Urbane Einsamkeit
In Joshua Ferris’ neuem Roman „Mein fremdes Leben“ erzählt ein stadtneurotischer Zahnarzt von einer religiösen Erweckung
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Ich-Erzähler von Joshua Ferris‘Roman „Mein fremdes Leben“, Paul O‘Rourke, ist ein erfolgreicher New Yorker Zahnarzt und Facharzt für Prothetik, der wohlhabende und ebenfalls erfolgreiche Banker und Rechtsanwälte, Börsenmakler und Geschäftsleute in seiner gut gehenden Praxis in der Park Avenue behandelt und in einer sündhaft teuren Doppelhaushälfte mit Blick auf die Brooklyn Promenade wohnt. Er ist ein Stadtneurotiker aus dem Jahr 2011, das er rückblickend als den eigentlichen Beginn seines Lebens charakterisiert. Denn in den ersten Monaten dieses Jahres nehmen seltsame Dinge ihren Lauf, die ihn völlig verändern werden. Für den aus Maine zugezogenen Paul ist die Park Avenue die „zivilisierteste Straße der Welt“, und Manhatten repräsentiert für ihn das klassische New York, dessen kulturelles Überangebot und Sterne-Lokale mit importieren exotischen und frischen Zutaten er zwar genießt, gleichzeitig aber auch deren Kompensationsfunktion in einer grundsätzlich sinnentleerten Welt und Zivilisation erkennt.
Und genau das ist auch sein Problem. Er würde gerne einen Sinn in diesem Leben sehen, er würde gerne an Gott glauben, wie er gleich zu Beginn seines Rückblicks betont. Doch da er – geprägt auch vom Selbstmord des Vaters – sowohl für die Bibel als auch die aus ihr abgeleiteten Glaubensrichtungen kein Verständnis aufbringen kann, flüchtet er sich in Ersatzreligionen wie Baseball und widmet sich mit schon fanatisch-religiöser Hingabe den Red Sox, von deren Spielen er keines verpasst und die für ihn gleichsam wie Gottesdienste sind zumindest seinen Samstagen verleihen sie existentielle Bedeutung. Auch seinen Zahnarztberuf übt Paul mit Hingabe aus und parallelisiert seinen täglichen Blick in die Münder seiner Patientin mit Blicken ins Abgründige der Endlichkeit des Menschen, nicht ohne seine eigene Profession als kulturellen Fortschritt und lebensverlängernde Wissenschaft zu verklären. Das Leben hängt für ihn buchstäblich am zahnseidenen Faden, und wer diese Art der Zahnreinigung nicht befolgt, wird definitiv weniger lange leben.
Paul O’ Rourke ähnelt in seiner neurotischen Selbstbezogenheit und seinem wortgewandten Zynismus den stadtneurotischen Anti-Helden aus den früheren Woody-Allen-Filmen, die bei der Figurenkonzeption ganz offensichtlich Pate standen. Im Unterschied aber zu diesen kompensiert Paul seine Melancholie angesichts eines sinnfreien Lebens nicht durch Kultur und Bildung, sondern verrennt sich im Laufe der Erzählung in religiös-obskure Theorien. Seine Ablehnung der modernen Medien und sozialen Netzwerke entsteht daher auch nicht aus einer bildungsbürgerlichen Verteidigungshaltung alter Werte heraus, sondern hat bei ihm vor allem etwas mit Bequemlichkeit zu tun.
Die handlungsauslösenden Ereignisse des Romans scheinen für sich betrachtet zunächst alltäglich zu sein: Ein Unbekannter richtet für Paul und seine Praxis einen Facebook-Account ein, schreibt dann unter seinem Namen und Profil bei Twitter teils antisemitische, teils einfach nur fundamentalistische Kommentare zur Religionsgeschichte und zu Baseball, die nach Pauls eigener Aussage nicht mit seinen eigenen Überzeugungen zu tun haben. Der deutsche Titel „Mein fremdes Leben“ lenkt den Leser zusammen mit diesem Identitätsdiebstahl allerdings auf eine falsche Fährte. Im amerikanischen Original verweist schon der Titel „To Rise Again at a Decent Hour“ auf die Sinnkrise, die den Ich-Erzähler befallen hat und nicht mehr loslässt. Paul hat eigentlich keinen Grund mehr, morgens aufzustehen, er muss sich diese Gründe jeden Tag neu suchen und zurechtlegen. Verständlich ist die Vermarktungspolitik des Verlages aber schon. Denn der Roman ist in der deutschen Übersetzung fast gleichzeitig mit dem von der Kritik hochgelobten, eine schöne neue Internetwelt und Welt der sozial-medialen Totalentblößung und -überwachung kritisch hinterfragenden Roman „The Circle“ von David Eggers erschienen. Im Unterschied aber zu Eggers stellt Ferris’ Roman keine Internetkritik oder Kritik der sozialen Netzwerke dar, sondern veranschaulicht lediglich die Präsenz dieser Kommunikations- und Präsentationsformen, die nicht dämonisiert, sondern vielmehr konkretisiert werden. Ihre Bedeutung in der modernen Gesellschaft wird nicht thesenhaft, sondern erzählend beleuchtet. Der zentrale Satz, der das vermeintliche Thema Identitätsdiebstahl mit dem eigentlichen Gegenstand des Romans, nämlich der Sinnsuche eines modernen „Geworfenen“ verbindet, steht auf Seite 263: „Ich hatte der virtuellen Welt entfliehen wollen, aber das ging gar nicht, weil es mich aus der realen Welt aussperrte.“ Die ungewollte Präsenz und Aktivität von Paul bei Facebook und Twitter führt ihn gewissermaßen auch in die reale Welt zurück, der er nach und nach einen Sinnzusammenhang abzugewinnen vermag. Als Paul nämlich mit der Zeit die Drahtzieher hinter den Aktionen ausmacht, stößt er gleichzeitig auf seine Ahnengeschichte, nach der er zu den „Ulmen“ gehören soll, die aufgrund ihres Jahrhunderte zurückreichenden, grundsätzlichen religiösen Zweifels immer verfolgt wurden und als eine Art Untergrundorganisation aber gleichzeitig die Zeitläufte überdauert haben.
Narratologisch ist das Ganze insofern interessant konstruiert, als sich der Leser die ganze Zeit fragt, was er Paul eigentlich glauben soll und darf. Sicherlich zunächst seine Aversion gegen die modernen Medien und seine Abschottung gegen alle gesellschaftlichen Verpflichtungen. Noch bevor der Leser aber am Ende erfährt, dass Paul wiederholt ins Heilige Land fährt, um dort seinen Wurzeln nachzuspüren, beschleichen ihn schon vor der Hälfte des Romans Zweifel, ob nicht die Identität, die Paul aufgezwungen wird, doch seine eigentliche Natur zeigt. In der Vehemenz der Abwehr gegen sein mediales alter Ego und des Leugnens jeglicher religiöser Interessen erweist sich Paul teilweise auch als unzuverlässiger, zumindest unglaubwürdiger Erzähler, dem man als Leser nicht alles abnehmen sollte und der mit seinem Rückblick gewissermaßen auch vor sich selbst ein Weltbild und einen Handlungszusammenhang zurechtzimmert, die zusammengenommen sein (späteres) Verhalten rechtfertigen sollen. Der 1974 in Illinois geborene Joshua Ferris hat mit seinem dritten Roman ein nachdenklich stimmendes Buch vorgelegt, dessen Hauptfigur und Ich-Erzähler in einer immer stärker vernetzten Welt völlig den Lebenszusammenhang verliert und erst mit der Rückbesinnung auf ebenso archaische wie obskure religiöse und religionsgeschichtliche Perspektiven seine Krise überwindet. Angesichts des Zulaufs, den radikale Ansichten vertretende Gruppierungen ganz verschiedener religiöser Ausrichtung heute erleben, ist er damit auch eine Warnfigur, deren bedrohliche Entwicklungsstufe allerdings im Roman nicht erzählt wird.
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