Einstimmiger Applaus

Zu Bettina Blumenbergs Neuübersetzung von Henry James‘ „Washington Square“

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Lobeshymnen auf den neu übersetzten Henry James-Roman „Washington Square“, die man derzeit in den Feuilletons lesen kann, überbieten sich gegenseitig in euphorischer Begeisterung. Paul Ingendaay schreibt in der FAZ von einem „funkelnden Prosastück“ und „kleinen Meisterwerk“, Alexander Cammann erklärt in der Zeit, warum James unser aller Zeitgenosse und ein Leben ohne die Lektüre seiner Romane sinnlos sei, und auch Angela Schader legt in der NZZ ein unmissverständliches Zeugnis ihrer Verehrung ab.

Dem kann hier – noch ein wenig nachdrücklicher, wenn möglich – nur beigepflichtet werden. Es handelt sich insofern um einen weiteren Versuch, die Größe des Autors Henry James zu ergründen; am Beispiel eines Romans, den er selbst keineswegs für eine herausragende Leistung hielt.

Bei James‘ Zeitgenossen kamen seine Romane wegen ihrer Handlungsarmut und Nüchternheit nicht gut an. Sie verkauften sich nur schleppend. Auch heute lässt sich beobachten, dass Kinoadaptionen die Texte durch sentimentale Musikuntermalung, pompöse Kostümierungen und häufige Schauplatzwechsel so verfremden, dass sie an Kurzweil und Unterhaltungswert zwar nichts zu wünschen übrig lassen und sich enormer Popularität erfreuen, mit den Vorlagen aber nur noch wenig gemein haben. Was dabei leider verlorengeht, ist James‘ Anliegen, in erster Linie von Menschen zu schreiben.

Anders als der Titel „Washington Square“ vermuten lässt, ist das gesellschaftliche Treiben auf diesem so zentralen Platz New Yorks gänzlich ausgeklammert – bei den europäischen Realisten Dickens oder Balzac wäre das sicher nicht der Fall gewesen. James blickt in die Innenräume. Er beobachtet Gespräche und Beziehungen im engsten Kreis des Privaten und Intimen, besonders innerhalb der Familie. Die Übersetzerin Bettina Blumenberg weist in ihrem Nachwort auf die Doppelbedeutung des Wortes „Square“ hin, das auch die geometrische Figur des Vierecks bezeichnet. Die vier zentralen Figuren des Romans sind erstens Austin Sloper, erfolgreicher Arzt, zweitens seine Tochter Catherine, die sich mit – drittens – Morris Townsend verlobt, der von der vierten Figur, der romantisch schwärmenden Tante Mrs. Penniman, mütterlich aufgenommen wird. Tatsächlich bilden die Verhältnisse dieser vier Personen das Hauptinteresse des Romans.

Früh versteht Dr. Sloper, dass der Bewerber um die Hand seiner Tochter sich in erster Linie für das beachtliche Erbe interessiert, das Catherine zu erwarten hat. Die romantische Zuneigung, die der charmante und gutaussehende Townsend geschickt vorgibt, ist nichts anderes als strategische Fassade. Aber die Erkenntnis, dass hier ein Vater seiner Tochter einen Gefallen tut, indem er sie vor einer unglücklichen Heirat bewahrt, würde das Thema weit verfehlen. Ganz eindeutig ist es Catherine selbst, für die der Leser ganz langsam aber stetig zunehmend Sympathien entwickelt. Am Ende bewundert er sie zutiefst. Dazwischen liegt ein geradezu schmerzhafter Lektüreprozess. Catherine erkennt Stück für Stück, dass ihre grenzenlose, bewundernde Liebe für ihren Vater in keinster Weise auf Gegenseitigkeit beruht. Dieser Mensch hält seine Tochter für so beschränkt und unattraktiv, dass er es für völlig ausgeschlossen hält, sie könne einem Mann ernsthaft gefallen. Er versteckt seine Verachtung ihr gegenüber nicht, seine Sprache ist nackte Gewalt: „Wir haben das Schaf für ihn gemästet, bevor er es schlachtet!“, sagt er ihr über den Verlobten. Bettina Blumenberg hat in ihrer neuen Übersetzung die Grausamkeit der Formulierungen deutlicher herausgearbeitet. Aus der Überzeugung des Vaters, Catherine werde an Townsend „hängenbleiben“, wie es in einer früheren Übersetzung heißt, ist „an ihm kleben bleiben“ geworden, was besser zum englischen „she will stick“ passt, und auch das Maß hervorhebt, in dem Sloper die Empfindungsfähigkeit seiner Tochter unterschätzt. Statt des gewundenen Ausrufs „stumpfsinniges Frauenzimmer“ verwendet Morris Townsend in Blumenbergs Version die schlichteren Worte „blödes Weib“. An vielen Stellen hat Blumenberg James‘ klare, ungekünstelte Sprache von überflüssiger Antiquiertheit befreit.

Catherines Stärke liegt in ihrer Fähigkeit, zunächst uneingeschränkt zu vertrauen und zu lieben, und in ihrem Mut, später der Realität ins Auge zu sehen. Als sie sieht, dass sie auf verschiedene Weise missbraucht worden ist, entsagt sie dem Vater wie dem Verlobten ohne Hassgefühle und beginnt ein Leben des Selbstrespekts. Die unschuldige Unwissenheit kann nicht mehr zurückerlangt werden. Indem sie ihre Entscheidungen mit Rücksicht auf sich selbst und als Folge ihrer Verletzungen bewusst trifft, erscheint sie als gereifte Frau, ja als Beispiel eines gelungenen Emanzipationsprozesses in einer noch durch und durch männlich regierten Welt.

Henry James war ein reflektierter Romancier, der in seinen Vorworten zur New York Edition seiner Werke wie auch in Tagebüchern und Essays poetologisch Rechenschaft abgelegt hat. Sein hoher Anspruch an das Formale seiner Texte und sein Interesse für das psychische Innenleben der Figuren lässt die Modernisierung der Literatur durch Poe, Woolf und Joyce schon vorausahnen. „Washington Square“ ist gerade deshalb interessant, weil manche seiner Prinzipien sich hier gerade noch ausbilden. So ist der Erzähler, dessen Kommentare in späteren Romanen stark zurückgenommen sind, hier noch als Erklärer und Deuter präsent. Es existieren aber schon Nebenfiguren, die seine Funktion teilweise übernehmen: hier Catherines zweite Tante Mrs. Almond. Sie gibt dem Leser häufig Hinweise zum richtigen Verständnis, indem sie ihrem Bruder, dem Arzt, kritisch entgegentritt und hellsichtige Überlegungen anstellt. Über Catherine sagt sie an einer Stelle: „Sie ist wie ein Kupferkessel mit einer Delle; du kannst ihn polieren, aber du kannst den Schaden nicht wegwischen.“

Konflikte von Figuren durch ihre Positionierung in einem Beziehungsgeflecht hervortreten zu lassen, verlangt eine bewusste Anordnung von Dialogen und Figurenkonstellationen. James beherrscht diese Fähigkeit so perfekt, dass Aufbau und Form seiner Romane einen ästhetischen Genuss bereiten, der den Verzicht auf dramatische Ereignisse leicht verschmerzen lässt.

Andererseits: Sind seine Handlungen wirklich so unspektakulär? Für diesen Autor sind sie es nicht. Bei James finden die großen Ereignisse im Inneren statt. Das ist die Begründung für die Größe von Henry James: Er hat seine Kunst einem unsentimentalen und formvollendeten Ausdruck jenes Spektakels gewidmet, das man die Seele des Menschen nennt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Henry James: Washington Square. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Bettina Blumenberg.
Manesse Verlag, Zürich 2014.
274 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783717523109

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