Sprachmagie

Zu Friederike Mayröckers Alterswerk aus Anlass ihres 90. Geburtstags

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Die Österreicherin Friederike Mayröcker, die bedeutendste deutschsprachige Lyrikerin unserer Zeit, kann an ihrem neunzigsten Geburtstag am 20. Dezember 2014 auf ein schier unglaubliches literarisches Werk zurückblicken. Dazu gehören, neben Hörspielen, Prosatexten und Bühnenstücken, vor allem Gedichte, immer wieder Gedichte, oft, wie in ihren letzten Veröffentlichungen, in études zum Beispiel, gedichtähnliche Texte, halb rhythmisierte Prosa, halb lyrische Sprachgebilde, voller Bilder, die sich einprägen und den Leser fesseln.

Mayröckers Kreativität und poetische Ausdruckskraft scheinen unerschöpflich. Die Gedichte in den umfangreichen Sammelbänden, die der Suhrkamp Verlag 2004 zu ihrem 80. und 2009 zu ihrem 85. Geburtstag vorgelegt hat, in den Gesammelten Gedichten 1939-2003 und in dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif, weisen eine verblüffende Vielfalt an Formen, Themen und Motiven auf.

Ihr Alterswerk der letzten Jahre ist ebenso vielseitig und facettenreich. Mit ihren Veröffentlichungen zwischen 2010 und 2013, mit ich bin in der anstalt, vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn, ich sitze nur GRAUSAM da und études, schreibt sie Jahr für Jahr an ihrem grandiosen Alterswerk weiter. Jedes der letztgenannten Bücher geht eigene Sprachwege und besticht durch besondere Darstellungsformen. Es sind zum einen großartige Erinnerungstexte: E. J., Ernst Jandl also, ist in vielen Gedichten präsent, auch das Dorf D., Deinzendorf im Weinviertel, ihre Eltern oder Plätze und Orte der Vergangenheit, Freunde und Bekannte aus früheren Jahren. Und es sind Texte, die um das mühsam gewordene Leben des lyrischen Ich kreisen, bildhaft und reich an Anspielungen, assoziativ und phantasievoll, schonungslos und realistisch genau in der Schilderung des Alltags im Alter.

Sprachzauber

Friederike Mayröcker ist eine wahrhaft große Dichterin. Das Schreiben ist für sie, wie sie in einem Zeitungsgespräch erläutert, ein „total anderer Zustand“: „Es ist fast, wie wenn ich eine Droge nehmen würde. […] Es ist ein magischer Zustand. Ich rede nicht gerne darüber. Ich empfinde es beinahe als Verrat, darüber zu sprechen. Es ist auch für mich ein Geheimnis.“

Ihr dichterisches Selbstverständnis ist, wie das folgende Gedicht zeigt, beeindruckend klar:

für CF am frühen Morgen (15. 1. 05)

ist das 1 Gedicht, sagt CF, ja
das ist 1 Gedicht: indem ich sage das ist
1 Gedicht ist es 1 Gedicht. Meine
Ärztin sagt, essen Sie 1 Gedicht, ich
weisz nicht wie man es kocht, sage ich. Wenn Antoni
Tàpies sagt, diese weisze Form ist 1 Sessel, erkenne
ich in dieser weiszen Form einen Sessel, ins
Zentrum gerückt. Indem ich von einem Urinoir sage, das
ist 1 Kunstwerk, sagt Marcel Duchamp, ist
es 1 Kunstwerk. Indem ich sage, die
weiszen Schäfchen am Himmel, sind es die
weiszen Schäfchen am Himmel.

Die Lyrikerin besteht auf der Kraft ihrer Sprache, ist sich des „magischen Zustands“ ihres Schreibens bewusst. Sie versteht sich als „Sprachzauberin“ mit höchster dichterischer Autorität und reiht sich mit diesem Anspruch ein in die Gruppe von Künstlern, deren Kriterium für Kunst, wie sie behaupten, in ihnen selbst liege: Ihr Werk sei, inspiriert von ihnen, den Künstlern, immer Kunst.

Ähnlich äußert sich Mayröcker in einem Zeitungsgespräch aus dem Jahr 2012: „Es gibt sogar Momente, in denen ich darüber nachdenke, was wohl die Leser zu einem bestimmten Satz sagen werden. Trotzdem würde ich ihn nie deswegen ändern. Er kann nur so lauten, wie er da steht. Mir geht es immer nur um die Sprache. Um ihre Funktionsweise, vor allem ihre Schönheit. Handlung, Botschaft, interessiert mich alles nicht.“

Die Schlusszeilen ihres Gedichts für CF am frühen Morgen erinnern in ihrer herausfordernden Bestimmtheit an einen frühen Tagebucheintrag Franz Kafkas vom 19. Februar 1911: „Die besondere Art meiner Inspiration […] ist die, dass ich alles kann, nicht nur auf eine bestimmte Arbeit hin. Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe z. B. Er schaute aus dem Fenster so ist er schon vollkommen.“ So wie sich Kafka als „vollkommenen“ Dichter sieht, sieht sich die Lyrikerin als eine Schöpferin von Sprachbildern, deren Wahrheit durch nichts als den dichterischen Text selbst konstituiert wird und darin vollständig zum Ausdruck kommt.

Das Thema Schreiben – „weil ich ohne Schreiben nicht leben kann” – spielt in Mayröckers Büchern der letzten Jahre immer wieder eine Rolle. „Das Schreiben ist mein Hochamt“, heißt es einmal. Und an einer anderen Stelle: „Mein (mit offenen Armen) Verhältnis zur Sprache“, oder: „Ich wollte nur zu Hause sitzen und lesen und exzerpieren und durch das Lesen und Exzerpieren einen Anstoß empfangen für das eigene Schreiben, oft genügte ja 1 Wort, 1 Zeile, 1 Absatz, um einen solchen Ansatz für das eigene Schreiben zu empfangen.“

In ihrer Selbstbeobachtung und in der Beobachtung ihrer Umgebung findet die Ich-Schreiberin eine Fülle solcher Schreib-„Anstöße“. Vor allem aber wird das Alleinsein zum kreativen Schreibmoment, die Sprache zum Mittel, der Einsamkeit einen Sinn abzuringen. Indem die Ich-Schreiberin (ihr) Leben in Sprache „übersetzt“, wird sie ihrer Einsamkeit Herr und „überwindet“ ihre körperliche Gebrechlichkeit, die dem hohen Alter geschuldet ist. „Alles aus Einsamkeit komponiert, heute ½ 5 Uhr morgens“. Der Satz gilt eigentlich für alle ihre späten Texte.

„Wörterströme“

Mayröcker hat ein beeindruckendes literarisches Werk geschaffen. Seine vielfältigen sprachlichen und inhaltlichen Facetten können nicht auf wenigen Seiten dargestellt werden. Ihnen gemeinsam sind aber bestimmte Grundzüge: das Sprunghaft-Assoziative ihrer Sprache zum Beispiel und die Montage verschiedener Elemente als Strukturprinzip. Das Jetzt und Damals, das Hier und Dort, verschiedene Zeiträume also und Orte, fließen, als gebe es keine zeitliche oder örtliche Trennung, übergangslos ineinander über.

Häufig hat der Leser den Eindruck, als seien die Texte Niederschriften von Träumen, in denen Heterogenes wie selbstverständlich ineinander verwoben wird, Teile eines großen Gedankenstroms, unvermittelt beginnend und abrupt endend, wie zufällig herausgerissen aus einem Zusammenhang von Gedanken, Gefühlen und Bildern. Das unmittelbar Konkrete wird eingebunden in einen Kontext aus Naturbildern, Erinnerungen, Namen, oft Namenskürzel, und Zitaten aus Büchern. Es entsteht ein literarischer Kosmos, den man zu kennen glaubt, der aber immer wieder einer genaueren biografischen, zeitlichen oder örtlichen Festlegung entgleitet und sich vorschnellen Erklärungen entzieht.

Viele Texte scheinen spontan, aus einer plötzlichen Eingebung heraus, entstanden zu sein. Das täuscht. Sie sind in Wirklichkeit höchst komplizierte literarische Gebilde, bis auf Punkt und Komma durchkomponiert und sicherlich mehrfach überarbeitet. Nichts ist dem Zufall überlassen. Je „spontaner“ ein Text daherkommt, umso komplexer sind manchmal seine äußere Form und innere Sprachstruktur.

Die Texte – das erschließt sich, wenn man sich darauf einlässt – sind außerordentlich kunstvoll gemacht, sprachlich genau, inhaltlich fordernd, emotional berührend. Worte und Satzteile werden wiederholt; aneinandergereihte Ausdrücke ohne Verben lösen sich mit Sätzen ab; „verdrehte“ Sätze stehen neben geordneten Wortfolgen; Pünktchen deuten Auslassungen und „Pausen“ an, Klammern fungieren als Ergänzungen und Zusätze, Gleichheitszeichen binden Ausdrücke zusammen und Kursivdruck und Unterstreichungen gewichten und akzentuieren Wörter; und das häufige „u.s.w.“ lässt alles offen und provoziert die Phantasie des Lesers.

Welt aus Sprache

Dass Friederike Mayröckers Werk als Dichtung so vollkommen erscheint, liegt vor allem darin, dass in ihren Texten eine eigene Welt aus Sprache entsteht. Mayröckers Ausdruckskraft, ihre Sprachbilder, ihr Gefühl für Rhythmus und für die Struktur eines Gedichts oder eines Prosaabschnitts sind bewundernswert und nehmen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur einen besonderen Rang ein. Der melancholische Grundton vieler Texte, vor allem in ihrem Alterswerk, schafft auf berührende Weise eine Stimmung des Abschieds und der Trauer um unwiederholbar Vergangenes und vermittelt tiefe Einblicke in die Lebenszusammenhänge und Lebensabläufe eines Menschen. Die Verbindung von Alltag und Natur, Erinnerungen an zurückliegende Begebenheiten und an nahe und ferne Orte, die Verbindung von Träumen und Wirklichkeit und eine Vielzahl von Namen von Freunden, Autorinnen und Autoren, Musikern, Malern und Philosophen sind charakteristisch für ihr Schreiben.

Mayröcker macht einen Unterschied zwischen Lyrik und Prosa: „Das Schreiben von Gedichten hat für mich etwas mit Aquarellzeichnen zu tun, während die Prosa mehr Bildhauerei ist.“ Der Begriff „Aquarell“ ist bei der Beschreibung ihrer Lyrik und lyrikähnlicher Texte hilfreich. Das Farbige und Farbenfrohe, das Ineinanderfließende, sich übergangslos Verbindende, der Gesamteindruck, der die einzelnen Teile integriert, sind Merkmale ihres Dichtens. Mayröcker lässt mit Hilfe der Sprache im Leser Bilder entstehen: aus Erinnerungen zum Beispiel, aber auch aus der Beschreibung von Dingen der unmittelbaren Umgebung wie Vasen oder Blumen oder dem, was das lyrische Ich beim Blick aus dem Fenster wahrnimmt, aus Namen, die auf Personen ihres Freundeskreises verweisen, aus Zitaten aus Werken von Schriftstellern, die sie beeindrucken, und aus der Schilderung ganz privater Begebenheiten.

Das Gemisch aus Persönlichem und Fremdem, aus Natur und Alltag, aus Gedanken und der Betrachtung von Dingen bestimmt viele Gedichte und macht, gerade auch in der Sprunghaftigkeit der Darstellung des einen wie des anderen, den Reiz der Lektüre aus. Wie in einem Gedankenstrom kommen und gehen Bilder, ziehen am inneren Auge des Lesers vorbei, greifen ineinander und ergeben ein Mosaik aus Wörtern, Sätzen und Versen. Das Hermetische mancher Zeilen und die Andeutungen sind Teil dieses lyrischen „Wörter- und Sätzeflusses“.

Zwei Motive verbinden, wie ein Leitfaden, ein unsichtbares Netzwerk oder eine „innere Klammer“, die einzelnen Texte des Alterswerks von Friederike Mayröcker: das ihrer Liebe zu ihrem Lebensgefährten Ernst Jandl und der Trauer um ihn nach seinem Tod im Jahr 2000 und das des Alterns und des nahen Todes.

Mayröcker und Jandl

Mayröcker lernt Jandl 1954 kennen. Beide unterrichten damals an Wiener Schulen Englisch. Er verändert ihr Leben, befreit sie aus der Enge ihrer dörflichen Herkunft. Später, fast fünfzig Jahre nach ihrer ersten Begegnung, schreibt sie:

„Was wußte ich von mir selbst, von meinem Ursprung, von der mich umgebenden Welt, lange blieb ich fremd in dieser meiner kleinen Welt: die kleine Schule, die kleine elterliche Wohnung, alles war auf klein angelegt, auf klein und beengt, ich fühlte mich jederzeit klein, fremd und hündisch, nicht wahr. Meine Mutter bildete vermutlich 1 Ausnahme, sie erschien mir nah und tröstend, und ich hatte großes Vertrauen zu ihr, alles Übrige war fremd geblieben, Lehrer, Schulfreunde, Familie, Nichten all das, Innenwelt, Außenwelt, soziale Wolle? von geringer Bedeutung –

aber halt! Da gab es doch plötzlich, in meinem 30. Jahr, etwas sehr Vertrautes, einen Menschen, in dessen Nähe ich meine Fremdheit, diese meine Lebens- und Gemütsverstörung abstreifen konnte: Ernst Jandl, der große Freund, der mich in die große Welt der Kunst einführte, und da, in diesem unerschöpflichen neuen Bereich, insbesondere dem der Malerei, fühlte ich mich zuhause, von daher bekam ich 1 Fülle von Anregungen, Empfindungen und Erfahrungen.“

Bis zu seinem Tode im Jahr 2000 verbinden Mayröcker und Jandl eine enge Arbeitsgemeinschaft und eine große Liebe. Davon zeugen nicht nur viele Gedichte, vor allem von Mayröcker, über ihre Freundschaft und Liebe – die frühesten stammen aus den Jahren 1954 und 1955 –, sondern auch gemeinsame literarische Arbeiten. Zu einer dauerhaften gemeinsamen Schreibarbeit kommt es allerdings nicht. Mayröcker in einem Spiegel-Gespräch (2001): „Was übrigens oft missverstanden wurde: Es gab, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nie eine literarische Zusammenarbeit zwischen uns beiden.“ Aber natürlich befinden sie sich in einem ständigen Gedankenaustausch über ihre Texte, lesen sich die Texte vor und korrigieren sie. Beide schätzen den Rat und die Kritik des anderen.

Sowohl Mayröckers Veröffentlichungen wie die von Jandl werden lange Zeit in Österreich und darüber hinaus als zu befremdlich und zu ungewöhnlich abgelehnt. Das ändert sich langsam, als ihnen ab Mitte der 1960er–Jahre zahlreiche literarische Preise verliehen werden. Mit den Ehrungen, dem des Büchnerpreises zum Beispiel für Jandl im Jahr 1984 und für Mayröcker – erst! – im Jahr 2001, kommen Anerkennung und Popularität. Verkaufserfolge stellen sich aber nach wie vor nicht wirklich ein. „Ich konnte ja selbst nie vom Schreiben leben, kann es heute noch nicht“, gesteht Mayröcker in einem Interview (2012). „Aber meine Bücher hatten immer kleine Auflagen. Ein paar tausend pro Buch vielleicht. Genau weiß ich es nicht. Die großen Herren bei Suhrkamp nehmen mich nicht so wahr, der Enzensberger kennt mich, glaube ich, gar nicht. Und gelebt habe ich vor allem von den Preisgeldern.“

In einer sehr persönlichen, auch natürlich, wie könnte es bei Jandl anders sein, selbstironischen Rede zu Mayröckers 70. Geburtstag geht der Lebensfreund und Arbeitspartner auf die Gemeinsamkeiten und auf die Unterschiede ihres Schreibens ein. Er rühmt die Dichtung seiner Lebenspartnerin: „friederike mayröcker, von so vornehmen geistern wie bach und hölderlin angeführt, hat in ihrer kunst eine glorreiche höhe erklommen. mein sinn, in richtung einer aufgeklärten massenkultur, konnte sich gleichermaßen durchsetzen. so ergänzen wir einander liebevoll und mit respekt.“

Beide sind, wenn auch in unterschiedlicher Weise, große Sprachartisten. Für Mayröcker ist ihr poetisch-kreativer Umgang mit Sprache ihr Lebenselixier: „Ich fühle mich nur am Leben, wenn ich schreibe“. Und in einem ihrer letzten Gedichte drückt sie die Sprache „an ihr Herz“:

Gruszbotschaft etwa, mit Empfindung

nur noch das: nach dem Abschied vom ungeliebten Schul-
dienst, damals, ’69, nur noch das: diese Sprache: die-
ser Umgang mit meiner geliebten deutschen Sprache wel-
che einzig HEIMAT weiszt du, ans Herz gedrückt bis zum
Ende, ach einzig diese betörende Umhalsung mit meiner
Sprache welche HEIMAT: tränenreiche, welche Inbild, Rase-
rei, welche Schreibtäfelchen, Kodex
5.11.12

Jandl muss für Mayröcker eine immense persönliche wie literarische Bedeutung besessen haben. Sie kommt weder im Leben noch in ihrem Schreiben je wieder von ihm los. Dabei sind die Texte, die man im engeren und oft auch im weiteren Sinn als Liebesgedichte bezeichnen kann, jedenfalls als Texte, die den Freund sozusagen „mitdenken“, schon von Anfang an, also ab 1954, mit Zweifeln, dunklen Gedanken und melancholischen Bildern durchsetzt. Nur wenige Gedichte – auch die gibt es natürlich – sind „liebesheiter“.

Eines der Gedichte, wahrscheinlich um 1954, dem Jahr der Begegnung mit Jandl, entstanden, kreist um das Bild der Frau, die nach dem Abschied des Geliebten allein zurückbleibt. Es endet mit Zeilen, die den Tränen der Liebe eine überirdische Kraft zuschreiben: „als du heute weggingst mein Herz / sandte ich meine Tränen als Bächlein das bergauf flieszt / dir nach.“ Mit der Liebe und der Nähe des Geliebten verbinden sich für Mayröcker Bilder der Einsamkeit und der Angst, den Geliebten zu verlieren: „gestern / beim Auseinander- / gehen haben wir uns / beide Hände / gegeben — / aber nicht die Lippen / zum Kusz —“ oder „Ich überlege / ob ich schreien könnte / tauchtest du plötzlich auf / oder ob mir das Glück / in der Kehle bliebe – / ein verwunderter / Rest“.

Die letzten Verse stammen aus Gedichten, die 1974 und 1981 entstanden. Auffällig ist, dass die Sprache der Angst vor dem Abschied und der Trauer Jahrzehnte später, jetzt durch den Tod des Freundes verstärkt, Mayröckers Texte immer noch, nachdrücklicher und emotional bewegender als vorher, bestimmt. So heißt es in einem Text der letzten Jahre:

„neige nuage, letzte Sequenz eines langen Traums: du bist an deinem Schreibtisch gesessen und hast telefoniert, die weißen Tränen, ich habe dich lange nicht gesehen ich habe dich lange nicht umarmt wo magst du sein

Dafür ist auch Alpensprache Rohrmoos, entstanden 2003, ein Beispiel. Das Dorf Rohrmoos in der Schladminger Alpenregion war, vor allem in den 80er Jahren, jener Ort, an dem Jandl und Mayröcker Sommer für Sommer ihren Urlaub verbrachten. In dem Gedicht wird dieser biografische Umstand nebensächlich. Rohrmoos wird zu einem Bild der Nähe und Vertrautheit zweier Liebender und gleichzeitig einem Ort tiefer Melancholie, weil er, gerade wegen seiner besonderen Atmosphäre, den Liebenden die Endlichkeit und Begrenztheit ihrer Liebe eindrücklicher als jeder andere Ort bewusst macht:

damals im Gebirge August waren die Abende kühl aber
unsere Seelen brannten zählten nachts die Sterne am Himmel erkannten
den Groszen und Kleinen Wagen Kassiopeia und Venus schliefen
einander in Armen haltend am Morgen die bloszen
Füsze im Tau gebadet flügelschlagende
Wälder. Manchmal ins Städtchen hinunter um Honig zu holen Stifte
Papier und Wein zirpende Andacht. Wir
setzen uns mit Tränen nieder denn unser Leben war zu kurz

Jahre später schreibt Mayröcker am Ende ihres Buches ich bin in der Anstalt ähnlich resignative Sätze über die Flüchtigkeit des Lebens: „ich bin die geprügelte Seele eines Hundes, sage ich zu IHM, die Stunden die Wochen die Jahre seien so rasch vergangen als säsze man im Zug und die Landschaft flöge vorbei und das Ende der Reise sei nahe“.

Mayröckers Jandl-Gedichte sind bewegende Trauergedichte und beeindruckende, auch verstörende Liebesgedichte. Die Liebe ist die Sehnsucht nach dem Leben, die zunehmend von der Erfahrung der Einsamkeit und den Beschwernissen des Alters und der Nähe des Todes überlagert und verdrängt wird. Liebe wird zu einer Liebe von „damals“ – ein von Mayröcker häufig benutztes Wort – und damit zu einer Metapher der Vergänglichkeit des Glücks und letztlich der Vergeblichkeit allen Lebens.

Melancholie

Die enge innere Beziehung zwischen den Motiven der Liebe und des Todes macht ein Satz aus den Magischen Blättern VI (2007) deutlich: „Du hilfst mir, sage ich, du mein Behüter, wir helfen uns wechselseitig beim Sterben, nicht wahr, du wirst da sein, wenn ich rufe nach dir, sage ich zu Ernst Jandl aber du fehlst mir sehr, wie du mir gefehlt haben wirst, usw.“

Vielleicht ist diese Angst vor Verlust und Einsamkeit der Grund für die Melancholie, die die Haltung des lyrischen Ich in vielen Texten prägt. Mayröcker hat in zahlreichen Interviews darauf hingewiesen, dass für sie Dichten oft aus einer melancholischen Stimmung heraus entstehe und daraus seinen kreativen Impuls erhalte. „Diese Melancholie ist die Grundstimmung, die ich brauche, um zu arbeiten“, sagt sie in einem Interview. „Ohne Melancholie kann ich nicht schreiben.“ Und in dem Gedicht Melancholia (24. 2. 06) heißt es: „suche nach Halt um weiter- / leben zu können bald alles verweht das trübe Licht im / Fenster“

Das Buch ich bin in der anstalt enthält zahlreiche Texte, in denen die Stimmung der Melancholie oder der Wehmut, der „Schwester“ der Melancholie, ein wichtiges Element ist. „Man schreibt aus Wehmut, aus Trauer, aus Unglücklichsein. Wenn es einem gutgeht, wenn man ausgesprochen glücklich ist, dann kann man nicht schreiben“, betont Mayröcker kurz vor Veröffentlichung des Buches in einem Gespräch.

„Diese Köstlichkeit MELANCHOLIE“, schreibt sie einmal. Die Worte könnten als Motto vor den Texten von Mayröckers Alterswerk stehen. Sie verweisen auf die Stimmung des Abschieds und der Erinnerung an das Glück, auf die Sehnsucht nach den einst glücklichen Stunden und Tagen, auf die Erfahrung der eigenen Vergänglichkeit und die vergebliche Anstrengung, das Leben festhalten zu können. Der Wunsch nach „ewigem Leben“ im Bewusstsein des nicht aufzuhaltenden körperlichen Verfalls führt zu einer tiefen Verunsicherung, zu Trauer und Hilflosigkeit: „Zahlreicher der Wortverlust diese Verknotung Verdunkelung meiner Seele, Erlösung ist nicht vorgesehen, ich renne kreuz und quer in meinem Stall: kein Bruder keine Lichtmesz ich schreie weh, die Wehmut schlägt mich tot“.

Alter

In den Texten der letzten fünfzehn Jahre ist die Verschränkung von großem Leben von einst und dem drohenden Lebensverfall jetzt in vielfältiger Weise präsent. Mayröcker schreibt, ohne sich zu schonen, über Altersbeschwernisse und die Angst vor dem Tod. Zwischen den Zeilen der Texte erspürt man die „ruhige Verzweiflung“ der Ich-Schreiberin über die zunehmende eigene Hilflosigkeit und die Einsamkeit, der sie sich ausgesetzt fühlt. „Weinen“ wird zu einem Schlüsselwort: „Habe weinend die verstreuten Zuckerstücke vom Küchenboden aufgehoben oder klaube weinend den verstreuten Würfelzucker auf, die leeren Säckchen, Folien, zusammengeknüllten roten Servietten“. Das klein gewordene Leben wird von Tränen begleitet, einer tiefgründigen Lebenstraurigkeit.

Mehr und mehr konfrontiert sich Mayröcker in ihrem Alterswerk mit Fragen, die, da sie nicht ohne weiteres beantwortet werden können, hilflos machen: Wer bin ich? Warum bin ich so, wie ich jetzt bin? Was macht mein Leben aus? Wodurch wurde es bestimmt, wodurch wird es jetzt bestimmt? Was hält die Zukunft bereit?

Die Bücher ich bin in der Anstalt (2010), ich sitze nur GRAUSAM da (2012) und études (2013) handeln in einer radikalen Form von der Gebrechlichkeit eines über achtzigjährigen Lebens, der Angst, dessen Beschwernisse nicht mehr bewältigen und den körperlichen Verfall nicht aufhalten zu können, der Flucht in die Vergangenheit und der Sehnsucht nach dem Glück der vergangenen Tage, auch der Last der schmerzlichen Erfahrungen der verflossenen Zeit. Es sind schonungslos-realistische Texte über das Alter, genau in der Beobachtung von Einzelheiten, großartig in der sprachlichen Darstellung, eindrucksvoll in den poetischen Bildern.

Ein Text auf den ersten Seiten von ich bin in der anstalt schildert nüchtern und präzise, was Alter bedeutet: „So kann ich den Kopf nicht zur Seite wenden wenn ich die Strasze überquere weil es mich schwindelt, und auch im Gespräch mit einem mich beim Spaziergang Begleitenden wende ich diesem nicht mein Auge zu vielmehr zu Boden blickend, aus Vorsicht, um 1 Schwindelanfall zu vermeiden.“ Und gegen Ende des Buches heißt es: „jetzt da sich alles mein ganzes Leben verlangsamt hat spiele ich noch den sprunghaften Geist, die interessierte Anteilnahme, bin tatsächlich nur versunken in meine apathische Verstörtheit und Hinfälligkeit in meine Ängste (‚jede Angst ist 1 Angst vor dem Tod‘) vor dem Terror der Innen- und Auszenwelt.“ Die Texte umkreisen das Thema Altern in immer neuen Wendungen und Ansätzen. Es ist der verzweifelte Versuch, gegen den Verfall und den Tod anzuschreiben, „1 Trost in der Sprache“ zu finden, „in 1 sprieszenden Baum in 1 Vogelschrei in 1 Quellchen nämlich dem tiefen Blick eines Freunds“.

Anschreiben gegen Alter und Tod

Schreiben und Dichten haben für Mayröcker eine spirituelle Qualität. Sie bedeuten für sie eine „Loslösung von der äußeren Welt”, wie sie in einem Zeitungsinterview sagt. Im Schreibvorgang können die lebensbeschwerlichen Situationen des Alterns gleichsam dadurch überwunden werden, dass sie von ihren biografischen Bezügen gelöst und zu Chiffren des Lebens überhaupt werden. Das Dichten wird zu einem Anschreiben gegen Lebensverfall und Lebensende. Schreiben wird zu einer Bewältigung der bedrängenden Momente des Alters, die Niederschrift zu einer Strategie gegen den Tod: „dann ist wieder das Notieren (‚das Kritzeln‘) das Wichtigste auf der Welt = nach 2-tägiger Schreibabstinenz, ich meine es gibt gar nichts anderes und ich befinde mich wieder im Mittelpunkt meines Wesens.“

Sprache und Schreiben dienen nicht nur der Selbstbefragung und Selbstbeobachtung, sondern sind ein Akt der Abwehr des körperlichen Verfalls im Alter. Indem die Autorin die Lebensepoche des Alters dichterisch „verarbeitet“, rückt sie deren Beschwernisse auf subtil-poetische Weise von sich weg, objektiviert sie durch die Sprache, macht sie im wahren Sinn des Wortes „dingfest“ und nimmt ihnen ihre biografisch-persönliche Bedeutung. Der Leser wird Zeuge, wie ein trotz oder gerade wegen des Alters selbstbewusstes Dichter-Ich sich nicht einengen lässt, sondern aus den Alterserfahrungen den Stoff für ein berührendes und spannendes Schreib-Abenteuer zur Erforschung und Darstellung eben dieses alternden Lebens zieht.

Lebensbejahung

Mayröckers Texte drücken neben aller Melancholie, der realistischen Darstellung des Alterns, der Sehnsucht nach dem geliebten Freund und der Traurigkeit um das verrinnende Leben ein hohes Maß an Lebensbejahung und Lebensfreude aus. Das zeigen vor allem die Verse mit immer neuen Blumen- und Vogelnamen und die Zeilen, die vor dem Leser Landschaftsbilder entstehen lassen.

sie vermute der Flieder im Schulhof, sie sehe nicht so gut, aber
sie habe, es sei 1 Streifen Fliederfarbe zu erkennen gewesen, nein
keine Dolden fliederfarbene Dolden, sie vermute, es sei nur 1 Ahnung
1 Flüstern, 1 fliederfarbenes Flüstern gewesen was sie vernommen
hatte, als sie das Fenster öffnete und hinaussah (1 Schlehdorn 1 Geiszblatt und Clivia)

Die Benennung der Blumen und Vögel hat zauberhafte Züge. Das folgende Gedicht zeigt das auf wunderbare Weise: Es wurde am 2.6. 2008 geschrieben:

an 1 Lieblingin

der Himmel schmilzt ich rufe ihn an in seinem Schrebergarten
er meldet sich freundlich aber ich höre nur den Gesang eines
Vogels schmelzende Frühe, kann nicht mehr sprechen nur lau-
schen der Vogel singt sein Lied nur für mich zärtlich und süsz
durchdringend mein Herz ergreifend ich erkenne nicht ob Amsel
ob Nachtigall (störend in der Ferne 1 menschliche Stimme die
mich nicht mehr erreicht) ich werde die Stimme des Vogels um-
armen: sie ist meine Geliebte

Die desillusionierende Sicht auf Leben und Welt ist in Mayröckers beeindruckendem Alterswerk nicht das letzte Wort. Neben der Niedergedrücktheit steht die Lebensbejahung. Das Schöne und der Schrecken sind gleichermaßen präsent. Sie werden in eine lyrische Sprache übersetzt, die anschaulich und bilderreich ist, genau und provozierend direkt, auch rätselhaft zuweilen, die Neugier erweckt und die Fantasie anregt. Die Texte werden zu Bebilderungen eines hochbetagten Lebens, das beides kennt, die Trauer und die Lebensfreude, den Schmerz und das Glück. So lauten denn auch die Schlusszeilen eines Textes vom 22. März 09:

nur nicht enden möge diese Seligkeit dieses Lebens nur nicht enden ich
habe ja erst angefangen zu schauen zu sprechen zu schreiben zu weinen
und hinter den Jalousien das mich scheuchende Licht des Morgens, oh
sprieszendes Blut und Blüte des Leibes, ‚Privatisierung der Litera-
tur‘ (JD), Wahnwitz der Heiligkeit dieses Lebens das ich ans Herz
(drücke), das mir so teuer – wahrlich dieser mich umarmende Hori-
zont Gabe meiner Bekenntnisse während wehende Veilchen“.

In solchen Sätzen wird Leben in höchsten Tönen gefeiert. – Auch das von Mayröcker 2013 veröffentliche Buch études endet mit eher heiteren Worten; das Wörtchen „ade“ der Schlusszeile ist eingerahmt von Bildern der Nähe zu einem Freund und von Blumen: „ weich und bestürzt dein liebes Gesicht als ob von Nebenmonden tauend Clematis und Immergrün da ragte 1 Ästchen über den Rand des Bildes hinaus, und saszen zusammen unter den Apfelbäumen im Tal, ‚inbrünstig Mützchen ade‘, usw.“

Botschaft

Im Jahr 2005 schrieb Mayröcker den kleinen Text Botschaft für 2099:

2099 bin ich 174 Jahre alt.Die Medizin hat es bis dahin möglich gemacht, mindestens 200 Jahre alt zu werden.
Jeder der jetzt geboren wird, wird 2099 99 Jahre sein, also die Hälfte des Lebens noch vor sich haben.
Ich wünsche mir, dass es 2099 einen neuen Hölderlin geben möge, dass es keine Kriege, keine Hungersnöte, keine Überschwemmungen, keine Erdbeben, keine Feuersbrünste mehr gibt, dass die Wissenschaften human sein mögen.

Wünschen wir der großen Friederike Mayröcker zu ihrem 90. Geburtstag, sie möge mit ihrer „Botschaft“ recht behalten.