch wäre es ein großer Fehler, sich von ihr abschrecken zu lassen und das Buch beiseite zu legen. Denn schon die dritte Story zu lesen ist ein großartiges Vergnügen. Ihr Titel „Geburt eines Handlungsreisenden“ spielt zwar nicht gerade übermäßig originell auf denjenigen eines damals allbekannten Erfolgsstückes von Arthur Miller an, bringt den Plot der Handlung aber auf den Punkt. Vor allem jedoch erzählt Tiptree in ihr urkomisch von den nicht eben geringen interkulturellen Handelshindernissen, die sich daraus ergeben, dass „jede Kultur eben anders“ ist. Der sexistische Ton, den die Erzählstimme anschlägt, wenn sie beispielsweise jemanden an der „Vorzimmermieze“ vorbei in ein Büro stürmen lässt, klingt zwar nicht selten so, als plaudere der Protagonist eines Film Noir aus dem Off, wirkt aber eben darum heutzutage angestaubt und deplatziert. Doch Tiptree parodierte auf diese Weise schon damals eine Diktion, die auch zahlreiche ihrer Kollegen im Science-Fiction-Genre pflegten.

Wie „Die Geburt eines Handlungsreisenden“ auf ein Stück Millers, so spielt „Glück ist ein wärmend Raumschiff“ auf einen damals aktuellen Song der Beatles – und natürlich auf ein Sprichwort – an. Auch darüber hinaus haben beide Geschichten einiges gemein. Allerdings übertrifft letztere erstere sowohl stilistisch als auch thematisch. Handlungsort ist diesmal – der Titel lässt es ahnen – ein Raumschiff, das zwar von allerlei skurrilen Aliens bevölkert ist, in dem Geschlechterklischees jedoch – auf satirische Weise – geradezu übererfüllt werden, indem die einzige Frau an Bord für die „Logistische Versorgung“ verantwortlich ist und somit dafür, „pünktlich ausgezeichnete Mahlzeiten auf den Tisch“ zu bringen, was natürlich dem „Fütterungstrieb des Menschenweibchens“ entgegenkommt. Im Zentrum der Story aber stehen zwei andere, von Tiptree nicht weniger satirisch behandelte Themen: Toleranz und die Integration Fremder. Beide sind heute zumindest ebenso aktuell wie vor 50 Jahren oder in der fernen Zukunft der Erzählung, in der exogene Intelligenzen schon mal „als Nahrung ausgebeutet“ – mit anderen Worten verspeist – werden. Die „Menschheits-zuerst-Spinner“ und die „Integrationsfuzzis“ ringen in dieser Zukunft jedenfalls hart miteinander, während die zu integrierenden Fremdwesen, Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um die Menschen davon zu überzeugen, „dass wir mehr oder weniger unintegrierbar sind“. Und schließlich stellt sich sogar die Frage, wer eigentlich wen integriert.

Nicht weniger aktuell als die futuristische Integrationsdebatte ist eine Kurzgeschichte mit dem lapidaren Titel „Hilfe“, in der ein „Haufen strenggläubiger primitiver Fundamentalisten“ den Menschen die rechte Religion beibringen will. Genau genommen sind es sogar zwei „Haufen“, die einander allerdings so gar nicht grün sind. „Treu dir, Terra, auf unsere Art“ wiederum erörtert gleich einen ganzen Strauß grundlegender Fragen. So etwa, ob ein Wesen, das eine Stoppuhr benutzen kann, noch als Tier gelten darf, oder ob weibliche Wesen der Kategorie „Leute“ zugeschlagen werden können.

Der Protagonist der Geschichte „Dein haploides Herz“ befasst sich gar von Berufs wegen mit der „Erforschung des Geschlechtslebens von Aliens“ und ist zu diesem Zweck auf den Planeten Esthaa abkommandiert worden, dessen Einheimische gerne als Menschen „zertifiziert“ werden möchten. Als solche wiederum gelten alle Intelligenzen, die sich mit Angehörigen bereits als Menschen zertifizierter Spezis „paarweise fortpflanzen“ können. Auf dem Planeten Esthaa wird der futuristische Gender-Forscher jedoch eine große Überraschung erleben. Dass er ein Wesen von „ungeschlechtlicher Form“ als „Kerl“ apostrophiert, dürfte ihm in seiner Funktion als Geschlechterforscher allerdings nicht unterlaufen.

In „Mama kommt nachhause“ sind es hingegen nicht Menschen, die auf fremden Welten unterwegs sind. Vielmehr suchen „große dominante Frauen“ aus dem Capellanischen Sonnensystem die Erde auf. „Wandelnde Alpträume“, die „unser männlich-dominiertes Kulturgefüge“ gefährden, da sie „unsere Männer als Sexsklaven betrachten“. Doch konterkariert die Handlung die hierarchischen Geschlechterverhältnisse nicht nur der 1960er-Jahre beileibe nicht so klischeehaft, wie der Plot auf den ersten Blick vermuten lassen könnte.

„Der Schnee ist geschmolzen, der Schnee ist fort“ schließlich liest sich wie eine deutliche Antwort auf Harlan Ellisons ebenfalls 1969 erschienene Science-Fiction-Geschichte „Ein Junge und sein Hund“, in welcher der Protagonist seine Freundin an seinen tierischen Begleiter verfüttert. In Tiptrees Geschichte wird hingegen ein Mann das Opfer eines Mädchens und ihres Wolfes. Verspeist wird er jedoch ganz und gar nicht.

James Tiptree jr. erklärt nichts, weder die von ihm respektive von ihr erdachten Welten, noch die Hintergründe des Geschehens. Denn es gehört bekanntlich zu den vornehmsten Vergnügen der Science-Fiction-Gemeinde, sich diese selbst und auf eigene Faust zu erschließen. Bei Tiptrees Geschichten dürfte das allerdings den wenigsten immer gelingen. Ein Grund mehr, sie wieder und wieder zu lesen.

Titelbild

James Tiptree Jr.: Doktor Ain. Sämtliche Erzählungen, Band 1.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Frank Böhmert, Elvira Bittner, Margo Jane Warnken u.a.
Septime Verlag, Wien 2014.
464 Seiten, 23,30 EUR.
ISBN-13: 9783902711236

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