Richterin auf Abwegen

Über Ian McEwans stimmige Etüde „Kindeswohl“

Von Wieland SchwanebeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wieland Schwanebeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im „Zementgarten“, jenem literarischen Paukenschlag, mit dem Ian McEwan 1978 aus dem Stand als brillanter junger Erzähler aufhorchen ließ und sich zugleich für höhere Aufgaben empfahl, zelebrieren Kinder in Abwesenheit der Eltern morbid-inzestuöse Rituale, und auch in McEwans späteren Werken ist den „kleinen Erwachsenen“ nie völlig über den Weg zu trauen. In „Abbitte“ beschwört die kindliche Fabulierlust eine Tragödie herauf und ruiniert die Lebenswege fast aller Beteiligten, und in „Das zweite Gesicht“, einem von McEwan geschriebenen Thriller, verbirgt sich hinter dem arglosen Gesicht von Macaulay Culkin, dem Star von „Kevin – Allein zu Haus“, gar ein Mörder.

Über wie viel Autonomie Minderjährige wirklich verfügen und ob sie in ethischen Debatten um ihre Rechte und ihr Wohlergehen selbst Gehör finden sollten oder der juristischen Bevormundung bedürfen, wird als zentrale Frage in „Kindeswohl“, McEwans 13. Roman, verhandelt, denn um Selbstbestimmung und seine Rechte kämpft hier der 17-jährige Adam, ein reflektierter, gebildeter und empfindsamer junger Mann, der als Zeuge Jehovas eine lebensrettende Bluttransfusion ablehnt. Der Richterin Fiona Maye wird die Entscheidung übertragen, ob Adam gegen seinen Willen (sowie den seiner Eltern) dennoch behandelt werden soll. Für Fiona gerät der Fall zum Anlass, ihr eigenes Leben in der Stunde einer persönlichen Krise gründlich zu überprüfen. Ihr Ehemann hat sie gerade um ihr Einverständnis für eine letzte außereheliche Affäre vor dem Ersterben seines Trieblebens ersucht, was Fiona, die zwar nicht empathielos, allerdings auch nicht gerade unter völliger Vermeidung des Klischees der erbitterten, nahezu frigiden Karrieristin gezeichnet wird, barsch zurückweist. Die prompt Verlassene gönnt sich statt Selbstmitleid Alkohol und stürzt sich in den Fall, der zum Spiegel eigener Entscheidungen und zum Anlass für eine kritische Lebensbilanz wird.

Ohne den Plot vorwegnehmen zu wollen, ist Fiona Mayes Urteil im Fall Adam längst nicht das Ende der Erzählung und zieht Ereignisse nach sich, die im ersten Kapitel längst nicht zu erahnen sind. Dass hier Zeugen befragt, Argumente gesammelt und Urteile begründet werden, dass zudem ein zentrales Kapitel des kurzen Romans dem Gerichtsprozess gewidmet ist, sollte nicht zu der irrigen Annahme verleiten, McEwans Buch sei als konventioneller Gerichtsthriller oder gar – Gott bewahre – als aktuellen Debatten abgelauschtes Rührstück ums Recht auf selbstbestimmtes Sterben intendiert. Zwar hinterfragt der Roman die Rolle der Gerichtsbarkeit und liest sich durchaus fesselnd, doch wie immer bei McEwan brodelt weit mehr unter der Oberfläche: ein Konflikt zweier Wertesysteme, die Erosion menschlicher Beziehungen, schließlich auch eine nuancierte Auseinandersetzung mit der Kunst (das zentrale Aufeinandertreffen von Adam und Fiona ist um ihr gemeinsames Musizieren strukturiert).

Bespöttelt wurde von englischen Rezensenten in diesem Zusammenhang die im Buch demonstrativ zur Schau gestellte Belesenheit, was freilich der Agenda der Erzählung nicht gerecht wird. Volkslied, William Butler Yeats und Hector Berlioz bietet der Autor nicht zum Selbstzweck auf, sondern verhandelt durch sie die Befindlichkeiten seiner Figuren: Adam erspielt sich durch die Musik anderer eine eigene Stimme, Fiona durchbricht allmählich ihren selbsterrichten anti-emotionalen Schutzwall. In der Dialogführung, in der szenischen Darstellung einzelner Geschehnisse und im inneren Monolog erweist sich McEwan einmal mehr als glänzender Erzähler – besonders in der klimaktischen Schilderung eines Konzerts, in der in brillanter Manier elliptische Effekte und die Möglichkeiten der Perspektivität zum maximalen Spannungsgewinn kombiniert werden, blitzt seine großartige Technik auf. Allerdings zeugen nicht alle Kapitel in „Kindeswohl“ von dieser atemberaubenden Qualität und Intensität der Beschreibung, wie sie seine allerbesten Texte auszeichnen – etwa „Am Strand“, seine mitreißende und bittere Sektion von Sexualmoral, die sich (wie „Kindeswohl“) ebenfalls um eine Wahrung von Ort, Zeit und Handlung bemüht.

Das schmälert nicht die Qualität des Gesamtunterfangens, denn auch ein solider, pointierter McEwan wie dieser erweist sich noch als Etüde eines Virtuosen. In Interviews anlässlich der Veröffentlichung hat der Autor bekräftigt, in seiner achten Lebensdekade verstärkt kürzere Formate wie die Novelle bedienen zu wollen. Zwar ist „Kindeswohl“ als Roman ausgewiesen, allerdings wird auch hier ein originelles, präzise definiertes Grundproblem (oder in Johann Wolfgang von Goethes einschlägiger Definition der Novelle: eine „unerhörte Begebenheit“) mit überschaubarem Personal durchgespielt und zudem in weiten Teilen zeitdeckend erzählt. Dass wohl in absehbarer Zeit keine epischen Projekte auf der Skala von „Abbitte“ zu erwarten sein dürften, darf einigermaßen bedauert werden, doch auch wenn der Autor nicht mehr die große Symphonie plant – seine Kammermusik bleibt ein Erlebnis. In solcher findet auch seine Heldin Fiona Maye Trost, der McEwan in letzter Instanz – und das ist die zärtlichste Geste dieses Buchs – seine Sympathie nicht versagt.

Titelbild

Ian McEwan: Kindeswohl. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Diogenes Verlag, Zürich 2015.
224 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783257069167

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch