Erwachsenwerden in Nord-Norwegen

Karl Ove Knausgårds große Autobiografie erinnert an Schreiben und Trinken, an Sex und Arbeit

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum ein anderes autobiografisches Werk hat in den letzten Dekaden international so viel Aufmerksamkeit und so aufgeregte Debatten über Kunst und Realismus provoziert wie Karl Ove Knausgårds sechsbändiges Lebensbuch Min Kamp. Der bellizistisch dröhnende Titel dieser Lebenserinnerungen eines 40-Jährigen bezieht sich auf die Anstrengungen, die es dem Autor bereitet, sein schriftstellerisches Werk und die nötige Schreibzeit dafür zu organisieren. Die deutschen Übersetzungen vermeiden diesen Titel verständlicherweise (und geben den Einzelbänden suggestiv knappe, allemal heikle Themen-Titel), da dieser in unsere Unkulturgeschichte schon unauslöschlich eingetragen ist durch die Kampfschrift eines Österreichers in bayrischer Festungshaft. Doch steht ‚Kampf‘ beim Norweger wohl auch schlicht für Leben. Denn den Eröffnungsband Sterben durchzog leitmotivisch der Spruch der Großmutter des Autors „Das Leben ist ein Gampf“. Oftmals zitierte die Großmutter dieses Motto einer reiche Dame, für die sie in den 1930-Jahren als Chauffeurin arbeitete und deren Sprachfehler aus den K‘s G‘s machte: Das Leben ist ein Kampf.

Nach unvergleichlichem Erfolg im skandinavischen Raum erobert der in Schweden lebende norwegische Schriftsteller mit seinen Lebensbüchern nun auch die Kritiker und Leser in den englisch- und deutschsprachigen Ländern. Auf Deutsch sind bisher 4 der 6 (im Original 2009-2011 erschienenen) Bände des 1968 geborenen Radikalrealisten erschienen: Sterben dreht sich um die Beziehung zum alkoholkranken Vater und dessen elendes Ende; Spielen um Kindheit und Jugend in seiner norwegischen Mittelklassefamilie der 1970er- und 1980er-Jahre. Lieben handelt vom Familienleben des Schriftstellerehepaars mit drei kleinen Kindern. Der jüngst erschienene Band Leben schildert – neben den für Knausgård typischen Abschweifungen zu anderen Zeitebenen und Motivsträngen – seine Zeit als Hilfslehrer in einem Kaff in Nord-Norwegen. Dort versuchte der 18-Jährige nach ersten Schritten als Musikjournalist, sich als Schriftsteller zu entwickeln und übt sich – stetig scheiternd, stetig neu anlaufend – als Liebhaber.

Das Buch beginnt mit der Ankunft des frisch gebackenen Abiturienten am Flughafen im abgelegenen Norden Norwegens, berichtet von seiner ersten Nacht in der Jugendherberge und vom Bezug seiner ersten eigenen Wohnung. Es schließt mit einer deftigen Sexszene, die beschreibt, wie der wohl eher erfahrungs- als liebeshungrige, bindungsscheue Jüngling nach vielen frustrierenden Anläufen schließlich unter eher wüsten Umständen doch noch seine Jungfräulichkeit verliert. Die durchaus peinlichen Details dieser éducation erotique sollen hier nicht verraten werden. Doch ist eine Neigung zur ausführlichen Beschreibung und Reflexion schambesetzter Szenen des eigenen Lebens ein zentrales Element der Knausgårdschen Poetik der Aufrichtigkeit.

Letztlich benutzt der autobiografische Autor hier ein Stil- und Wirkmittel, das sich spätestens seit Jean Jacques Rousseaus Geständnispoetik bewährt hat. Peinlichkeit funktioniert als Indikator und als eines der wichtigsten Bindemittel für den autobiografischen Pakt zwischen Autoren, die von sich erzählen, und Lesern, die lieber vom realen Leben lesen wollen, als sich mit Fantasien und Erfindungen zu befassen. Gesteht ein Autor unangenehme, peinliche Momente seines Lebens, scheinen diese Geständnisse in besonderem Maße die Wahrhaftigkeit und Faktizität des Beschriebenen zu verbürgen. Das Beschämende soll gewissermaßen sicher stellen, dass der Autor nichts verschweigt und nichts erfindet. Denn wer würde sich schon ohne Not so unangenehme Dinge wie Diebstahl, bezogene Prügel, sexuelles Scheitern oder perverse Begehrlichkeiten andichten, wenn sie nicht tatsächlich zur faktischen Lebenserfahrung gehörten? Das Peinliche verbürgt mithin besser und überzeugender den radikalen Wahrheitsanspruch als alle Berichte vom Schönen, Wahren, Guten, das ein Leben erstrebt oder erreicht haben mag. Denn diese stehen – zumindest in der desillusionierten Moderne – doch stets im Verdacht, nur Idealisierungen oder Fassaden eines dahinter verborgenen, gemeineren Lebensvollzugs zu sein.

Was erlebte und was erzählt der 1968 geborene norwegische Erfolgsautor nun in seinem Band Leben? Und wie gestaltet er diese Erinnerungen, die er circa 20 Jahre nach der Zeit seines Erwachsenwerdens zu Papier bringt? Erzählt wird vom unsicheren, doch energischen Start ins eigene Autorleben, ferner von der Suche nach den Ekstasen der (hier meist frustrierenden) Sexualität und des Rauschs, der freilich vom nachfolgenden Kater und von peinlichen Filmrissen begleitet wird. Nachdem sich die Eltern getrennt hatten, beschäftigte sich der Teenager vor allem mit der Popmusik der 1980er-Jahre. Nicht nur längst vergangene Medienobjekte wie Langspielplatten und Walkmans werden hier in ihrem quasi-kultischen Status recht lebendig vors Auge der Leserschaft zurückgerufen. Auch die Lieblingsbands, von den Talking Heads über The The oder Tuxedemoon beschwören Milieus und Stimmungen der 1980er-Jahre herauf.

Generationstypisch erlebt der Autor seine Proust’schen Momente der mémoire involontaire beim Erklingen einer bestimmten Schallplatte, die in ihm Erinnerungen an Erlebnisse seiner vergangenen Lebensjahre aufsteigen lässt. Die internationale Leserschaft erkennt hierbei (und mag sich darüber freuen), wie ähnlich sich die popmusikalischen Sozialisationen dieser Generation über Ländergrenzen hinweg waren. Während die von Knausgård erwähnten Schlüsselautoren jenseits von Ernest Hemingway und Thomas Mann doch viel nationalspezifischer ausfallen, denn die norwegischen Gegenwartsautoren dürften anderswo nur wenig bekannt sein.

Die ersten Erzählungen des schon mit 16 Jahren als Plattenkritiker einer Lokalzeitung publizistisch tätigen Autors orientierten sich am lakonischen Stil Hemingways, dessen stilisierte Männlichkeit nebst seinem Erfahrungshunger wohl auch als kaum zu erreichendes Lebensvorbild dienen. Knausgårds Umzug in die abgelegene Provinz sollte vor allem der Geldbeschaffung dienen: als Hilfslehrer kann er im hohen Norden auch ohne große Ausbildung genug verdienen, um anschließend durch Europa zu reisen. Geld, Statussymbole, bürgerliche Karriere werden brüsk abgelehnt. Erfahrungen und Freiheit sind seine postmateriellen Leitwerte. Dem Autobiografen gelingt es ausnehmend gut, dieses Lebensgefühl einer an alten Bohème-Idealen orientierten bürgerlichen Jugend zu evozieren. Der sensible junge Mann spielt zwar lange auch Fußball, doch erinnert er plastisch seine Fremdheit und Gefühle latenter Unmännlichkeit im Milieu der anderen Männer, die meist als Fischer zur See fahren oder andere handfeste Berufe ausüben. Seine Interessen und Bestrebungen gingen einerseits Richtung „Einsicht und Innerlichkeit“, daneben zog es ihn aber auch in Diskos. Pointiert bringt er dies auf die Formel: „neue Unterabteilung in meinem Leben, ‚Suff und Hoffnung auf Hurerei‘“.

Freude und Kraftgefühle empfindet er am intensivsten beim Schreiben, nachdem er sich angesichts der Besuche junger Männer aus dem Dorf eher schwach und mädchenhaft fühlte und seine Annäherungen ans andere Geschlecht auch regelmäßig (und ganz buchstäblich) in die Hose gehen. Der sich autobiografisch entblößende Schriftsteller erinnert die Scham darüber, dass er mit beinahe Zwanzig noch Jungfrau war – und mehr noch darüber, dass er sich seinen Freunden gegenüber jahrelang eine Menge sexueller Erfahrungen „zusammengelogen“ hatte. Niemals zu lügen wird später eines seiner ethischen Leitmotive, und dieser Imperativ der Wahrhaftigkeit grundiert wohl auch die Poetik dieses literarischen Geständniswerks.

Keineswegs will er Lehrer werden wie sein Vater, zu dem er ein herzlich schlechtes Verhältnis hatte. So betrachtet er seine Anstellung als Aushilfslehrer nur als Geldjob und beginnt diesen so lässig wie nervös. Nach der ersten glücklich überstandenen Unterrichtsstunde betritt er das Lehrerzimmer. Er ist erleichtert, verspürt Jubelgefühle, die sich schnell wandeln und so seine Werte offenbaren: „Ich bin backstage, dachte ich, doch dieser im Grunde schöne Gedanke wurde im nächsten Moment in sein Gegenteil verkehrt, denn genau das hatte ich doch eigentlich nicht gewollt, verfluchter Mist, ich war Lehrer, gab es etwas Traurigeres? Backstage, das waren Bands, Frauen, Trinken, Tourneen, berühmt sein.“

Backstage im Bewusstsein und Leben des Autors rumort in allen seinen Erinnerungsbänden sein Vater als untoter Wiedergänger. Verzeichnet werden die befremdlichen Funde von dessen Pornoheften in der Scheune, die Prügelstrafen, die er dem großen Bruder verpasste, seine Ohrfeigen und die ständige Angst vor dem kühlen, unberechenbaren und unter Alkohol gefühlsduseligen Vater. Nur scheinbar rückt der Vater dem Erzähler post mortem näher, wenn beim Aufräumen des vom verfallenden Alkoholiker verwüsteten Hauses der Großmutter väterliche Tagebuchaufzeichnungen gefunden werden. Doch zeigen diese den Verstorbenen ein weiteres Mal nur als ziemlich befremdlichen Protokollanten seines Alkoholkonsum und Verfasser knappster Notizen zu Arbeits- oder Familientreffen.

Nur sehr marginal wird übrigens das eigene Tagebuchschreiben des Autors erwähnt, obwohl doch seine Tagebücher höchst wahrscheinlich als Hauptquelle seiner zwanzig Jahre nach den Ereignissen niedergeschriebenen Lebenserinnerungen fungieren. Hier scheint eine Art medialer blinder Fleck im Schreiben des Erfolgsautors zu liegen. Denn wann, wie, worüber er einst Tagebuch schrieb, das erwähnt Knausgård kaum je. Dabei scheint sein Kult ums literarische Schreiben neben der Erotik die zentrale Triebfeder seiner Lebensentscheidungen und seiner Tagesgestaltung gewesen zu sein. So drehte er in seinem Jahr in Nord-Norwegen in der winterlichen Polarnacht seinen Tagesablauf während einiger Wochen um, schrieb mithin am Romanprojekt von Mitternacht bis 8 Uhr morgens, ging dann zur Unterrichtsarbeit in die Schule und legte sich um 3 Uhr nachmittags schlafen. Nach einigen Wochen wurde ihm das dann doch zu anstrengend, und er gab diesen Arbeitsrhythmus wieder auf.

Nur einmal wird erwähnt, wie er in einem alten Tagebuch seine Notiz findet, dass die Monate vor dem Abitur die glücklichste Zeit seines Lebens war: intensive Gefühle von Freiheit und viele Freundschaften wurden damals rauschhaft als großes Glück empfunden. An anderer Stelle wird die Sehnsucht nach den Landschaften und den Wortwelten seiner Kindheit als Motiv des Schreibens evoziert. So vergoss der Erzähler Tränen der Rührung und erlebte Explosionen der Erinnerung beim Wiedersehen mit seiner alten Grundschule: „Ich hatte das Gefühl, als würde die ganze reiche Welt der Kindheit für einen Augenblick zurückkehren.“

Knausgårds nicht streng chronologisch vorgehende Erinnerungspoetik lässt hunderte von Seiten der Abschweifung in eine ferner zurückliegende Lebensphase zu und kehrt dann abrupt in die Hauptzeitschicht zurück – hier sein Jahr im seither nie wieder aufgesuchten Fischerkaff. Eingestreut werden gelegentlich zeithistorische Beobachtungen und eine Art soziologischer Essayistik, so etwa Reflexionen über des Norwegen der 1980er-Jahre mit seinem neuen Hang zur Leichtigkeit, zu südlicheren Lebensmodellen, zum Karneval. Alles Tendenzen, die durch neue Fernsehprogramme geschürt und verbreitet wurden.

Lässt sich Knausgård ausführlicher Lebensrückblick aus der Lebensmitte verstehen als Bericht von seiner edcucation sentimentale? Lesen wir hier eine persönliche Schule des Schreibens, des Lebens, des Liebens? Nein, diese alten Konzepte treffen die Sache nicht so recht. Denn Teleologie oder Bildungsziele liegen diesem existenzialistischen Lebenskonzept und Schreibprogramm eher fern, auch wenn am Ende des vorliegenden Bandes die Aufnahme des Jungautors in eine Schreibakademie (als Stufe der Anerkennung seiner schriftstellerischen Berufung) steht. Wertschätzen lässt sich dieses umfangreiche Werk eher als ein wahrnehmungsstarkes und sprachmächtiges Paradebeispiel des zeitgenössischen egotisme, des unablässigen Kreisens um das eigene Ich, die eigenen Gefühle, Befindlichkeiten und Selbstverwirklichungsbedürfnisse: Narrative Selfies mit einiger Tiefenschärfe und ohne Angst vor Hässlichem und Abstoßendem.

Schön daran ist die Sensibilität für Details in den – selbstredend stark selektionierten – Lebenssituationen, die hier mit Röntgenblick ausgeleuchtet und sprachlich gekonnt ausgefaltet werden. Manchmal nervig oder quälend wirkt diese Erinnerung mit dem Vergrößerungsglas, wenn stetig wiederkehrende Lebensvollzüge immer wieder erwähnt oder gar detailgenau beschrieben werden: wie viele Zigaretten hier geraucht, wie viele Kaffeetassen aufgebrüht werden – das wirkt schon gelegentlich langweilig. Doch ist es nicht einfach, sich dem Sog dieser geschickt gestalteten Erinnerungsprosa zu entziehen, die stetig zum Weiterlesen verführt mit ihren Ködern an Peinlichkeit, ihren sprachmächtigen Gefühlsanalysen und mit gelungenen Realitätseffekten, die viele Leser an Szenen ihres eigenen Lebens erinnern mögen. Wer ließe sich nicht gelegentlich selbst gern für einige sentimentale oder zornige Stunden in die verlorene Zeit seiner Kindheit, zu wiedergefundenen Dingen, Klängen, Gefühlen seiner Jugend entführen? Knausgård dient hier als geländekundiger Reiseführer zurück ins nordeuropäische Wohlstandsterrain der späten 1980er-Jahre.

Titelbild

Karl Ove Knausgård: Leben. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg.
Luchterhand Literaturverlag, München 2014.
618 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874135

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch