Besorgte Mütter, falsche Freunde

Yves Raveys Kurzkrimi „Ein Freund des Hauses“

Von Christof RudekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christof Rudek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Madame Rebernak hat Angst. Ihr Cousin Freddy ist nach 15 Jahren Haft, zu der er wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wurde, aus dem Gefängnis entlassen worden und treibt sich wieder in der Stadt herum – mit Vorliebe um ihr Haus und vor dem Mädchengymnasium. Wie soll sie ihre Tochter Clémence vor ihm schützen? Bei der Polizei weist man sie ab, denn Freddy darf sich frei bewegen. Zum Glück gibt es noch Maître Montussaint, einen angesehenen Notar und Freund ihres verstorbenen Mannes, mit dessen Sohn Clémence liiert ist. Er hat Madame Rebernak vor einiger Zeit bereits eine Putzstelle verschafft, an ihn kann man sich wenden. Nur gefällt es ihr nicht, dass Clémence sich in letzter Zeit von Montussaint in dessen rotem Sportcoupé nach Hause fahren lässt. Am Ende erfüllen sich die bösen Ahnungen, wenn auch auf andere Weise als vermutet. Es kommt zu Vergewaltigung und Mord.

„Ein Freund des Hauses“ erschien im Original 2013 unter dem Titel „Un notaire peu ordinaire“. Es ist nach „Bruderliebe“ das zweite ins Deutsche übersetzte Buch des 1953 geborenen Yves Ravey, der in seiner Heimatstadt Besançon als Lehrer arbeitet und in Frankreich bereits etwa 20 Bücher veröffentlicht hat. „Ein Freund des Hauses“ umfasst gerade einmal 96 Seiten – und mehr wäre hier vielleicht wirklich mehr gewesen. Zwar gelingt es Ravey durchaus, die beengte Atmosphäre einer Provinzstadt einzufangen. Die Psychologie der Figuren bleibt jedoch allzu skizzenhaft. Freddys psychische Situation als freigelassener Häftling wird kaum beleuchtet. Montussaint ist fast ein Abziehbild des scheinheiligen Honoratioren und falschen Freundes. Und von Madame Rebernaks Sohn erfährt man nicht viel mehr, als dass er Geisteswissenschaften studieren möchte und bei einer Tankstelle jobbt. Dass er der Erzähler der Geschichte ist, bleibt ohne Bedeutung, da bei dem protokollartigen, auf die Wiedergabe des äußeren Geschehens fokussierten Stil des Textes seine persönliche Sicht völlig ausgespart wird und auch seine Zeugenschaft für den Erzählvorgang keine Rolle spielt – Ereignisse, bei denen er dabei war, werden auf die gleiche Weise berichtet wie solche, von denen er eigentlich nichts wissen kann. Aber auch abgesehen von der willkürlichen Wahl der Erzählerfigur hat die distanzierte Erzählweise einen bedeutenden Nachteil: Auch als Leser fühlt man sich auf Distanz gehalten. Spannung kann so kaum aufkommen. Für einen Krimi ist das misslich.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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Yves Ravey: Ein Freund des Hauses. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Angela Wicharz-Linder.
Verlag Antje Kunstmann, München 2014.
96 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783888979699

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