„Diesmal ist alles anders!“ Und das seit vierzig Jahren

Ein lyrisches Zwischenspiel eröffnet das Jubiläumsjahr des Poet in Residence-Programms der Universität Duisburg-Essen

Von Maren JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maren Jäger

Die aktuelle deutschsprachige Lyrik (deren illusorischer Singular bereits vor sechs Jahren von Martin Endres aufgespießt wurde) hat es nicht leicht – und genießt obendrein nicht den allerbesten Ruf. In seinen Zehn Thesen zur Poesie polemisiert Michael Lentz 2005: „Keine Strömungen derzeit, höchstens Brisen und Rettungsschwimmer, kein Arschloch der Jahrtausendwende. Es herrscht weitgehend eine Bravheit, dass die Verdauungsorgane ihre Tätigkeit einstellen sollten.“ Ungeachtet aller Unkenrufe, die der Gegenwartslyrik Formlosigkeit und eine Inflation des Banalen attestieren, erfuhr sie in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom – sofern man die zahllosen Autorendebüts, die sprunghafte Vermehrung von Anthologien und Periodika, die Erschließung neuer Leserschichten und Verbreitungsformen (Internetforen, Poetry Slams & Co) als Indikatoren gelten lässt.

In seltsamem Widerspruch dazu steht ihre weitgehende Vernachlässigung durch die Literaturwissenschaft. Schon beim flüchtigen Blick in universitäre Vorlesungsverzeichnisse wird schnell deutlich, dass ausgerechnet diejenige der drei Großgattungen, die doch über Jahrhunderte hinweg als die Königsklasse der Dichtkunst galt, merkwürdig unterrepräsentiert ist – sieht man einmal von den curricularen Evergreens wie Goethe, Rilke, den Romantikern oder Expressionisten ab. Die jüngere und jüngste Gegenwartslyrik scheint das notorische Stiefkind der Germanistik zu sein. Dafür mag man gute Gründe ins Feld führen: Lange Zeit hat sich – so Jochen Vogt – „die etablierte germanistische Literaturwissenschaft mit der jeweils gegenwärtigen, also mit der lebendigen Literatur […] sehr schwer getan. […] Ein Quarantänezeitraum von mindestens einer Generation war unverzichtbar.“ Das Schicksal, noch nicht kartographiert, selegiert, kanonisiert und damit für Seminare domestiziert zu sein, teilt die Gegenwartslyrik mit der Prosa der letzten Jahrzehnte. Dennoch erfreut sich letztere einiger Beliebtheit, was aber nicht zuletzt daran liegen mag, dass Literaturpreise, mediale (Feuilleton-)Aufmerksamkeit, prominente Autorennamen eine gewisse ‚Seminartauglichkeit’ zu verbürgen scheinen. Ein wenig ‚Halt’ gibt auch der Umstand, dass es ein geistiges Werk jüngeren Datums immerhin bis zur Buchform gebracht hat und möglicherweise obendrein das Label eines renommierten Verlags als Gütesiegel trägt. Man muss auf dem Feld der Gegenwartsprosa also nicht hinabsteigen in die Niederungen des Rohen und Unerlesenen. Stattdessen kann man darauf zählen, dass bereits die Dreschflegel des Literaturmarktes die Spreu vom Weizen getrennt, seine Mühlen letzteren bereits gemahlen haben, so dass man als Lehrende*r aus feinem und reinem Mehl seine modularisierten Brötchen kneten und backen kann – und bei der Zusammenstellung seines Seminarplans kein Wagnis eingehen, ungleich weniger Mut aufbringen muss, sich seiner eigenen Kritik- und Urteilsfähigkeit zu bedienen.

Und in der Tat präsentiert sich die weitläufige (und für Novizen schier unüberschaubare) Nische der Gegenwartslyrik auf den ersten Blick selbst für gestandene Literaturwissenschaftler*innen als ein Irrgarten. Man sieht sich – sofern man sich auf sie einlässt – nicht nur mit ungleich mehr schlechten als guten Gedichten konfrontiert, mit meist unfassbar schönen Gedichtbänden in winzigsten Auflagen, sondern auch mit einer Reihe von Verlagsnamen, von denen man womöglich noch nie gehört hat: Welcher nicht Gegenwartslyrik-affine Mensch kennt schon die Edition AZUR, luxbooks oder Das Wunderhorn, das mit dem Unterfangen des Duos Arnim/Brentano nicht viel mehr als den Namen und die Mission gemein hat? Man gerät in einen veritablen Dschungel einer Vielzahl von Zeitschriften, Anthologien, Preisen, Veranstaltungsformaten und -reihen – und nicht zuletzt Onlineforen und -zeitschriften. All diese Namen und Institutionen sagen dem Außenstehenden wenig bis nichts – während der Connaisseur (oder Nischenbewohner bzw. -dauergast) beim Label kookbooks anerkennend eine Braue hebt oder beim Stichwort ‚Huchel-Preis’ bewundernd durch die Zähne pfeift.

Ein Paralleluniversum, so scheint es. Aber auch hier gibt es Prominenz, Qualitätssiegel oder einigermaßen durchschaubare Netzwerke, Regeln und Gesetze – wie es Nischen so an sich haben. Nur: Man muss sich selbst aufmachen, wird nicht abgeholt, es gibt keine Karte, keinen Reiseführer, kein Navigationsgerät, aber es helfen: Zeit und Geduld, keine Angst vor Bekanntschaften mit lebenden Autor*innen und idealistischen Verleger*innen, die eigene Kritik- und Urteilsfähigkeit – und vor allem literarische Neugierde.

Unerschrockene und Neugierige belohnte die Universität-Duisburg Essen Ende Oktober mit einem Poet in Residence-‚Spezial’, das – freilich aus der Not (genauer: aus einem Bandscheibenvorfall) geboren – „alles anders“ machte als bislang, nämlich indem es der blühenden Nische gleich für eine ganze Woche ein Forum gab und statt eines ‚Poets’ gleich fünf eingeladen hat. Genaugenommen waren es mehr als fünf, denn auch unter den Moderatoren – befreundeten Kollegen und Literaturwissenschaftlern – gab es kaum (oder: nicht?) einen, der nicht selbst schon einmal – im Verborgenen oder ganz offensiv, für die Schublade oder eine Anthologie – ‚lyrisch produktiv’ geworden wäre.

Die kleine Lyrikwoche erhielt obendrein eine prominente Platzierung: als Auftaktveranstaltung zu einem Jahr, in dem die Universität den vierzigjährigen Geburtstag des Poet in Residence-Programms feiert. Und feiern darf sie auch sich selbst mit Fug und recht, verfügt die Universität Duisburg-Essen doch nicht bloß über die Mittel, sondern auch (weitaus wichtiger in ‚diesen Zeiten’) über den guten Willen, dem einzigen nicht fremdfinanzierten Poet Deutschlands eine Residenz und den Studierenden und allen Interessierten einen hörens- und sehenswerten „Zwischenaufenthaltsdichter“ (G. Herburger) zu offerieren. Zudem war und ist die Veranstaltung ein schöner Beweis dafür, dass „in der Essener Germanistik die Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart von Anfang an einen zentralen Platz im Lehr- und Studienprogramm (und auch in der Forschung anderer Kollegen) einnahm“ (Jochen Vogt).

Bereits seit dem Wintersemester 1975/76, als Martin Walser zu Gast war, gibt es die Veranstaltung, und damit ist sie älter als viele ihrer (z.T. prominenteren) Schwestern, sieht man einmal von der berühmtesten, der Frankfurter Poetikvorlesung ab, die 15 Jahre mehr auf dem Buckel hat (und keinen geringeren als den Suhrkamp-Verlag als Sponsor): Ob Tübingen (1996) oder Kassel (1991), Bamberg (1987) oder Kiel (1997) – all diese Poetikprofessuren gibt es erst seit den späten achtziger oder frühen neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Selbst die renommierte Mainzer Poetikdozentur (begründet 1980) ist knapp fünf Jahre jünger als diejenige in Duisburg-Essen, die demzufolge auch auf ein breites Spektrum an Autor*innen zurückblicken kann, die im letzten halben Jahrhundert Literaturgeschichte geschrieben haben: Nicolas Born, Jurek Becker, Günter Grass, Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt, Cees Nooteboom, Emine Sevgi Özdamar, Dieter Wellershoff, Yōko Tawada, Dagmar Leupold, Terézia Mora u.v.m. haben sich die Klinke in die Hand gegeben. Auch Lyriker*innen waren mit von der Partie, Volker Braun, Ursula Krechel, Peter Rühmkorf und Robert Gernhardt, um nur vier zu nennen. (Und – aufgemerkt! – im April 2015 kommt Marion Poschmann.)

Der Essener Poet ist im allerbesten Sinne „Literatur in der Medienkonkurrenz“, und er war es – so Jochen Vogt – „schon damals, als das poet in residence-Programm begann.“ Als ein „Innehalten angesichts poetischer Konstruktionen, die das (meist selbstgefällig) hetzende Hin&Her des Alltäglichen für einen Zeitraum unterbrechen“, wollen die Veranstalter die fünf Lesungen und Gespräche verstanden wissen, nicht als „Versuch vorschneller Kategorisierungen, zeitaktueller Tendenzsuche oder obszöner Messung von Strömungsgeschwindigkeiten“. „Die Veranstalter“, das ist allen voran Andreas Erb, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Masterstudiengang „Literatur und Medienpraxis (LuM)“; wie seine fünf Moderatorenkollegen ist er ein Grenzgänger „zwischen Universität und Kreativität“: Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist er bildender Künstler, in Einzel- und Gruppenausstellungen vertreten, hat gemeinsam mit Norbert Scheuer einen Text-Collagenband über den realen und literarischen Ort „Kall“ in der Eifel vorgelegt und arbeitet seit Mai 2010 an einem Collagenprojekt Tage Buch Vergehen, das inzwischen über 1000 Blatt umfasst. In diesen vier Oktobertagen übernahm er aber dienende Funktion, stellte die Moderatoren vor, die ihrerseits wiederum die Poets vorstellten – und sich von ihnen (da das Leben in den Nischen vielleicht manchmal doch noch ‚ein Wunschkonzert’ ist) Gedichte wünschen durften, die vorgetragen und auf dem Podium und mit dem Publikum diskutiert wurden.

Von Montag bis Donnerstag der letzten Oktoberwoche (27.-30.10.2014) lasen im Rahmen des Poet in Residence-‚Spezial‘ Tom Schulz, Søren R. Fauth, Jürgen Nendza, Sabine Scho und Steffen Popp an der Universität Duisburg-Essen aus ihren neuesten (und älteren) Gedichtbänden. Mehr als Grund genug für die Redaktion Gegenwartskulturen, diesem Zwischenspiel einige (teils studentische) Beiträge zu widmen, die Sie in Kürze hier nachlesen können:

Tom Schulz
im Gespräch mit Christof Hamann und Maximilian Mengeringhaus (27.10.2014, 16:30)

Søren R. Fauth
im Gespräch mit Rolf Parr (28.10.2014, 16:30)

Jürgen Nendza
im Gespräch mit Norbert Scheuer (29.10.2014, 16:30)

Sabine Scho
im Gespräch mit Andreas Erb (30.10.2014, 15:00)

Steffen Popp
im Gespräch mit Norbert Wehr (30.10.2014, 19:30)

Und wenn es nach dieser Woche noch jemanden geben sollte, den es nicht restlos (oder nicht im geringsten) überzeugt hat, dieses „Zwischenspiel“; wer sich nicht wünscht, dass das ‚Spezial’ in Serie gehen möge, dem sei das ‚Erfolgsmodell’ ans Herz gelegt – allen anderen natürlich auch! Schon in den ersten vier Dezembertagen gibt es die Möglichkeit zum direkten Vergleich mit dem ‚traditionellen’ Format, denn dann wird Kathrin Röggla an der Uni Essen in drei Poetikvorträgen und einer Lesung „Von Zwischenmenschen, working Milieus, Parallel-Krisen und dem nicht eingelösten Futur“ berichten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen