Platz auf dem Nippesregal
Jan Wagner erhält den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 in der Rubrik Schöne Literatur – aber was bringt das der Lyrik?
Von Walter Delabar
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“
(oder eben nicht)
Jan Wagner hat in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse für seinen Band „Regentonnenvariationen“ erhalten. Das ist bemerkenswert, nicht etwa weil der Band Wagners bemerkenswert wäre (das steht hier überhaupt nicht zur Diskussion), sondern allein deshalb, weil Lyrik im bundesdeutschen Literaturbetrieb zu einer Marginalie abgesunken ist. Wenn unter solchen Umständen ein Band Gedichte auf einer Vorschlagsliste landet, auf der sonst nur Romane zu finden sind, ja, wenn er dann sogar ausgezeichnet wird, dann geht ein Raunen durch die literarische Republik.
Nun ist es mit der Lyrik heutzutage nicht mehr weit her. Lyrik zu schreiben ist zu einem Gewerbe geworden, dem jemand aus Liebhaberei nachgehen kann (was jedes Finanzamt und die Künstlersozialkasse gleich massiv alarmiert), aber nicht deshalb, weil es ein ernsthafter Beruf wäre, der Dichterin oder Dichter nährte – und von Berufung reden wir heutzutage eigentlich nicht mehr.
Jemand schreibt Gedichte, nun gut: Warum er das tut, ist seine Privatsache. Wie er das tut, ist eine Frage der Kompetenz. Warum aber andere das lesen sollen, was er schlecht oder recht produziert hat, und zwar vermittelt über eine Institution, die Markt genannt wird, ist eine Frage, die sehr unterschiedlich beantwortet wird und die mit der Gattung eigentlich nichts zu tun hat: Erkenntnis von Welt, Teilhabe an den Erfahrungs-, Erlebnis- oder Gefühlswelten, die durch das sprachliche Gebilde vermittelt werden, Genuss an der sprachlichen Gestaltung – die Reihe ließe sich fast beliebig fortsetzen. Wer Literatur liest, hat gute Gründe dafür, und wer Lyrik liest, ebenso. Gute Unterhaltung gehört auch dazu: „All art is entertainment“, hat dazu der Romanautor T. C. Boyle einmal gemeint (der hier nicht satisfaktionsfähig ist).
Wenn Lyrik nicht gelesen wird, mag das bedauerlich sein, aber es gibt gute Gründe dafür, die nicht darin liegen, dass eine Gesellschaft und ihre Leser ignorant oder hartherzig geworden wären. Es liegt auch nicht – wie Jacques Robaud bereits 2010 in einem Essay für „Le Monde diplomatique“ behauptete – an der Durchsetzung des freien Verses. Ganz im Gegenteil. Es liegt vielleicht eben doch an der Lyrik, wie sie sich selbst reproduziert, und an ihrer Selbstbezüglichkeit.
Dass den wahren Gehalt der menschlichen Brust auszusprechen – und das im „lyrischen Erguß“ – mehr meint, als seine persönlichen Befindlichkeiten auszusprechen, das hat nicht nur Hegel selbst gewusst, von dem diese Definition „echter Lyrik“ stammt. Auch die bedeutenderen Lyriker des 20. Jahrhunderts sind sich darin auffallend einig: Gottfried Benn hat mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass ein Gedicht „gemacht“ wird und nicht gefühlt: „Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrigbleibt, wenn dann noch etwas übrigbleibt, das ist dann vielleicht ein Gedicht.“ Recht so, hätte Brecht vielleicht hinzugefügt, der seinerseits in seiner berühmten Polemik 1927 gegen seine 400 gedichteschreibenden Zeitgenossen bemerkte, „daß jeder halbwegs normale Deutsche ein Gedicht schreiben“ könne, und dass das „gegen jeden zweiten nichts beweist“. Brecht, der nun auch noch zu den produktivsten Lyrikern des 20. Jahrhunderts gehörte, hat mehr vom Lyriker und der Lyrik verlangt, als den Leser in Stimmung zu versetzen (das, könnte man auch sagen, ist unter der Würde der Lyrik). Er wollte, eben auch von ihr, Erkenntnis, genauer gesagt, die Möglichkeit, Erkenntnis zu entwickeln.
Aber was gelten solche Stimmen gegen die Flut von Lyrik selbst, die sich in „Wallungswerten“ erschöpfen will oder die den Ausdruck sucht, des Individuums, der Klassen, des Zeitalters, ja des Menschen schlechthin? Selbst einer der wichtigsten Förderer der Lyrik (mindestens durch die von ihm über lange Jahrzehnte betreute „Frankfurter Anthologie“) und insbesondere der Lyrik Brechts, Marcel Reich-Ranicki, scheint über einen solchen Stand nicht hinausgekommen zu sein. In seinem Essay über die Literatur von Frauen („Frauen dichten anders“) hat Reich-Ranicki die wahrscheinlich lobend gemeinte Bemerkung nicht lassen können, dass Lyrik die persönlichste, ja intimste Form der Literatur sei. Und das bedeutet was? Dass man vom Text auf seine Verfasserin oder seinen Verfasser rückschließen darf, auf Haltungen, Einstellungen, Vorlieben und Wünsche?
Reich-Ranicki belegte das gleich mit dem Verweis auf das Werk der „großen Panerotikerin“ Sarah Kirsch, „deren Verse stets auf Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung“ hinausliefen. Dass Kirschs Lyrik – frei übersetzt – sexuell freizügig ist, lässt also welche Rückschlüsse auf Frau Kirsch zu? Wenn da nicht mit einem vergifteten Lob eine ganze Literatur verworfen und eine Person der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen wird. Und wenn das nicht auf Dauer dazu führt, dass eine ganze Gattung sich aufgibt.
Heute, 2015, steht die Lyrik anscheinend so schlecht da, dass es sogar einen Leitartikel der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wert ist, wenn ein Gedichtband für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, und zwar das erste Mal, seit es diesen Preis gibt, nämlich seit zehn Jahren. Wird und wurde hier also Geschichte geschrieben, weil Jan Wagners Band tatsächlich diesen Preis bekommen hat? Wurde gar das „Machtgefüge zwischen Roman und Gedicht“ auf den Kopf gestellt? Der Preis der Leipziger Buchmesse hat ja in der Tat im deutschen Literaturbetrieb einen gewissen Rang und rettet dem Preisträger wenigstens halbwegs das Jahr (15.000 Euro sind für meist arme Poeten eine Menge Geld, das Preisgeld zahlt also die Miete und ein bisschen mehr für ein Jahr). Aber ändert das irgendetwas daran, dass Lyrik eine Nebenrolle im deutschen Literaturbetrieb wie in der Lektürepraxis der Deutschen spielt? Selbst vom Preis wird anscheinend keine nachhaltige Wirkung auf die Auflage von Wagners Band erwartet, der mit der Nominierung immerhin auf das 6. Tausend kam (was für einen Erfolgsroman erbärmlich wäre).
Dieselbe Zeitung, die noch am Donnerstag den geschichtsträchtigen Moment aufrief, meldete am Freitag dann den „Lyriktriumph“ nur noch auf zehn Zeilen im Feuilleton, da wo er hingehört. Damit waren die Feierlichkeiten auch schon beendet. Selbst die Berliner „tageszeitung“, die der Nominierung Wagners am Donnerstag noch eine ganze Seite gewidmet hat, fiel nach der Preisverleihung nichts Wesentliches mehr zum Thema ein. Und genau das scheint das Problem zu sein.
Denn ein Blick in die Literaturbeilagen nicht nur zur diesjährigen Frühjahrsmesse zeigt an, wie wenig Resonanz Lyrik gleich welcher Qualität oder Ausrichtung heutzutage hat. Romane und Sachbücher allenthalben, Kinder- und Jugendbuchsonderseiten, aber Lyrik ist in den Medien nahezu unsichtbar. Das war vor der Preisverleihung an Wagner so, und das wird auch danach kaum anders sein.
Nun machen die Medien als vermittelnde und begleitende Instanz den Trend nicht, sie folgen ihm. Denn bei den Leserinnen und Lesern hat Lyrik gleichfalls keine große Resonanz mehr. Was jedenfalls dem einen oder anderen vorgeblichen Freund der Lyrik dazu einfällt, warum jemand sich gerade für diese besondere literarische Gattung interessieren solle, lässt kaum erwarten, dass sich das ändert. Warum auch?
Weil die Lyrik eine „konzentrierte, idealistische Disziplin“ ist, wie Felicitas von Lovenberg in ihrem FAZ-Leitartikel meinte? Auch dass Geduld und Zeit für die Lektüre von Lyrik notwendig sei, ist einer der Mythen der Lyrikszene, denn es kommt wie immer darauf an. Zweifelsohne hat die Lyrik bereits seit langem ihre dominante Rolle, die sie vielleicht noch in der Weimarer Klassik hatte, an den Roman verloren. Sogar die Kurzformen der erzählenden Prosa spielen in der gegenwärtigen Literatur keine entscheidende Rolle – Ausnahmen wie Judith Herrmann, die ihre Karriere auf Erzählungen gründete, bestätigen dieses Anamnese eher, als dass sie sie dementieren. Das mag Literaturwissenschaftler erstaunen, für die, ganz Benjaminisch, einen „Roman“ zu „schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze zu treiben“.
Aber Leser wundert das nicht. Vielleicht, weil Literatur eben keine Lebenserfahrung vermittelt, sondern Erfahrungswelten eröffnet, die einem ansonsten verschlossen blieben, oder Themen abhandelt, die einem – direkt oder indirekt – zentral angehen. Oder über Probleme nachdenkt, die man zum Glück nicht selbst hat. Dieter Wellershoff hat solche Überlegungen einmal als Probehandeln beschrieben, ein jüngerer Kollege jüngst hingegen noch abfällig als Abklatsch der Widerspiegelungstheorie abgekanzelt. Literatur soll also zu nichts nutze sein, Lyrik sowieso nicht, und dann darf man sich eben auch nicht wundern.
Relevanz ist so gesehen ein Stichwort, das vielleicht bei der Frage weiterhilft, warum die Lyrik seit Jahrzehnten mittlerweile einen massiven Bedeutungsverlust erlebt oder – wahlweise – nur noch für einen sehr kleinen Leserkreis Bedeutung hat. Sie hilft vielleicht nur wenig in einer Gesellschaft, die jeden Einzelnen täglich mit immer neuen Anforderungen oder eben auch Zumutungen konfrontiert (was hier übrigens definitiv bestritten wird, nur das gros dessen, was derzeit und schon immer als Lyrik daherkommt, hilft einem nicht weiter). Dass sie die Sprachwahrnehmung schärfen könne, wie Sabine Scho in der „tageszeitung“ zitiert wird, ehrt sie, aber wie viel Schärfung in der Wahrnehmung von Sprache halten wir noch aus? Jedoch ist das eine ehrenwerte und hilfreiche Überlegung, die immer wieder einmal zutrifft.
Dass Lyrik, wie der Gedichte schreibende Arne Rautenberg in einem FAZ-Beitrag kurz vor der Preisverleihung in Leipzig betont, „der weltweite und zeitübergreifende Code der Feinsinnigen“ sei, beweist eigentlich auch nur, dass sich seit Brechts Polemik gegen die „400 (vierhundert) jungen Lyriker“ aus dem Jahre 1927 kaum etwas geändert hat. Sie wollen die Welt anscheinend immer noch nicht einmal erklären.
Das wird auch nicht besser, wenn Rautenberg anschließend erklärt, dass „Poesie“ ermögliche, „etwas von dem zu erkennen, was all die Abgestumpften nicht mehr wahrnehmen können. Poesie erschafft Fragen, Poesie schärft die Sinne für unsere Zukunft“. Mal wieder sind die anderen (ohne Lyrik) die Abgestumpften, die alles fraglos hinnehmen und so etwas wie Zukunft nicht wahrzunehmen in der Lage sind. Als ob von solchen Lyrikern mehr zu erwarten wäre als die immer gleiche Verweigerung, der immer gleiche Anspruch, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben, und die immer gleiche Gewissheit, auf verlorenem Posten dem Untergang der Welt zuzuschauen – während die Welt sich einfach nicht darum schert. Wo ist der Unterschied zu dem dräuenden Ton der sich in bedeutender Abseitigkeit gefallenden Dichter, der bis in die 1960er Jahre dominant war? Wollen die Dichter wieder die Mahner und Lehrer der Nation sein? Bitte nicht schon wieder.
Und was ist aus den alten und neuen Avantgarden geworden, die den Muff aus solchen Jahren aus der Lyrik (und allem anderen) pusten sollten? Dada, Moderne, Neo-Dada, Wiener Gruppe, Konkrete Poesie, Prenzlauer Berg, meinetwegen Pop Literatur, Poetry Slam und Hiphop? Was ist aus all dem geworden, was in der Lyrik vor allem Spaß gemacht und Erkenntnis gebracht hat? Wenigstens eine Zeit lang. Durchdekliniert, veraltet, gewohnt, isoliert und eingemeindet, vergessen und neu entdeckt, und immer wieder überdeckt durch einen lyrischen Ton der gepflegten Einsamkeit und Fühligkeit, der „alles handschriftlich“ macht und sich am liebsten in den Gärten der Kindheit tummelt.
Kein Wunder, dass sich eine Sabine Scho dagegen wehrt, dass die Lyrik – auch durch diese Preisverleihung – zuständig gemacht werde „für das Ergriffensein angesichts der Natur, für das Erste und Letzte und dann auch immer in einem innehaltenden Ton“. Wenn es in der Lyrik um „die verborgene Schönheit der Welt“ geht, dann hat sie ihren Platz auf dem literarischen Nippesregal wohl verdient, und die Frage „Wo bitte ist Ihr Lyrikregal?“, wie Rautenberg sie gestellt wissen will, verbietet sich. Dann lieber sich mit anderer Literatur beschäftigen, eben mit anderer Lyrik, oder gleich ganz mit anderen Genres.