Doppelt hält besser

Peter Kerns Edition der Sangspruchdichtung Rumelants von Sachsen

Von Nils HansenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Hansen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rumelant von Sachsen war ein Dichter von Sangsprüchen und Minneliedern in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts. Mit 107 überlieferten Sangspruchstrophen und 3 dreistrophigen Minneliedern nimmt er unter den Sangspruchdichtern seiner Zeit schon vom Umfang seines Œvures her eine bedeutende Stellung ein. Eine Edition seines Gesamtwerks war dagegen über Jahrzehnte ein Forschungsdesiderat, vollständig abgedruckt war es lange Zeit nur in Friedrich Freiherr von der Hagens 1838 erschienenen Minnesingern. Seit dem Jahr 2011 liegt Rumelants Werk in der mit umfangreichem Kommentar und Übersetzung ausgestatteten Edition Holger Runows vor, die von der Forschung überwiegend positiv aufgenommen wurde (Holger Runow: Rumelant von Sachsen. Edition – Übersetzung – Kommentar. De Gruyter: Berlin/New York 2011 [Hermaea 121]). Mit gerade einmal drei Jahren Abstand erscheint nun Peter Kerns mit über 700 Druckseiten für einen Dichter der sogenannten ‘zweiten Reihe’ geradezu monumental ausgefallene Edition der Sangspruchdichtung Rumelants. – Jenes Teils von Rumelants Werk also, der auch schon einen Großteil der Ausgabe Runows ausmachte. Diese zunächst einmal überraschende Doppelung erklärt Kern gleich zu Beginn: Dem im Hinblick auf das ‘Normalmittelhochdeutsche’ normalisierten Editionstext Runows wolle er einen näher an der Sprachgestalt der Jenaer Liederhandschrift orientierten Text gegenüberstellen, die mit großer Wahrscheinlichkeit der Sprache Rumelants sehr nahe stehe. Auch habe er im Hinblick auf Interpretation und Übersetzung einzelner Textstellen andere Auffassungen und wolle über die Kommentierung Runows hinausgehende Erläuterungen und Informationen bieten. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Ausgabe, die Kern bereits vor 30 Jahren angekündigt hat, macht aber deutlich, dass sie nicht als ‘Anti-Runow’ konzipiert wurde und auch nicht so verstanden werden sollte: Sie ist vielmehr die Frucht einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit Rumelant, die nun trotz der zwischenzeitlich erschienenen Neuedition ihren berechtigten Anspruch auf Erscheinen erhebt.

Kern ediert seiner Prämisse gemäß sehr nah an der für alle Strophen als Leithandschrift gewählten Jenaer Liederhandschrift. Eine Normalisierung des mittelhochdeutschen Textes beschränkt sich weitgehend auf allgemein akzeptierte ‘Standards’: Auflösung der Abbreviaturen, eine an den Wörterbüchern orientierte Regelung von Getrennt- und Zusammenschreibung, Einführung einer Interpunktion nach neuhochdeutscher Maßgabe und Vereinheitlichung einiger weniger Graphien. Eingriffe in den Wortlaut der Handschrift gestattet er sich ansonsten nur bei „offensichtlicher Sinnwidrigkeit, bei eindeutigen Verstößen gegen die Grammatik, gegen das vom Tonschema geforderte Metrum oder bei Reimfehlern“. – Dass dieses editorische Minimalprogramm angesichts der stark mitteldeutsch/niederdeutsch geprägten Erscheinung des Textes bei im Umgang mit nicht-normalisierten Texten wenig geschulten Benutzern leicht zu Verständnisproblemen führen kann, ist Kern dabei durchaus bewusst: Er begegnet diesen Schwierigkeiten etwa durch die ausführliche Kommentierung mittel- und niederdeutscher Formen im Stellenkommentar, wo auf die entsprechenden oberdeutschen bzw. ‘normalmittelhochdeutschen’ Formen der Wörterbücher verwiesen wird. In der Praxis funktioniert das meist gut, erweist sich aber in Einzelfällen zuweilen auch als Belastung für den ohnehin umfangreichen Stellenkommentar – so etwa im häufig vorkommenden Fall der regelhaft in mitteldeutscher Form erscheinenden Verbalpräfixe ver- (erscheint als vůr-) und zer- bzw. ze (erscheinen als tzůr- bzw. tzů). In Fällen wie dem des Präfix er-, das in der Handschrift unsystematisch sowohl als er-, als auch in der mitteldeutschen Form ir- erscheint, stellt sich wohl grundsätzlich die Frage, wieso auf eine Vereinheitlichung verzichtet wurde, da ein Mehrwert der handschriftlichen Formen kaum erkennbar ist, sie aber gleichzeitig Verwirrung stiften können. Von solchen Kleinigkeiten abgesehen bietet Kern einen ebenso übersichtlichen wie handhabbaren, handschriftennahen Ausgabentext. Nicht regelhaft durchgeführte normalisierende Eingriffe werden ebenso wie Konjekturen stets transparent durch Kursivierung im Text unter Angabe der handschriftlichen Form im Apparat gekennzeichnet. Ein stichprobenartiger Vergleich mit den Handschriften legt eine sehr gewissenhafte Transkriptionsarbeit nahe, sodass von großer Verlässlichkeit der Ausgabe auszugehen ist.

Etwas stiefmütterlich wird die Parallelüberlieferung in der Großen Heidelberger Liederhandschrift und kleineren Fragmenten behandelt, die meist als Lesart im Apparat verschwindet. Zwar hält sich der Anteil sinntragender Lesarten hier insgesamt in engen Grenzen, durch die Aufnahme bloßer Schreib- bzw. Lautvarianten in den Apparat ist dieser allerdings streckenweise so aufgebläht, dass der Benutzer diese wenigen Fälle erst mühsam suchen muss. Hier wäre eine stärkere Selektion durch den Editor oder eine typographische Auszeichnung sinntragender Lesarten wünschenswert gewesen. Auch der verstärkte Einsatz des von Kern nur gelegentlich praktizierten Verfahrens, stärker abweichende Überlieferung synoptisch im Apparat abzudrucken, hätte hier und da durchaus für mehr Übersicht sorgen können.

Die dem mittelhochdeutschen Text jeweils im Paralleldruck gegenübergestellte neuhochdeutsche Übersetzung ist eine durch und durch wissenschaftliche: Nah am Text und möglichst wörtlich übersetzend, gestattet Kern sich freiere Formulierungen nur in eingeklammerten Zusätzen. Auf diese Weise immer wieder durch erläuternde Klammern unterbrochen, besticht die Übersetzung zwar nicht gerade durch Lesefreundlichkeit, gewährleistet aber einen hohen Grad an Präzision und Nachvollziehbarkeit und ist immer wieder auch Hin- bzw. Rückleitung zum mittelhochdeutschen Text. – Ein Übersetzungsverfahren, das gerade im Hinblick auf den ausdrücklich mit angesprochenen ‘weiter gesteckten Leserkreis’ gewählt worden sein dürfte und das vor diesem Hintergrund als angemessen gelten muss, verhindert es doch ein Zurückstehen des eigentlichen Editionstextes hinter der Übersetzung.

Dem in jeder Hinsicht beispielhaften Kommentar an dieser Stelle in wenigen Sätzen gerecht werden zu wollen, ist kaum möglich: Kern bietet für jede Strophe bzw. Strophengruppe eine ausführliche thematische und interpretatorische Einordnung und einen Stellenkommentar, wobei neben der Beschreibung grammatischer und lautlicher Phänomene auch Übersetzungsalternativen diskutiert und insbesondere auch die Herkunft bzw. Traditionslinien verwendeter Topoi, Bilder und Argumentationen beleuchtet werden. Der Grad an Ausführlichkeit und der fachliche Rundumblick verraten Kerns jahrzehntelange Erfahrung nicht nur mit dem Werk Rumelants. Hervorzuheben ist zudem die Aufnahme der in der Jenaer Liederhandschrift überlieferten Ton-Melodien in moderner Notation, womit die Ausgabe eine erfreuliche Tradition in der Edition mittelhochdeutscher Lyriker der letzten Jahre fortsetzt – und den Charakter des Sangspruchs als gesungener Lyrik unterstreicht.

Insgesamt bietet Kerns Edition der Sangspruchdichtung Rumelants von Sachsen ein mehr als überzeugendes Gesamtbild. Es gelingt ihm, eine fundierte wissenschaftliche Edition vorzulegen, die auch für den Anfänger mit Gewinn nutzbar ist. Praktisch nebenbei wird die Rumelant in der Einleitung attestierte große Kunstfertigkeit, seine reiche Kenntnis der für seine Kunst einschlägigen Stilmittel und sein für einen fahrenden Sangspruchdichter hohes Bildungsniveau am Text nachgewiesen und so die geringschätzigen Urteile der älteren Forschung endgültig widerlegt. Auch wenn die Sangspruchdichtung heute längst nicht mehr die ‘vergessene Gattung’ ist, die sie in der Forschung lange Zeit war, kann eine Edition diesen Ranges dabei helfen, das der Gattung latent immer noch anhaftende Stigma der Schlichtheit und Kunstlosigkeit zu überwinden. Vor diesem Hintergrund ist wohl auch das Erscheinen zweier umfangreicher Editionen ein und desselben Sangspruchdichters innerhalb kurzer Zeit nicht als Ressourcenverschwendung zu werten, scheint doch Kerns im Vorwort geäußerter Wunsch, dass gerade das Nebeneinander zweier sich in einigen Punkten reibender Ausgaben zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit Rumelants Sangspruchdichtung einladen kann, sehr plausibel.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Peter Kern (Hg.): Die Sangspruchdichtung Rumelants von Sachsen. Edition - Übersetzung - Kommentar.
De Gruyter, Berlin 2014.
719 Seiten, 199,95 EUR.
ISBN-13: 9783110182149

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