Der Papst, Piketty und die Krise des Kapitalismus: Stephan Kaufmanns und Ingo Stützles kleines Buch über einen großen Bestseller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im November 2013 beklagte der Papst Franziskus in seinem ersten apostolischen Schreiben: „Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen.“ Hatte der Papst Thomas Pikettys Befunde über Das Kapital im 21. Jahrhundert gelesen?

Vermutlich nicht. Das Buch erschien zwar bereits im Sommer 2013 in Frankreich, aber erst die Veröffentlichung der US-amerikanischen Ausgabe im März 2014 führte zu jener „Pikettymania“, die dem Buch des französischen Ökonomen eine Millionenauflage bescherte. Gleichzeitig zum Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe im Oktober legten die Wirtschaftsjournalisten Stephan Kaufmann und Ingo Stützle einen knappen, informativen und lehrreichen Bericht über diese Erfolgsgeschichte vor. Sie gehen in einem auch für Laien bestens lesbaren Stil den Gründen für den Erfolg nach, fassen den Inhalt pointiert zusammen, referieren wesentliche Aspekte der Kritik, die den Thesen und Vorschlägen Pikettys entgegengehalten wurde, und setzen sich mit dieser Kritik auch selbst kritisch auseinander.

Wie die beifälligen kamen die kritischen Stimmen aus ganz unterschiedlichen sozialpolitischen und wirtschaftstheoretischen Lagern. Die Ungleichheit wachse in der Geschichte des Kapitals nicht derart zwangläufig, wie es Piketty annimmt; Ungleichheit kritisiere er nur so weit, als sie nicht leistungsgerecht sei; die Diagnosen Pikettys seien eher für die USA als für Deutschland zutreffend; Piketty bewege sich ganz im Mainstream neoklassischer Wirtschaftstheorien und vernachlässige die sozialen Auseinandersetzungen in Verteilungsfragen ebenso wie die Bedeutung der Finanzmärkte für die ungleiche Verteilung des Vermögens; sein Blick auf die Geschichte des Kapitalismus sei eurozentrisch und thematisiere den Kolonialismus nur aus der Perspektive der Kolonialmächte.

Die Kritik der beiden Verfasser des Bändchens an Piketty und auch an seinen Kritikern kommt von „links“: Die von ihm kritisch beschriebenen Entwicklungen wachsender Ungleichheit und seine Vorschläge zu einer international koordinierten Vermögenssteuer haben zwar, so ihre Einschätzung, eine wichtige Debatte darüber auf breiter Basis intensiviert, doch der von ihm mehr oder weniger ausdrücklich anvisierte „Idealzustand ist ein durch Wirtschaftswachstum gekennzeichneter prosperierender Kapitalismus“. Ungleichheit kritisiert er „nur insoweit, als sie dem Wachstum und der Legitimität des Kapitalismus schaden könnte.“ Er möchte den Kapitalismus „vor der Armut schützen – nicht umgekehrt.“ Und die von ihm beworbene „Meritokratie“, eine „gerechte“ Entsprechung von Leistung, Einkommen und Vermögen, bei der sich Reichtum nicht mehr zunehmend über Erbschaften verteilt, bleibe befangen in einer „Leistungsideologie“, die, zumal in Deutschland, einen gefährlichen Kontext hat. In ihm sind wohlstandschauvinistische Vorstellungen wie diese verbreitet: „Griechenland ist in der Krise? Dann haben die Griechen wohl nicht hart genug gearbeitet. Jemand ist arbeitslos. Dann hat er sich wohl nicht genug angestrengt. Jemand verdient wenig. Dann ist er wohl nicht mehr wert.“ Wer hingegen „Erfolg hat, darf stolz auf sich sein und auf die Misserfolgreichen herabschauen.“

Solche Vorstellungen sind gewiss weit entfernt von dem, was ausdrücklich in Pikettys Buch zu lesen ist. Die europäische Politik gegenüber Griechenland beispielsweise kritisierte er vehement. Doch der Papst war in seiner Kritik der Ungleichheit weit radikaler als der ehemalige Berater der Sozialistischen Partei in Frankreich.

Der Erfolg des Buches verdankt sich übrigens nicht zuletzt einer Rezension und wirft ein bezeichnendes Licht darauf, welche Wirkung Buchkritik nach wie vor haben kann. Stephan Kaufmann und Ingo Stützle weisen darauf hin, dass Paul Krugmann mit einem Artikel in der New York Times die weltweite Resonanz dieses Buches initiierte. Der Träger des Wirtschaftsnobelpreises von 2008 feierte hier Pikettys Werk als „das wichtigste Buch des Jahres, vielleicht des Jahrzehntes“.

Anmerkung: Am 7. November 2014 hielt Thomas Piketty im Berliner „Haus der Kulturen der Welt“ einen Vortrag zu seinem Buch. Im Anschluss daran diskutierten mit ihm die Philosophin Susan Neiman, der Politikwissenschaftler Hans-Jürgen Urban und der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl, moderiert von Mathias Greffrath. Vortrag und Diskussion sind auf einer Internet-Seite der „Blätter für deutsche und internationale Politik dokumentiert.

TA

Titelbild

Stephan Kaufmann / Ingo Stützle: Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre. Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ – Einführung, Debatte, Kritik.
Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2014.
109 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-13: 9783865057303

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