Teilchen vernichten einander im Blitz

Paulus Böhmers Gedichtband „Werichbin“ ist eine unablässige Grenzüberschreitung

Von Matthias FriedrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Friedrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Urknall, ein Hundehaufen“: Die Höhe, in der sich Paulus Böhmers Lyrik bewegt, ist so ungewohnt, dass sich ein Leser, der ihr zum ersten Mal begegnet, an Altbekanntes klammern will; aber da ist die seltsame Verlockung, weiter nach oben zu steigen, dem verschlungenen Pfad auf den Gipfel zu folgen. Böhmer hält sich mit Regieanweisungen zurück. Und schafft es so, den Weg und nicht das Ziel als wesentlich anzuerkennen.

Die zwei Gedichte, die dieser Band enthält, funktionieren gut und gerne als Einführung in sein Werk. „Werichbin“ und „Über das Zusammenfügen von Teilen“ unternehmen den Versuch, den Raum zwischen Himmel und Erde zu umfassen – alle Sackgassen inbegriffen, die ein solches Vorhaben mit sich bringt. Böhmer ist trotz der von ihm bevorzugten Form des Langgedichts kein epischer Lyriker, er bildet Hyperlinks, denen man nach Belieben folgen kann. So ist es auf den ersten Blick naheliegend, die Gedichte als surrealistisch zu bezeichnen, wenn Böhmer davon spricht, dass „unter uns […] / unterirdische Seen schwimmen“. Denn die Untiefen, denen der Dichter gegenübersteht, lassen ihn die Oberflächen besser verstehen. Auf die Frage „Wer bin ich?“ wird der Leser wohl auch nach der Lektüre des Bandes keine Antwort gefunden haben. Böhmer verweigert sich jeder sprachlichen Zuweisung. Selbst das Wort „Ich“ scheint hier eine äußerst wacklige Angelegenheit zu sein, die in sich zusammenstürzt, wenn man auch nur an eine ihrer Streben fasst. Selbst wenn im zweiten Gedicht das ständig wiederholte „Vom Teilen, vom Fügen / ist hier die Rede“ die Runde macht, scheint nur eines festzustehen: Alles löst sich in einem einzigen Augenblick wieder auf. Das ist das ästhetische Programm dieser Texte. Sie sind „Funkenflug ins Verlöschen“ und künden damit von der Aussichtslosigkeit des Sprechens überhaupt.

Auf ihrer poetologischen Ebene handeln Böhmers Gedichte von der ständigen Abgleichung von Höhen und Tiefen. Es „dringen Bilder durch uns, glänzend, erhaben, idiotisch“. Er sortiert sein Material nicht. Das „Zusammenfügen von Teilen“ ist daher keine mechanische Tätigkeit, sondern verspricht eine Grenzüberschreitung. Durch die andauernde Wiederholung dieser Schreibbewegung lösen Assoziationen einander ab:

Daß die Ockerfarbe des Windes sich im Gras verfängt.
Daß Haß, daß Liebe sind, was sie sind: etwas
weniger als du und ich. (Und manchmal, vielleicht,
etwas mehr.)
Daß die Erde mit offenem Mund daliegt. Daß
wir uns nicht mehr wehren.
Daß grauer Regen heraufzieht und alles verschwindet:
Berge, Ebenen, Baumspitzen, und daß, später,
die Ockerfarbe des Windes sich im Gras verfängt.

Doch die Repetitionen sind nicht überflüssig; ihrem Mittelpunkt, der Erde, wenden sie sich mit Aufopferung zu. So ist es kein Wunder, dass Böhmer, der ständig zwischen den Stilniveaus hin- und herschaltet, ein Dichter des Körpers ist, dessen Position in der Welt auf dem Physischen, nicht dem Individuellen begründet ist: „Daß ich die Leberflecken auf dem Körper meiner Mutter sah: / Zoomorphe, Mischwesen, Ranken, verflochtene Fratzen- / gesichter, schwarz, braun, durchscheinend trüb, / […] / Daß der Tod / auf sich selber zurückkommt, jung, nackt, / mit dem Lupusfleck auf der Hüfte.“ Die Intensität des Körperlichen in diesen Gedichten ist oft kaum auszuhalten.

Leider ist Böhmer vorrangig als poets‘ poet in Erscheinung getreten und hat bislang keinen Zuspruch von einer größeren Leserschar erhalten. Daran wird auch der Huchel-Preis, den er in diesem Jahr zugesprochen bekam, wenig ändern. Obwohl seine literarische Stimme eine eminent wichtige, wenn nicht sogar eine äußerst zeitgenössische ist, die abseits des Surrealismus erklingt. Das wacklige Konzept mit Namen „Sinn“ zeigt weithin sichtbare Risse, die nicht mit noch mehr Fiktion verschleiert, sondern offengelegt werden sollen: Seht her, in dieser Wüste schreibe ich, mache aber eine Kunst daraus. Böhmer lesen heißt, sich in Hingabe zu üben. Seine unfreundliche Textlandschaft zu betreten bedeutet nicht, sich von jeder Grundwahrheit zu lösen, sondern neue Gewissheit zu finden: Nach jedem Blitz entsteht Raum für etwas Neues.

Titelbild

Paulus Böhmer: Werichbin. Gedichte / Über das Zusammenfügen von Teilen.
editionfaust, Frankfurt am Main 2014.
56 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783945400012

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