Schillers Balladen. Eine Spielanleitung

Rahel B. Beeler stellt (teils gewagte) Beobachtungen darüber an, nicht was, sondern wie in ihnen erzählt wird

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man staunt: Noch einmal Schillers Balladen? Wissen wir nicht längst alles über sie, kennen sie in- und auswendig, zitieren sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, einschließlich der Parodien? Oder glauben wir nur, sie zu kennen und haben, genau genommen, immer noch nicht verstanden, worum es eigentlich geht in diesen populären Kunststücken?

Ja, so ist es, behauptet Rahel B. Beeler, und sie scheut sich nicht, sogar die abgedroschene Formel von der „Terra incognita“ und die Rede von der „Forschungslücke“ zu bemühen, um darzutun, was sie mit Schillers Balladen vorhat. Es geht ihr um Schillers „Poetologie“ (so der Titel), um das „sprachliche Gemachtsein“ der Balladen (wie es etwas hölzern heißt), darum, wie in ihnen die Rede geführt wird. Die Verfasserin will „nicht nach einem zu extrahierenden ‚Sinn‘ fragen, sondern danach, wie in den Balladen erzählt wird und was sich dabei zugleich über das Erzählen, über das Funktionieren – oder Nicht-Funktionieren! – von Sprache zu lesen gibt“.

Unter diesem leitenden Gesichtspunkt behandelt Rahel B. Beeler im Anschluss an ein Einleitungskapitel über „Schillers Balladen im Kontext“ der Gattungs- und Entstehungsgeschichte der Balladen in jeweils eigenen Kapiteln die folgenden Balladen Schillers in dieser Reihenfolge: Der Kampf mit dem Drachen, Der Taucher, Der Handschuh, Der Gang nach dem Eisenhammer, Kassandra, Der Ring des Polykrates und – als „Ballade der Balladen“ – Die Kraniche des Ibycus.

Die Auswahl und Reihenfolge der Texte wird nicht gut begründet. Fast schon leichtsinnig, jedenfalls nonchalant bekennt die Verfasserin: „Vollständigkeit habe ich, ganz dem Fokus auf den einzelnen Text entsprechend, nicht angestrebt, weshalb auch Analysen berühmter Balladen wie Die Bürgschaft in der vorliegenden Arbeit fehlen – und fehlen dürfen. Bei der Kapitelreihenfolge wurden einzelne Anknüpfungspunkte berücksichtigt, sie spiegelt aber bis zu einem gewissen Grad auch den Entstehungsprozess dieser Arbeit wider“. Das muss genügen. Es handelt sich um eine Zürcher Dissertation, angefertigt unter der Leitung von Daniel Müller Nielaba.

Obwohl eine entsprechende methodentheoretische Fundierung fehlt, kann man das Verfahren dieser Arbeit durchaus insofern dekonstruktivistisch nennen, als hier den Texten die Qualität zugesprochen wird, die eigenen Sinnentwürfe sprachlich zu unterminieren. Das Buch ist ein Plädoyer für die Polyvalenz und gegen die Eindeutigkeit der Texte; für die Wahrnehmung auch des Ungesagten und Verschwiegenen in ihnen und gegen die Identifizierung der jeweiligen Erzählerfigur mit der Aussage-Instanz der Balladen.

Zwar betont die Verfasserin, sie verzichte darauf, „zu jeder Ballade die gesamte Forschungsgeschichte zusammenfassend zu präsentieren“, doch beweist die ambitionierte Arbeit eine ausgesprochene Lust zum Widerspruch gegen vorliegende Forschungsmeinungen. Der Widerspruch bezieht sich dabei in der Regel auf die Frage, was tatsächlich in Schillers Texten ausgesagt wird, nicht in erster Linie darauf, welchen Sinn und welche Bedeutung das Ausgesagte hat. Wobei natürlich jeder weiß, dass sich das Eine vom Anderen nicht immer ganz streng trennen lässt. Aber selbst in solchen Fällen kann immerhin der oft allzu kurze Weg beanstandet werden, der auch namhafte Schiller-Interpreten von ihrer Art der Textentzifferung zur voreiligen Substituierung von Sinn und Bedeutung führt. Das zu verfolgen, bereitet immer wieder Vergnügen, auch und gerade dort, wo man selbst wieder Widerspruch gegen manche gewagte Thesen der Verfasserin anmelden möchte. Und dazu besteht reichlich Veranlassung.

Die Verfasserin bescheinigt sich selbst: Es „werden immer wieder auch irritierende, überraschende Interpretationsansätze entwickelt, die in einigen Fällen vielleicht gar quer zum untersuchten Text zu stehen scheinen“. Das kann man wohl sagen! Während Schillers Erzähler in der Ballade Der Taucher unmissverständlich mitteilt, dass keine Welle den Knappen am Ende wiederbringt („Es kommen, es kommen die Wasser all, / Sie rauschen herauf, sie rauschen nieder, / Den Jüngling bringt keines wieder“), bemerkt Rahel B. Beeler: „Dass dieser Erzähler, der schon einmal irrtümlicherweise prophezeit hatte, der Jüngling werde nicht zurückkehren, nun schließt: ‚Den Jüngling bringt keines wieder‘ […], bedeutet nicht, dass diese Aussage auch stimmt: Dass die erste Brandung ohne den Jüngling zurückkehrt, schließt eigentlich nicht aus, dass der Knappe mit der nächsten oder übernächsten wiederkehrt: Der Erzähler ist nicht allwissend und kann entsprechend nicht in die Zukunft blicken, die Ballade selbst ist aber im Präsens verfasst: Der Schluss ist auch im übertragenen Sinne ein Schluss, das heißt ein Erschlossenes – und als solches kann er, wie bereits in der Mitte der Ballade, falsch sein“.

Als Beleg für die Möglichkeit einer glücklichen Wiederkehr des Tauchers wird dann ausgerechnet eine Parodie von Robert Gernhardt zitiert. – Man merke: Der Erzähler kann irren! Was er sagt, muss nicht stimmen! – Diese Feststellung der Verfasserin könnte sich als ein Gedanke von unabsehbarer Tragweite erweisen, der Raum schafft für viele künftige alternative Interpretationen und Spielereien: Dass der Drache (in Der Kampf mit dem Drachen) gar kein Drache, sondern eigentlich der Text der Ballade ist, liest man ja schon hier, bei Beeler; und dass der Tyrann in Die Bürgschaft (leider in diesem Buch nicht behandelt) gar kein Tyrann ist, wusste schon Brecht; aber wer sagt uns eigentlich, dass die Mörder in Die Kraniche des Ibycus wirklich Mörder sind? Woher will das der Erzähler wissen? War er dabei, als Ibycus ums Leben kam? Vielleicht glaubt Ibycus ja nur, dass es Mörder sind, die ihm entgegentreten; er bezeichnet sie schon als „Mörder“, kaum dass er der beiden Männer ansichtig wird.

Oder nehmen wir den berühmten Eingangsvers der Ballade Der Taucher mit dem fehlenden e: „Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp“. Knapp? Nicht: Knappe? Nein, Knapp! Die Verfasserin erklärt das so: „Die Apokope, der Wegfall des ‚e‘ von Knappe […] weist auf das Ende hin, bei dem der Knappe als Ganzes ‚wegfällt‘: […] So wie das Signifiant ‚Knappe‘ beschädigt wird, so wird der Knappe selbst beschädigt. […] Dass dabei nicht irgendein Buchstabe, sondern eben der letzte ausgelassen wird, kann ebenfalls darauf bezogen werden, dass das eigentliche Ende der Ballade wegfällt und nicht erzählt wird.“ Der Apokope kommt damit die Aufgabe zu, schon in der ersten Zeile der Ballade auf die bevorstehende „Ver-nicht-ung“ (so Beelers Schreibweise, der sie auch sonst gelegentlich huldigt) des Knappen vorauszuweisen. Anders als Morgensterns Wiesel tat’s Schiller nicht etwa nur „um des Reimes willen“.

Wer nicht darauf aus ist, nur sein Vorverständnis von Schillers Balladen bestätigt zu finden, sondern alternative Lesarten, ja neue Umgangsformen mit ihnen sucht, findet in diesem Buch eine Fülle von Spiel-Anregungen. Unter Hinweis auf Schillers berühmte Bemerkung aus seiner Schrift Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen („… der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“), schließt Beeler: „Dies hat sich der Dichter Friedrich Schiller offensichtlich auch im Hinblick auf sein eigenes Schreiben zum Prinzip gemacht. Und das sollte uns dazu veranlassen, bei der Interpretation seiner Texte mehr zu spielen, statt fixieren zu wollen. Wenn die vorliegende Arbeit den einen oder die andere zum (erneuten) Spiel mit Schillers Balladen anregt, so erfüllt sie ihren Zweck“.

Titelbild

Rahel B. Beeler: "Dunkel war der Rede Sinn". Zur Poetologie von Schillers Balladendichtung.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014.
346 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783826054792

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